Die Augen des Mädchens blitzten. Kossils Gesicht war verdeckt, von der schwarzen Kapuze verborgen. Penthe und die anderen sahen erschreckt und gebannt aus der Ferne zu.
»Sie sind alt.« Kossils Stimme drang leise, ein dünner, pfeifender Tonfaden, aus der Tiefe der Kapuze. »Sie sind alt. Nur hier werden sie noch verehrt. Nirgends sonst auf der Welt wird ihnen noch gehuldigt. Ihre Macht ist vergangen. Es sind nur noch Schatten, machtlose Schatten. Versuche nicht, mir Furcht einzujagen, Verzehrte! Du bist die Erste Priesterin — und bedeutet das nicht, daß du auch die Letzte bist? — Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich schaue dir ins Herz. Die Dunkelheit verbirgt nichts vor meinen Augen. Sei vorsichtig, Arha!«
Sie wandte sich um und bewegte sich in ihrem langsamen, wuchtigen Gang, das mit Rauhreif bedeckte Unkraut unter ihren großen, schweren, in Sandalen steckenden Füßen zermalmend, auf die weiße Säulenpracht des gottköniglichen Tempels zu.
Arha, dunkel und schmal, stand im vorderen Hof des Großhauses, als sei sie auf dem Boden festgefroren. Nichts rührte sich um sie, niemand bewegte sich außer Kossil, alles war erstarrt, das weite Land um Hof und Tempel, die Hügel, die Wüste, die Berge.
»Mögen die Dunklen deine Seele verzehren, Kossil!« schrie sie. Wie ein Falkenschrei hallte es über die Stätte; mit hocherhobenem Arm und ausgestreckter Hand schmetterte sie die Verwünschung gegen Kossils Rücken, gerade als diese ihren Fuß auf die Treppe des Tempels setzte. Kossil zuckte zusammen, aber sie hielt nicht an, sie wandte sich nicht um. Sie setzte ihren Weg fort und ging durch die Tür in den Tempel des Gottkönigs.
Arha verbrachte den Tag auf der untersten Stufe vor dem Leeren Thron sitzend. Sie wagte nicht, das Labyrinth zu betreten, sie wollte nicht mit anderen Priesterinnen zusammen sein. Schwer lag es auf ihr und hielt sie dort im trüben Dämmerlicht der weiten Halle fest, Stunde um Stunde. Sie starrte auf die Doppelreihe der dicken, bleichen Säulen, die sich in der Düsternis am anderen Ende der Halle verloren, auf die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken in der Decke fielen, auf den dicken, sich ringelnden Rauch, der von den glühenden Kohlen in den Bronzeschalen aufstieg. Mit den kleinen Mäuseknochen, die auf den Marmorstufen lagen, zeichnete sie Figuren in den Staub. Sie hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Gedanken jagten und überstürzten sich. Wer bin ich? fragte sie sich, und erhielt keine Antwort.
Manan kam schlurfend die Halle herauf, zwischen den Doppelreihen der Säulen, lange nachdem das Tageslicht aufgehört hatte, sich durch die Löcher des Daches zu stehlen, und die Kälte ringsum sich zunehmend verschärft hatte. Manans Mondgesicht sah betrübt aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ seine Arme an den Seiten herunterhängen, ein Stück abgerissener Saum von seinem alten Umhang hing auf seine Ferse nieder.
»Kleine Herrin!«
»Was ist los, Manan?« fragte sie müde und blickte ihn voll Zuneigung an.
»Kleines, laß mich das tun, was du gesagt hast … was du gesagt hast, daß es geschehen sei. Er muß sterben, Kleines. Er hat dich verzaubert. Sie wird sich rächen. Sie ist alt und grausam, und du bist noch zu jung. Du bist noch nicht stark genug.«
»Sie kann mir nichts antun.«
»Wenn sie dich töten würde, in aller Öffentlichkeit, wo es jeder sehen könnte, selbst dann gäbe es keinen im ganzen Reich, der es wagen würde, einen Finger gegen sie zu erheben. Sie ist die Hohepriesterin des Gottkönigs, und der Gottkönig herrscht allein. Aber sie wird dich nicht öffentlich töten, sie wird es heimlich tun, mit Gift, in der Nacht.«
»Dann werde ich wiedergeboren werden.«
Manan rang seine großen Hände. »Vielleicht wird sie dich nicht töten«, flüsterte er.
»Was meinst du damit?«
»Sie könnte dich in einem Raum im … dort unten … wie du es mit ihm getan hast. Und du würdest noch jahrelang, noch viele Jahre vielleicht, am Leben bleiben. Und es gäbe keine wiedergeborene Priesterin, denn du bist ja nicht tot. Und es gäbe keine Priesterin der Gräber, und die Tänze der Mondfinsternis würden nicht getanzt werden, und es würden keine Opfer gebracht und kein Blut vergossen werden, und die Verehrung der Dunklen Mächte würde aufhören und vergessen werden, für immer. Sie und ihr Gebieter hätten das gern.« »Sie würden mich freisetzen, Manan.«
»Nicht, solange sie zornig auf dich sind, kleine Herrin!« flüsterte Manan.
»Zornig?«
»Wegen ihm … Die Schändung, die nicht gerächt wurde. Oh, Kleines! Sie kennen kein Vergeben!«
Sie saß im Staub auf der untersten Stufe und hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute das winzige Ding an, das sie in der Hand hielt: der Schädelknochen einer Maus. Die Eulen im Dachgebälk über dem Thron bewegten sich leise, es wurde dunkler, die Nacht nahte.
»Geh heute nacht nicht ins Labyrinth«, sagte Manan, kaum hörbar. »Geh in dein Haus und schlaf, und morgen früh geh zu Kossil und sag' ihr, daß du die Verwünschung aufhebst. Das genügt. Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen. Ich werde ihr den Beweis bringen.«
»Beweis?«
»… daß der Zauberer tot ist.«
Sie saß unbeweglich. Langsam schloß sie die Hand, und der dünne Knochen knirschte und zerbrach. Als sie die Faust öffnete, hielt sie nur ein paar Splitter und Staub in der Hand.
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihrer Handfläche.
»Er muß sterben. Er hat dich verhext. Du bist verloren, Arha!«
»Er hat mich nicht verhext. Du bist alt und feige, Manan. Du fürchtest dich vor alten Weibern. Wie stellst du dir denn das vor? Wie willst du zu ihm gelangen und ihn töten und den ›Beweis‹ bringen? Kennst du denn den Weg bis zum Großen Schatz, den du letzte Nacht in der Dunkelheit gegangen bist? Kannst du die Ecken richtig zählen, bis zu den Stufen gelangen, am Schacht vorbei bis zur Tür? Kannst du die Tür aufschließen? — Oh, du armer, alter Manan, dein Geist ist schwach. Sie hat dir Angst gemacht. Geh jetzt zum Kleinhaus und schlaf und vergiß das alles. Quäl' mich nicht länger mit deinem Gerede vom Tod … Ich komme später. Geh schon, geh schon, du alter Narr, du alter Bär!« Sie war aufgestanden und schubste Manans breiten Oberkörper, tätschelte ihn und schob ihn fort. »Gute Nacht, gute Nacht!«
Er wandte sich um, zögernd und nichts Gutes ahnend, doch gehorsam, und watschelte den langen Gang zwischen den Säulen unter dem beschädigten Dach hinunter. Sie sah ihn entschwinden.
Geraume Zeit, nachdem er verschwunden war, stand sie auf, drehte sich um, ging um den Fuß des Thrones und verlor sich in der Dunkelheit.
9
DER RING VON ERRETH-AKBE
In der Großen Schatzkammer der Gräber von Atuan stand die Zeit still. Kein Licht, kein Leben, nicht einmal das unmerkliche Weben einer Spinne im Staub, eines Wurmes in der Erde war spürbar. Fels und Finsternis und Zeit standen still.
Auf dem Steindeckel einer großen Truhe lag der Dieb von den Innenländern, ausgestreckt auf dem Rücken, wie eine gemeißelte Figur auf einem Sarkophag. Der Staub, durch seine Bewegungen aufgerührt, hatte sich auf seiner Kleidung niedergesetzt. Er rührte sich nicht.
Das Schloß in der Tür quietschte. Die Tür öffnete sich. Licht zerteilte die Finsternis, und ein frischerer Windzug bewegte die tote Luft. Der Mann lag regungslos.
Arha machte die Tür zu und verschloß sie von innen, stellte ihre Laterne auf eine Truhe und kam langsam auf die regungslose Gestalt zu. Sie näherte sich furchtsam, ihre Augen weit offen, die Pupillen noch ganz groß von dem langen Gang durch die Dunkelheit.
»Sperber!«
Sie berührte seine Schulter und wiederholte seinen Namen noch einmal und noch einmal.
Er rührte sich und stöhnte. Endlich setzte er sich auf, sein Gesicht war erstarrt, seine Augen leer. Er blickte sie an und erkannte sie nicht.