»Hier drinnen brauchst du keine Ketten tragen.« Sie ging zu ihm hin, schloß den Eisengürtel auf und machte Manans Ledergürtel los, der seine Arme festgehalten hatte. »Ich muß die Tür verschließen, aber wenn ich komme, dann muß ich dir trauen können. Du weißt, daß du nicht fort kannst — daß du es nicht versuchen darfst! Ich bin ihre Priesterin, ich führe ihren Willen aus, und wenn ich versage — wenn du mein Vertrauen mißbrauchst —, dann rächen sie sich. Du darfst mir nicht weh tun oder mich betrügen, wenn ich komme, und versuchen, den Raum zu verlassen. Du mußt mir gehorchen.«
»Ich werde tun, was Sie sagen«, sagte er leise.
»Ich bringe dir Essen und Wasser, wenn ich kann. Es wird nicht viel sein. Genug Wasser, aber nicht viel zum Essen in der nächsten Zeit; ich werde selbst hungrig, weißt du. Aber es wird genug sein, um nicht zu verhungern. Vielleicht kann ich erst in zwei Tagen zurückkehren, vielleicht dauert es noch länger. Ich muß Kossil abschütteln, denn sie spioniert mir nach. Aber ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir. Hier ist Wasser. Teile es ein, ich kann nicht bald kommen. Aber ich werde zurückkommen.«
Er blickte auf und sah sie an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinen Zügen. »Sei vorsichtig, Tenar«, sagte er.
8
NAMEN
Sie führte Manan durch die verschlungenen Gänge zurück zum Untergrab und ließ ihn dort im Dunkeln zurück, damit er das Grab schaufele, und Kossil, sollte sie danach fahnden, den Beweis finden würde, daß die Strafe an dem Gefangenen vollzogen worden war. Es war spät, und sie ging direkt zum Kleinhaus und legte sich zu Bett. Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf; sie erinnerte sich, daß sie ihren Umhang im Bemalten Raum gelassen hatte. Er hatte nichts, was ihn in dieser unterirdischen, kalten Schatzkammer warm halten konnte, nur seinen eigenen kurzen Umhang; kein Bett, nur die staubigen Steine. »Ein kaltes Grab, ein kaltes Grab«, stöhnte sie im Halbschlaf, aber sie war zu erschöpft, um richtig aufzuwachen, und schlief bald wieder ein. Sie begann zu träumen. Sie träumte von den Seelen der Toten an den Wänden im Bemalten Raum, von den Gestalten, die wie große unförmige Vögel mit menschlichen Gesichtern, Händen und Füßen aussahen, die im Staub der dunklen, unterirdischen Stätten hockten. Sie konnten nicht fliegen. Sie fraßen Lehm und tranken Staub. Es waren die Seelen derer, die nicht wiedergeboren wurden, alter, längst verschollener Völker und Ungläubiger, die von den Namenlosen verzehrt worden waren. Sie hockten um sie herum, und manchmal vernahm sie ein schwaches Krächzen und Ächzen, das von ihnen ausging. Einer von ihnen kam immer näher. Sie hatte zuerst Angst und wollte sich zurückziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er hatte kein menschliches, sondern ein Vogelgesicht. Aber sein Haar war golden und seine Stimme war die Stimme einer Frau und sie war warm und weich und sprach zu ihr: »Tenar, Tenar!«
Sie wachte auf. Ihr Mund war voll Lehm. Sie lag in einem Grab aus Stein, unter der Erde. Ihre Arme und Beine waren mit Grabtüchern festgebunden; sie konnte sich nicht rühren und nicht sprechen.
Die Verzweiflung wuchs und wurde stärker, bis ihre Brust aufbrach und wie ein Feuervogel den Stein zerschmetterte und sich ins Licht des Tages erhob — ins Licht des Tages, das sie, ganz schwach, in ihrem fensterlosen Raum wahrnehmen konnte.
Jetzt ganz wach, setzte sie sich auf, ganz zerschlagen von den Träumen dieser Nacht, ihr Geist benommen. Sie schlüpfte in ihre Kleider und ging hinaus zur Zisterne in dem ummauerten Innenhof des Kleinhauses. Sie tauchte ihre Arme, ihr Gesicht, ihren ganzen Kopf in das eiskalte Wasser, bis ihr Körper sich schüttelte und ihr Blut heftig durch die Adern pulsierte. Dann warf sie ihr Haar zurück, richtete sich hoch auf und blickte hinauf in den morgendlichen Himmel.
Es war noch nicht lange nach Sonnenaufgang, ein heller Wintertag. Der Himmel war gelblich und ganz klar. Hoch oben, so hoch, daß sich das Sonnenlicht in seinem Gefieder fing und er wie ein kleiner, goldener Fleck aussah, kreiste ein Vogel, ein Falke oder ein Adler der Wüste.
»Ich bin Tenar«, sagte sie, nicht laut, und sie zitterte vor Kälte, vor Schreck, von innerem Aufjauchzen, unter dem weiten, sonnenhellen Himmel. »Ich habe meinen Namen wieder. Ich bin Tenar.«
Der goldene Fleck wandte sich nach Westen, den Bergen zu, und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Morgensonne vergoldete die Firstbalken des Kleinhauses. Drunten in den Pferchen bimmelten die Glocken der Schafe. Den Geruch des Holzfeuers und der frischen Buchweizenfladen trug der leichte, frische Wind vom Kamin der Küche herüber.
»Ich bin so hungrig … Woher wußte er es? Woher wußte er meinen Namen? … Oh, ich muß etwas essen, ich bin so hungrig …«
Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und rannte zum Frühstück.
Das Essen nach dem dreitägigen, halben Fasten gab ihr Substanz und verlieh ihr Gewicht; ihre Bewegungen waren nicht mehr so zerfahren, ihre Gedanken wirbelten nicht mehr so durcheinander, waren nicht mehr so aufgewühlt. Nach dem Frühstück fühlte sie sich stark genug, um mit Kossil fertig zu werden.
Sie holte die große, schwere Gestalt auf dem Weg aus dem Speisesaal des Großhauses ein und ging neben ihr her. Mit unterdrückter Stimme sagte sie: »Ich habe den Eindringling aus dem Wege geschafft … Wie schön es heute ist!«
Die kalten, grauen Augen unter der schwarzen Kapuze musterten sie prüfend von der Seite.
»Ich dachte, die Priesterin darf drei Tage nach einem menschlichen Opfer kein Essen berühren?«
Das stimmte. Arha hatte es vergessen, und man sah ihrem Gesicht an, daß sie es vergessen hatte.
»Er ist noch nicht tot«, sagte sie in demselben, gleichgültigen Ton, der ihr kurz zuvor noch so leicht gefallen war. »Er wurde lebendig begraben. Unter den Gräbern. In einem Sarg. Etwas Luft muß noch drinnen sein, denn der Sarg ist nicht versiegelt, er ist aus Holz. Der Tod wird ziemlich langsam kommen. Wenn ich weiß, daß er tot ist, werde ich mit dem Fasten beginnen.«
»Wie werden Sie das wissen?«
Verwirrt blickte sie auf und zögerte wieder mit der Antwort: »Ich werde es wissen. Der … Meine Gebieter werden es mir sagen.«
»Ach so! Wo ist das Grab?«
»Unter den Steinen. Ich sagte Manan, daß er es unter dem glatten Stein graben soll.« Sie mußte sich zusammennehmen und nicht so schnell in diesem dummen, beschwichtigenden Ton antworten. Sie mußte Kossil gegenüber ihre Würde bewahren.
»Lebendig, in einem Holzsarg? Das ist eine riskante Sache bei einem Hexenmeister, Herrin! Haben Sie sich vergewissert, daß er nicht sprechen und keine Zaubereien wirken kann? Sind seine Hände gefesselt? Damit kann er auch Zauberei bewerkstelligen, manchmal genügt eine Fingerbewegung, selbst nachdem man ihnen die Zunge herausgeschnitten hat.«
»Mit seiner Hexerei ist es nicht weit her. Nichts als Betrügerei«, sagte Arha und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Er ist begraben, und meine Gebieter warten auf seine Seele. Alles andere geht Sie, Priesterin, nichts an.«
Jetzt war sie zu weit gegangen; andere hatten es gehört, Penthe, ein paar weitere Mädchen, Duby und die Priesterin Mebbeth, alle befanden sich in Hörweite. Die Mädchen waren ganz Ohr, und Kossil war sich dessen bewußt.
»Alles, was hier geschieht, geht mich etwas an, Herrin! Und alles, was hier an der Stätte vor sich geht, interessiert den Gottkönig, den Unsterblichen, dessen Dienerin ich bin. Er hat das Recht, die unterirdischen Stätten zu durchforschen, er blickt in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihm den Zutritt dazu verwehren!«
»Ich tue es. Keiner betritt die Gräber, wenn die Namenlosen es nicht gestatten. Sie bestanden schon, als es noch keinen Gottkönig gab, und sie werden bestehen, wenn es keinen Gottkönig mehr gibt. Sprechen Sie behutsam von ihnen, Priesterin! Rufen Sie ihre Rache nicht auf sich herab! Sie werden in Ihren Träumen zu Ihnen kommen, sie werden sich in Ihre Seele schleichen auf dunklen Wegen. Den Wahnsinn werden sie bringen!«