Unterhalten konnten wir uns nicht. Damals sprach ich noch nicht Kargisch, und sie verstanden die Sprachen des Innenreiches nicht, selbst ihre eigene kannten sie nicht gut. Man hatte sie, als sie noch jung waren, hierhergebracht, damit sie sterben sollten. Ich weiß nicht, warum, ich bezweifle, daß sie es wußten. Sie kannten nur die Insel, den Wind und das Meer. Aber als ich fortging, gab die Frau mir ein Geschenk. Sie gab mir die verlorene Hälfte von Erreth-Akbes Ring.
Er schwieg eine Weile.
»Damals wußte ich genauso wenig wie sie, was es war. Die größte Gabe des Jahrhunderts, von einer unwissenden, alten Frau in Seehundsfellen einem dummen Jungen gegeben, der sie in seine Tasche stopfte, ›Danke‹ sagte und davonsegelte … Na ja, ich bin weitergesegelt und tat, was ich tun mußte. Aber dann kam anderes dazwischen, und ich ging zu den Dracheninseln im Westen und so weiter. Und die ganze Zeit behielt ich den Ring bei mir, denn ich war dankbar und gerührt, daß diese alte Frau mir das einzige Geschenk gab, das sie mir geben konnte. Und eines Tages auf Selidor, das ist eine ferne Insel, auf der Erreth-Akbe im Kampf mit dem Drachen Orm fiel — auf Selidor sprach ich mit einem Drachen, einem Nachkommen von Orm, und er sagte mir, was ich auf meiner Brust trug.
Er fand es natürlich komisch, daß ich es nicht wußte. Drachen finden uns meistens komisch. Aber an Erreth-Akbe erinnern sie sich. Von ihm sprechen sie, als sei er ein Drache gewesen und kein Mensch.
Als ich zu den Innenländern zurückkehrte, ging ich nach Havnor. Ich bin auf Gont geboren, nicht allzu weit westlich von Kargad, und ich war viel herumgewandert, doch nach Havnor war ich noch nie gekommen. Es war Zeit, daß ich dort hinging. Ich sah die weißen Türme, und ich sprach mit den bedeutenden Männern dort, den Kaufleuten, Prinzen und Fürsten der alten Länder. Ich erzählte ihnen, was ich besaß, und ich erbot mich, wenn sie es wünschten, zu den Gräbern von Atuan zu gehen, um die verlorene Rune wiederzufinden, den Schlüssel zum Frieden. Denn wir haben Frieden bitter nötig auf dieser Welt, bitter nötig. Sie rühmten und priesen mich, und einer von ihnen gab mir sogar Geld, um mein Boot für die Reise auszustatten. Und ich lernte die Sprache, die hier gesprochen wird, und kam nach Atuan.«
Er schwieg und blickte in die Schatten vor sich.
»Erkannten dich die Leute in unseren Städten nicht? Merkten sie nicht, daß du aus dem Westen bist, an deiner Hautfarbe und an deiner Sprache?«
»Oh, es ist nicht schwer, Leute hinters Licht zu führen«, sagte er geistesabwesend, »man muß sich nur mit Hilfe von Illusionszaubereien etwas ändern, und niemand, nur ein anderer Magier, kann dich durchschauen. Und hier auf Kargad gibt es ja keine Zauberer und keine Magier. Und das ist auch eine seltsame Sache. Vor langer Zeit schon wurden alle Zauberer von hier verbannt, und die Kunst der Magie wurde verboten, und heute glaubt fast keiner mehr daran.«
»Mich haben sie gelehrt, nicht daran zu glauben. Magie widerspricht den Lehren der Priesterkönige. Aber ich weiß, daß dich nur Hexerei zu den Gräbern und durch die Tür zwischen den roten Felsen gebracht hat.«
»Nicht nur Hexerei, sondern auch guter Rat. Wir schreiben mehr als ihr, glaube ich. Kannst du lesen?«
»Nein, das ist eine der Schwarzen Künste.«
Er nickte. »Aber es ist eine sehr nützliche«, sagte er. »Ein längst vergessener, erfolgloser Dieb hinterließ gewisse Beschreibungen der Gräber von Atuan und Anweisungen, wie man hineingelangt, wenn man die großen Zauberformeln des Öffnens wirken kann. Das fand ich alles in einem Buch in der Schatzkammer eines Prinzen von Havnor. Er ließ es mich lesen. So kam ich bis an das große, unterirdische Gewölbe …«
»Das Untergrab.«
»Der Dieb, der das aufgeschrieben hatte, glaubte, daß der Schatz sich dort im Untergrab befände. Deswegen habe ich dort gesucht, aber ich hatte das Gefühl, daß er tiefer im Labyrinth versteckt war. Ich kannte den Eingang zum Labyrinth, und als ich dich sah, ging ich dorthin, um mich zu verstecken. Das war natürlich ein Fehler. Die Namenlosen hatten mich bereits in ihrer Gewalt, und ich konnte nicht mehr klar denken. Und seither bin ich nur noch schwächer und dümmer geworden. Man darf ihnen nie nachgeben, man muß sich immer wehren, man muß stark und seiner selbst sicher sein. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Aber hier, wo sie so mächtig sind, fällt es einem schwer. Es sind keine Götter, Tenar. Aber sie sind stärker als jeder Mensch.«
Beide schwiegen lange.
»Was hast du noch in den Truhen gefunden?« fragte sie teilnahmslos.
»Plunder; Gold, Juwelen, Kronen, Schwerter; Zeug, das keinem, der jetzt lebt, gehört … Tenar, erzähl mir, wie du zur Priesterin der Gräber gewählt wurdest!«
»Wenn die Erste Priesterin stirbt, dann suchen sie in allen Ländern nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht geboren wurde. Sie finden immer eines, denn es ist die wiedergeborene Priesterin. Wenn das Kind fünf Jahre alt ist, bringen sie es hierher, und wenn es sechs Jahre alt ist, wird es den Namenlosen übergeben, und seine Seele wird verzehrt. Dann gehört es ihnen, und seit Urzeiten hat es ihnen gehört. Es hat keinen Namen.«
»Glaubst du das?«
»Ich habe immer daran geglaubt.«
»Glaubst du es jetzt noch?«
Sie antwortete nicht.
Wiederum breitete sich das dunkle Schweigen zwischen ihnen aus. Eine geraume Zeit verstrich, dann sagte sie: »Erzähl mir … erzähl mir von den Drachen im Westen!«
»Tenar, was willst du jetzt tun? Wir können nicht hier sitzen und uns Geschichten erzählen, bis die Kerze niedergebrannt ist und die Dunkelheit wiederkommt.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst.« Sie saß aufrecht und preßte ihre Hände zusammen. Sie sprach laut, als hätte sie Schmerzen. Sie sagte: »Ich habe Angst vor der Dunkelheit.«
Er antwortete leise: »Du mußt dich entscheiden. Entweder du verläßt mich, verschließt die Tür, gehst zu deinem Altar und übergibst mich deinen Gebietern; dann gehst du zu Kossil und schließt Frieden mit ihr — und das ist das Ende der Geschichte — oder du schließt die Tür auf und gehst durch die Tür mit mir. Und das ist der Anfang der Geschichte. Du mußt dich entschließen, entweder Arha oder Tenar zu sein. — Du kannst nicht beides sein.«
Die tiefe Stimme klang warm und fest. Sie blickte durch die Schatten in sein Gesicht, ein hartes, vernarbtes Gesicht, das keine Grausamkeit, keinen Arg verbarg.
»Wenn ich den Dienst der Namenlosen verlasse, werden sie mich töten. Wenn ich diesen Ort verlasse, werde ich sterben.«
»Du wirst nicht sterben. Arha wird sterben.«
»Ich kann nicht …«
»Um wiedergeboren zu werden, muß man den Tod erleiden, Tenar. Es ist nicht so schwer, wie man es sich vorstellt.«
»Sie wird uns niemals herauslassen. Niemals.«
»Vielleicht nicht. Es lohnt sich, den Versuch zu wagen. Du hast das Wissen, ich habe meine Künste, und wir beide zusammen haben …« Er hielt inne.
»Wir haben den Ring von Erreth-Akbe.«
»Ja, den auch. Aber ich dachte noch an etwas anderes, was wir allein haben. Nennen wir es Vertrauen — das ist einer der Namen dafür. Es ist etwas ganz Großes. Allein ist jeder von uns schwach, doch was wir gemeinsam haben, macht uns stark, stärker als die Mächte der Finsternis.« Seine Augen leuchteten hell und klar in seinem vernarbten Gesicht. »Hör mir zu, Tenar! Ich kam als Dieb, als Feind, gewaffnet gegen dich, doch du hattest Mitleid mit mir, du hast mir vertraut. Und als ich dein Gesicht zum ersten Mal, ganz kurz nur, dort unten in der Höhle unter den Gräbern sah, seine Schönheit in der Dunkelheit, habe auch ich dir vertraut. Du hast dein Vertrauen bewiesen. Ich habe dir nichts dafür gegeben. Ich gebe dir jetzt alles, was ich zu geben vermag. Mein wahrer Name ist Ged. Und das gehört dir.« Er war aufgestanden und streckte ihr einen Halbring aus graviertem, durchbrochenem Silber entgegen: »Möge der Ring wieder geschlossen werden«, sagte er.