Das war, Wort für Wort, was ihr Thar erzählt hatte, und nie hatte sie gewagt, weitere Fragen zu stellen. Die hagere Priesterin war nicht grausam, aber sie war kalt und lebte nach ehernen Gesetzen. Arha hatte Angst vor ihr. Aber vor Manan fürchtete sie sich nicht, ganz im Gegenteil, ihm konnte sie gebieten: »Jetzt erzähl mir, wie Ich gewählt wurde!« Und dann wiederholte Manan die Geschichte, die er ihr schon so oft erzählt hatte.
»Am dritten Tage nach dem Neumond sind wir von hier weggegangen und haben uns nach Osten und Westen gewandt. Die letzte Arha war nämlich am dritten Tag nach dem Neumond, vor einem Monat also, gestorben. Zuerst gingen wir nach Tenakbah, das ist eine große Stadt, obgleich diejenigen, die beide Städte kennen, sagen, daß sie nicht größer als ein Floh zu einem Rind sei, wenn man sie mit Awabad vergleicht. Aber mir ist Tenakbah groß genug, es muß dort tausend Häuser geben! Von dort gingen wir nach Gar. Aber niemand in diesen Städten hatte ein kleines Mädchen, das vor einem Monat, am dritten Tag nach dem Neumond, geboren war. Einige hatten Jungen, aber Jungen kommen nicht in Frage … Dann gingen wir in das Bergland nördlich von Gar, in die Städte und Dörfer, die dort liegen. Ich komme von dort her, dort in den Bergen bin ich geboren. Es gibt dort Flüsse, und das Land ist grün, ganz anders als diese Wüste hier.« Immer, wenn er an diese Stelle kam, lag in Manans heiserer Stimme ein seltsamer Unterton, und er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Und dann suchten wir alle Eltern auf, die Säuglinge hatten, die im vergangenen Monat geboren wurden. Manche logen uns an. ›O ja, unser kleines Mädchen ist drei Tage nach dem Neumond auf die Welt gekommen!‹ Denn, weißt du, arme Leute werden ihre kleinen Mädchen gerne los. Andere wiederum, die in den einsamen Hütten zwischen den Bergen wohnten, waren so arm, daß sie die Tage nicht zählten und kaum wußten, in welchem Monat sie lebten. Die wußten natürlich nicht genau, wie alt ihr Kind war. Aber wir haben letzten Endes immer die Wahrheit herausgefunden, wir mußten nur lange genug fragen. Es war manchmal mühsam. Schließlich fanden wir ein kleines Mädchen, in einem Dorf von nicht mehr als zehn Häusern, das an den Obstfeldern westlich von Entat lag. Es war acht Monate alt. So lange waren wir schon unterwegs. Es war in der Nacht geboren, in der die Priesterin verschieden war, und dazu noch zur Stunde ihres Todes. Das Kind sah gut aus, aufrecht saß es auf den Knien seiner Mutter und blickte uns alle aufmerksam an. Wir hatten uns alle in den einzigen Raum der Hütte gedrängt, wie Fledermäuse in eine Höhle! Der Vater war arm. Er versorgte die Apfelbäume auf den Feldern der Reichen, und außer seinen fünf Kindern und einer Ziege gehörte ihm nichts. Selbst das Haus war nicht sein eigenes. Da standen wir nun alle, zusammengepfercht, und man merkte am Tuscheln der Priesterinnen und an den Blicken, die sie auf das Kind warfen, daß sie glaubten, die Wiedergeborene endlich gefunden zu haben. Auch die Mutter merkte es. Sie hielt das Kind nur fester in ihren Armen und sagte kein Wort. Na, und am nächsten Tag kamen wir zurück. Und da schau her! Das kleine Mädchen mit seinen munteren Augen lag in seinem Bettchen auf Stroh und schrie und weinte, und ihr Körper war mit roten Fieberflecken bedeckt, und die Mutter rang die Hände und weinte lauter als das Kind: »O weh! O weh! Mein Kind hat die Hexenfinger!« So nannte sie die Krankheit, die man sonst als die Pocken bezeichnet. In meinem Dorf sagen sie auch Hexenfinger dazu. Aber Kossil, die jetzt Hohepriesterin beim Gottkönig ist, ging an das Bett und hob das Kind in die Höhe. Wir anderen waren alle zurückgewichen, ich auch. Mein Leben gilt mir ja nicht viel, aber wer betritt schon gern ein Haus, in dem die Pocken umgehen? Kossil hob das Kind in die Höhe und sagte: ›Sie hat kein Fieber.‹ Und dann spuckte sie auf ihren Finger und rieb an einer roten Stelle herum, bis sie verschwand. Es war nichts als Beerensaft. Die arme, dumme Mutter hatte geglaubt, daß sie uns an der Nase herumführen könne, um ihr Kind zu behalten!« Manan schüttelte sich vor Lachen, sein gelbes Gesicht veränderte sich kaum, aber er hielt sich die Seiten. »Ihr Mann hat sie dann geschlagen, denn er fürchtete den Zorn der Priesterinnen. Und dann sind wir wieder in die Wüste hierher zurückgekehrt, aber jedes Jahr ging einer von der Stätte in das Dorf zurück, das zwischen den Feldern voll Apfelbäumen lag, um zu sehen, wie sich das Kind entwickelte. So vergingen fünf Jahre, und dann machten sich Thar und Kossil auf, von den Tempelgarden und den Soldaten im roten Helm begleitet, die vom Gottkönig gesandt wurden, um das Mädchen sicher zurückzubringen. Sie brachten das Kind hierher, denn es war wirklich die Priesterin und sie gehörte hierher an die Gräberstätte. Und wer war das Kind, eh, Kleines?«
»Ich«, sagte Arha und schaute in die Ferne, als wolle sie etwas sehen, das nicht mehr da war, etwas, das nicht mehr sichtbar war.
Einmal fragte sie: »Was hat denn die … die Mutter getan, als sie kamen, um das Kind wegzunehmen?«
Manan wußte es nicht, er hatte die Priesterinnen auf dieser letzten Fahrt nicht begleitet.
Und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Was nützte es auch, sich daran zu erinnern? Es war vorbei, all das war vorbei. Sie war dort angekommen, wo sie ankommen mußte. So war es vorherbestimmt. Von der ganzen Welt kannte sie nur diesen einen Ort: die Stätte, wo sich die Gräber von Atuan befanden.
Während des ersten Jahres wohnte sie mit den anderen Mädchen, die im Alter zwischen vier und vierzehn waren, in dem großen Schlafsaal. Aber selbst dort wurde Manan von den anderen zehn Wärtern getrennt und dazu bestimmt, nur für sie allein zu sorgen, und ihr kleines Bett wurde in einer Nische aufgestellt, die etwas abseits lag in dem langgezogenen Schlafsaal mit den mächtigen, niedrigen Deckenbalken, der ein Teil des Großhauses war, wo die Mädchen kicherten und flüsterten, bevor sie einschliefen, wo sie gähnten und sich gegenseitig die Haare flochten im grauen Licht der Morgendämmerung. Aber nachdem man ihr den Namen weggenommen hatte, und sie Arha wurde, schlief sie allein in dem Kleinhaus, in dem Bett und in dem Zimmer, das sie bis ans Ende ihrer Tage innehaben würde. Das Haus gehörte ihr allein, es war das Haus der Einen Priesterin, und niemand durfte es ohne ihre Erlaubnis betreten. Als sie noch klein war, gefiel es ihr, wenn Leute demütig anklopften und sie dann sagen konnte: »Treten Sie ein!«, und es ärgerte sie, daß die beiden Hohepriesterinnen Kossil und Thar eintraten, ohne anzuklopfen, denn die sahen es als selbstverständlich an, daß sie das Recht dazu hatten.
So vergingen die Tage und die Jahre und alle waren sich ähnlich. Die Mädchen der Gräberstätte hatten Unterricht oder sie mußten sich in irgendeiner Geschicklichkeit üben. Spielen durften sie fast nie. Sie hatten auch keine Zeit dazu. Sie lernten die sakralen Lieder und Tänze, die Geschichte des Kargadreiches und die Mysterien des Gottes, dem sie geweiht waren: das konnte der Gottkönig sein, der über Awabad herrschte, oder die Zwillingsbrüder Atwah und Wuluah. Arha allein lernte die Mysterien der Namenlosen, und nur ein Mensch konnte sie die lehren: die Hohepriesterin Thar, die den Zwillingsgöttern diente. Täglich verbrachte sie eine Stunde mit ihr, manchmal dauerte es auch länger, aber den Rest des Tages war sie mit den anderen Mädchen beisammen und mußte arbeiten. Mit ihnen zusammen mußte sie lernen, Schafwolle zu spinnen und zu weben, Linsen, Buchweizen, grobgemahlen für Grütze und feingemahlen für ungesäuertes Brot, Zwiebeln und Kohl anzupflanzen, zu ernten und zuzubereiten, Ziegenkäse herzustellen, Honig zu sammeln und Äpfel zu verwerten.
Das Schönste und Begehrteste war die Erlaubnis, angeln gehen zu dürfen in dem trüben, grünen Fluß, der eine halbe Meile nordöstlich der Stätte durch die Wüste floß. Dort den ganzen Tag in der Sonne zu sitzen, mit einem Apfel und einem Buchweizenkuchen, und dem Sonnenlicht im Schilf zuzuschauen und den langsam dahinfließenden grünen Fluß zu beobachten und die Wolkenschatten an den Bergen, wie sie sich langsam veränderten, war das höchste Vergnügen, das sie kannte. Aber wenn man aufschrie vor Aufregung, wenn die Schnur sich spannte und man einen flachen, glitzernden Fisch aus dem Wasser schwang und ihn ans Ufer warf, damit er in der Luft ersticke, dann zischelte Mebbeth wie eine Natter: »Sei ruhig, du dumme Kröte!« Mebbeth, die im Tempel des Gottkönigs diente, war dunkelhaarig und dunkelhäutig und noch ziemlich jung, aber im Wesen war sie so hart wie Obsidian. Angeln tat sie mit Leidenschaft. Mit ihr mußte man sich gut stellen und nie einen Laut von sich geben, sonst wurde man nie mehr mit zum Angeln genommen, und man sah den Fluß nur noch im Sommer, wenn das Wasser der Brunnen so niedrig stand, daß man das Wasser aus dem Fluß schöpfen mußte. Das war eine mühselige Arbeit, dieses Wasserholen! Eine halbe Meile mußte man durch die weißglühende Hitze hinunter zum Fluß trotten, dort die beiden Eimer an der Tragstange füllen, und dann so schnell es ging wieder hinauf zur Stätte eilen. Die ersten hundert Schritte waren einfach, dann aber wurden die Eimer immer schwerer und die Stange drückte und brannte wie ein glühender Stab auf den Schultern, und das weiße heiße Licht wurde von der kahlen Straße zurückgeworfen und mit jedem Schritt wurde es mühseliger. Endlich, wenn man den kühlenden Schatten des Hofes hinter dem Großhaus erreicht hatte, wo sich der Gemüsegarten befand, konnte man die beiden Eimer in die Zisterne schütten, daß das Wasser aufspritzte, nur um sich dann wieder umzuwenden und alles noch einmal zu wiederholen, und noch einmal, und noch einmal.