»Im Norden von Atuan, in Entat, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»So jung warst du, als sie dich deinen Eltern wegnahmen?«
»Ich war fünf. Ich erinnere mich an ein Feuer im Herd und … sonst nichts.«
Er rieb sich das Kinn, an dem ein spärlicher Bart sproß, das aber jetzt wenigstens sauber war, denn trotz der Kälte hatten sie sich in dem Bergwasser gewaschen. Er sah nachdenklich und ernst drein. Sie blickte ihn an, und niemals hätte sie sagen können, was ihr Herz bewegte, als sie ihn im Licht des Feuers, in der Dämmerung zwischen den Bergen, ansah.
»Was wirst du in Havnor machen?« fragte er, und die Frage war an das Feuer, nicht an sie gerichtet. »Du bist — mehr als ich mir bewußt war — wirklich wiedergeboren.«
Sie nickte und lächelte ein bißchen. Sie fühlte sich wiedergeboren.
»Du solltest zumindestens die Sprache lernen.«
»Deine Sprache?«
»Ja.«
»Das würde ich gerne tun.«
»Gut. Also das ist Kabat«, sagte er und warf einen kleinen Stein in ihren Schoß auf den schwarzen Umhang.
»Kabat. Ist das die Drachensprache?«
»Nein, nein. Du willst doch keine Zauberformeln wirken, du willst mit anderen Männern und Frauen sprechen!«
»Was ist ›Stein‹ in der Drachensprache?«
»Tolk«, sagte er. »Aber ich mache keinen Zauberlehrling aus dir. Ich lehre dich die Sprache, die von den Leuten des Inselreiches, den Innenländern, gesprochen wird. Ich mußte deine Sprache auch lernen, bevor ich herkam.«
»Sie klingt komisch, wenn du sie aussprichst.«
»Zweifellos. Jetzt Arkemni Kabat«, und er streckte ihr seine Hand hin, damit sie ihm den Stein wiedergäbe.
»Muß ich nach Havnor gehen?« fragte sie.
»Wo möchtest du hingehen, Tenar?«
Sie zögerte.
»Havnor ist eine herrliche Stadt«, sagte er. »Und du bringst ihnen den Ring, das Friedenszeichen, die verlorene Rune. Sie werden dich in Havnor wie eine Prinzessin empfangen. Sie werden dich ehren für die große Gabe, die du ihnen bringst, sie werden dich willkommen heißen und sie werden dir alles zuliebe tun. In der Stadt wohnen edle und großzügige Menschen. Sie werden dich die Weiße Dame nennen, wegen deiner hellen Haut, und sie werden dich gernhaben, weil du so jung bist; und weil du so schön bist. Du wirst Hunderte von den Gewändern haben, wie ich dir eines durch Illusion gezeigt habe, nur diesmal werden es wirkliche Gewänder sein. Sie werden dich preisen, sie werden dir dankbar sein, sie werden dich lieben, dich, die nur Einsamkeit und Neid und die Dunkelheit gekannt hat.«
»Manan war da«, sagte sie einschränkend, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Er mochte mich und war immer lieb zu mir, immer. Er hat mich beschützt, so wie er es halt verstanden hat, und dafür habe ich ihn getötet, in den schwarzen Schacht ist er gefallen. Ich will nicht nach Havnor gehen. Ich will nicht dorthin gehen. Ich will hierbleiben.«
»Hier — auf Atuan?«
»Hier in den Bergen. Wo wir jetzt sind.«
»Tenar«, sagte er mit seiner ernsten, ruhigen Stimme, »wenn du willst, dann bleiben wir hier. Ich habe kein Messer und wenn es schneit, wird es schwierig werden. Aber so lange wir Nahrung finden …«
»Nein, ich weiß, daß wir nicht hierbleiben können. Ich bin nur kindisch«, sprach Tenar, stand auf, und die Nußschalen fielen um sie auf die Erde. Sie legte neues Holz aufs Feuer. Sie stand schmal und kerzengerade in ihrem beschmutzten Kleid und schwarzen Umhang da. »Alles, was ich kann und weiß, nutzt mir jetzt nichts«, sagte sie. »Und ich habe nichts anderes gelernt. Ich werde es zu lernen versuchen.«
Ged zuckte zusammen und blickte weg, als litte er Schmerzen.
Am nächsten Tag überschritten sie den höchsten Kamm des lohfarbenen Gebirges. Oben auf dem Paß schneite es leicht, und ein eisiger Wind schlug ihnen ins Gesicht, so daß sie fast nichts sehen konnten. Erst als sie ein geraumes Stück auf der anderen Seite hinabgestiegen und aus dem Schneegestöber der Höhe herausgekommen waren, sah Tenar das Land jenseits der Bergkette vor sich liegen. Grün breitete es sich vor ihr aus — das Grün der Tannen, der Weiden, der Felder und der Wiesen. Selbst jetzt, mitten im Winter, unter kahlen Büschen und Wäldern voll grauer Äste sah das Land in dem milden Klima zartgrün aus. Sie standen an einer Geröllhalde, hoch am Berg, und schauten hinab. Wortlos deutete Ged nach Westen, wo die Sonne hinter einer dunklen, aufgebauschten Wolke unterging. Sie selbst war nicht zu sehen, doch am Horizont war ein glitzernder Streif, ähnlich dem Kristallgefunkel an der Decke und der Wand des Gewölbes, ein beglückendes Strahlen am Rande der Welt.
»Was ist das?« fragte sie, und er antwortete: »Das Meer.«
Kurz danach sah sie etwas weniger Wunderbares, aber doch auch wunderbar genug. Sie stießen auf eine Straße und gingen sie entlang. Als die Dämmerung hereingebrochen war, erreichten sie ein Dorf: zehn bis zwölf Häuser, an der Straße entlang aufgereiht. Als es ihr bewußt wurde, daß sie sich unter Menschen befanden, blickte sie bestürzt auf ihren Gefährten. Sie schaute und sah ihn nicht. Neben ihr, in Geds Kleidung, in seinem Gang, in seinen Schuhen, wanderte ein fremder Mann. Seine Haut war weiß, sein Bart verschwunden. Er blickte sie an, seine Augen waren blau und zwinkerten ihr zu.
»Meinst du, ich führe sie hinters Licht?« fragte er. »Wie gefällt dir dein Kleid?«
Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen ländlichen braunen Rock und eine Jacke; um ihre Schultern lag ein großes rotes wollenes Tuch.
»Oh«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, du bist aber — du bist Ged!« Als sie seinen Namen aussprach, sah sie ihn ganz klar, sein dunkles, vernarbtes Gesicht, das ihr vertraut war, seine dunklen Augen; doch hier stand der Fremde mit dem Milchgesicht.
»Sag nie meinen wahren Namen, wenn andere Leute dabei sind. Ich werde auch deinen nicht gebrauchen. Wir sind Bruder und Schwester und kommen von Tenakbah. Und jetzt, glaube ich, werde ich um etwas Essen bitten, wenn ich ein freundliches Gesicht sehe.« Er ergriff ihre Hand, und sie betraten das Dorf.
Am nächsten Morgen, gesättigt und nach einer geruhsamen Nacht auf dem Heuboden einer Scheune, verließen sie das Dorf.
»Müssen Magier oft betteln?« fragte Tenar, als sie sich auf dem Weg zwischen grünen Wiesen befanden, auf denen Ziegen und kleine, scheckige Kühe weideten.
»Warum willst du das wissen?«
»Es schien dir nichts auszumachen; du hast es sogar sehr gut gekonnt.«
»Ja, weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt, wenn man so will. Zauberer besitzen nicht viel. Wenn sie auf der Wanderschaft sind, haben sie sowieso nur ihren Stab und ihre Kleidung. Die meisten Leute freuen sich, wenn ein Zauberer sie um Essen oder um Unterkunft bittet. Sie machen es meist wieder wett.«
»Wie?«
»Na, nimm die Frau im Dorf; ich habe ihre Ziegen geheilt.«
»Was hatten sie?«
»Beide hatten entzündete Euter. Als ich klein war, habe ich Ziegen gehütet.«
»Hast du ihr gesagt, daß du sie geheilt hast?«
»Nein. Wie konnte ich das tun? Und warum sollte ich es tun?«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Jetzt weiß ich, daß deine Künste nicht nur für große Dinge gut sind.«
»Gastfreundschaft«, sagte er, »Herzlichkeit einem Fremden gegenüber, das sind sehr große Dinge. Sich bedanken hätte genügt, natürlich. Aber mir haben auch die Ziegen leid getan.«
Am Nachmittag erreichten sie eine größere Stadt. Sie war aus Backstein gebaut und ringsum, wie es im Kargadreich üblich war, von einer Stadtmauer mit Schießscharten umgeben, die an jeder der vier Ecken einen Wachtturm und nur ein einziges großes Tor hatte, durch das ein Hirte gerade seine Schafe trieb. Die roten Ziegeldächer von hundert oder noch mehr Häusern lugten hinter der Mauer aus gelblichem Backstein hervor. Zwei Posten mit roten Federbüschen auf den Helmen, die im Dienst des Gottkönigs standen, hielten Wache am Tor. Tenar kannte diese Uniformen. Einmal im Jahr waren Männer in solchen Uniformen an die Stätte gekommen, um Sklaven oder Geld zum Tempel des Gottkönigs als Gabe zu bringen. Als sie im Vorbeischreiten Ged davon erzählte, sagte er: »Ich habe sie auch schon gesehen, als ich noch ein Junge war. Sie kamen nach Gont, um zu plündern und zu rauben. Aber sie wurden vertrieben. Und in Armünde kam es zur Schlacht, und viele sind gefallen. Hunderte, sagt man. Na, jetzt, nachdem die Rune wieder ganz ist, gibt es vielleicht keine Raubzüge und kein Töten mehr zwischen dem Kargadreich und den Innenländern.«