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»Ich bin es, Arha — Tenar. Ich habe dir Wasser gebracht. Hier, trink!«

Er griff unbeholfen nach der Flasche, als wären seine Hände gelähmt, und trank, aber nicht viel.

»Wie lange war ich hier?« fragte er, mühsam die Worte formend.

»Zwei Tage sind vergangen, seit ich dich hierhergebracht habe. Dies ist die dritte Nacht. Ich konnte nicht früher kommen. Ich mußte das Essen stehlen. Hier ist es.« Sie zog einen der großen, flachen Laibe aus der Tasche, die sie mitgebracht hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger … Dies … dies ist ein fürchterlicher Ort.« Er legte den Kopf in die Hände und saß regungslos.

»Ist dir kalt? Ich habe den Umhang vom Bemalten Raum gebracht.«

Er antwortete nicht.

Sie legte den Umhang hin und blickte ihn an. Sie zitterte ein wenig, und ihre Augen waren noch schwarz und weit geöffnet.

Plötzlich sank sie auf die Knie, beugte sich nach vorne und begann zu schluchzen, in heftigen Stößen, die ihren Körper schüttelten, aber keine Tränen in ihre Augen brachten.

Er stieg steif von der Truhe herunter und beugte sich über sie: »Tenar …«

»Ich bin nicht Tenar. Ich bin nicht Arha. Die Götter sind tot. Die Götter sind tot.«

Er strich ihre Kapuze zurück und legte seine Hände auf ihren Kopf. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war leise, und die Worte waren in einer ihr fremden Sprache. Ihr Klang drang in ihr Herz wie leise lispelnder Regen. Sie wurde ruhiger und begann zuzuhören.

Als sie sich beruhigt hatte, hob er sie hoch und setzte sie wie ein Kind auf die große Truhe, auf der er gelegen hatte. Er legte seine Hand auf ihre Hände. »Warum hast du geweint, Tenar?«

»Ich werde es dir sagen. Es ist jetzt sowieso alles egal. Du kannst doch nichts tun. Du kannst nicht helfen. Du wirst ja auch sterben. Alles ist jetzt gleichgültig, alles! Kossil, die Priesterin des Gottkönigs, sie war schon immer grausam, sie versuchte, mich zu veranlassen, daß ich dich töte. So wie ich die anderen getötet habe. Und ich tat es nicht. Welches Recht hat sie? Und sie forderte die Namenlosen heraus und verhöhnte sie, und ich habe sie verwünscht. Und seither habe ich Angst vor ihr, denn was Manan sagt, stimmt, sie glaubt nicht an die Götter. Sie will, daß sie vergessen werden, und sie hätte mich im Schlaf getötet. Und so schlief ich nicht. Ich bin nicht ins Kleinhaus zurückgegangen. Die ganze vergangene Nacht verbrachte ich in der Thronhalle und auf dem Speicher, in dem die Tanzgewänder hängen. Bevor es Tag wurde, ging ich zum Großhaus und habe etwas Essen gestohlen, und dann ging ich zurück in die Halle und blieb den ganzen Tag dort. Ich wollte mir überlegen, was ich nun tun soll. Und heute nacht — heute nacht war ich so müde, und ich dachte, ich könnte vielleicht an einen der heiligen Plätze gehen und dort schlafen, irgendwo, wo sie sich fürchtet hinzugehen. Und so ging ich ins Untergrab, das große Gewölbe, wo ich dich zum ersten Mal sah. Und … und dort war sie. Sie muß durch die rote Felsentür gekommen sein. Sie hatte eine Laterne dabei und kratzte an dem Grab herum, das Manan geschaufelt hatte, um zu sehen, ob eine Leiche darin war. Wie eine große, fette Ratte auf einer Grabstätte. Licht brannte an diesem Heiligen Ort, und die Namenlosen duldeten es und rührten sich nicht. Sie töteten sie nicht, sie brachten keinen Wahnsinn über sie. Sie sind alt, wie sie behauptet, sie sind tot. Sie sind verschwunden. Ich bin keine Priesterin mehr.«

Der junge Mann stand und hörte zu, seine Hand lag noch auf ihrer Hand, sein Kopf war leicht gesenkt. Etwas Kraft war in sein Gesicht und in seine Haltung zurückgekehrt, doch die Narben an seiner Wange waren noch blaugrau, und auf seiner Kleidung, auf seinem Haar lag Staub.

»Ich bin an ihr vorbei durch das Untergrab gegangen. Ihre Kerze machte mehr Schatten als Licht, und sie hat mich nicht gehört. Ich wollte ins Labyrinth, weg von ihr gehen. Aber als ich dort war, bildete ich mir ein, daß ich sie hörte, wie sie mir folgte. Auch als ich durch die Gänge ging, hörte ich, wie jemand mir folgte. Und ich wußte nicht, wo ich hin sollte. Nur hier, hier, dachte ich, werde ich sicher sein. Ich glaubte, daß meine Gebieter mich schützen und verteidigen würden. Aber sie sind verschwunden, sie sind tot …«

»Ihretwegen hast du geweint — über ihren Tod? Aber sie sind hier, Tenar, hier!«

»Woher weißt du denn das?« fragte sie mutlos.

»Weil ich mich seit dem Augenblick, an dem mein Fuß das Gewölbe unter den Gräbern betreten hat, bemühe, sie stille zu halten, ihnen mein Kommen zu verheimlichen. Meine ganze Kunst habe ich aufwenden müssen, meine ganze Macht habe ich damit verausgabt. Ich habe diese Gänge mit einem endlosen Netz von Bannsprüchen zugewebt, mit Bannsprüchen der Stille, des Schlafes, des Verbergens: und doch spüren sie, daß ich hier bin, spüren es halbwegs, halb schlafend, halb wachend, obwohl ich meine ganze Kraft aufwende. Dies hier ist ein ganz fürchterlicher Ort. Ein Mensch allein ist hier hoffnungslos verloren. Ich war am Verdursten, als du mir Wasser gabst, doch war es nicht das Wasser allein, das mich rettete. Es war die Kraft deiner Hände, die mir das Wasser reichten.« Als er das sagte, drehte er ihre Hand, die in seiner Hand ruhte, um und schaute auf ihre Handfläche. Dann wandte er sich ab, lief im Raum auf und ab und hielt wieder vor ihr inne. Sie sagte nichts.

»Glaubst du wirklich, daß sie tot sind? Dein Herz weiß es besser. Sie sterben nicht. Sie sind dunkel und werden nie sterben. Sie hassen das Licht: das kurze, helle Licht unserer Sterblichkeit. Sie sind unsterblich, aber sie sind keine Götter. Nie waren sie Götter. Sie sind es nicht wert, von einer menschlichen Seele verehrt zu werden.«

Sie hörte ihm zu. Ihre Augen waren schwer, und ihr Blick war auf die flackernde Laterne gerichtet. »Was haben sie dir je gegeben, Tenar?«

»Nichts«, flüsterte sie.

»Sie haben nichts, was sie geben können. Sie haben keine Kraft des Schöpfens. Ihre Kraft ist, Dunkelheit zu bringen und Lebendiges zu zerstören. Diesen Ort hier können sie nicht verlassen. Der Ort besteht aus ihnen, und er sollte ihnen ganz überlassen werden. Sie sollten nicht verleugnet und nicht vergessen, aber auch nicht verehrt werden. Die Welt ist hell und licht und schön, aber das ist nicht alles. Die Erde ist auch dunkel und schrecklich und grausam. Der kleine Hase stöhnt, wenn er auf der grünen Wiese stirbt. Die Gebirge ballen ihre großen kalten Hände um verborgene Feuer. Im Meer gibt es Haifische und in den Augen der Menschen Grausamkeit. Und dort, wo Menschen diese Mächte verehren und sich vor ihnen erniedrigen, dort waltet das Böse, dort werden Stätten errichtet, wo die Finsternis sich verdichtet, Stätten, die ganz denen geweiht sind, die wir die Namenlosen nennen, die uralten, heiligen Mächte dieser Erde, die vor dem Licht bestanden haben, die Mächte der Dunkelheit, der Zerstörung, des Wahnsinns … Ich glaube, daß eure Priesterin Kossil schon vor langer Zeit wahnsinnig geworden ist; ich glaube, daß sie in diesen unterirdischen Gewölben herumschleicht wie im Labyrinth ihrer eigenen Seele, und nun kann sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnehmen. Sie hat dir gesagt, daß die Namenlosen tot seien, nur eine verlorene Seele, eine Seele, für die es keine Wahrheit mehr gibt, kann das behaupten. Sie existieren. Aber sie sind nicht deine Gebieter. Noch nie waren sie das. Du bist frei, Tenar. Man hat dich gelehrt, Sklavin zu sein, doch du bist ausgebrochen, du bist frei!«

Sie hörte ihm zu, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er sagte nichts weiter. Sie schwiegen, aber es war nicht die Stille, die bestand, bevor sie den Raum betreten hatte. Zwei Menschen atmeten jetzt hier, Leben pulsierte durch ihre Adern, und die Kerze in der Laterne brannte, ein winziger, knisternder, lebendiger Ton.

»Woher weißt du meinen Namen?«

Er lief auf und ab in dem Raum, rührte den feinen Staub auf und reckte seine Arme und Schultern, um seine von der Kälte erstarrten Glieder wieder ins Leben zurückzurufen.