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»Es wäre dumm, wenn das nicht aufhören würde«, stimmte Tenar zu. »Was würde denn der Gottkönig mit all den Sklaven tun?«

Ihr Gefährte schien über ihre Worte nachzudenken. »Du meinst, wenn das Kargadreich die Innenländer besiegen würde?« Sie nickte.

»Ich glaube nicht, daß dies je passieren würde.«

»Aber schau doch her, wie stark das Reich ist — diese große Stadt mit ihrer Mauer und all die Männer. Wie könnten eure Länder dem widerstehen, wenn sie angegriffen würden?«

»Das ist keine große Stadt«, sagte er behutsam und freundlich. »Ich hätte sie auch als riesig angesehen, wenn ich gerade von meinem Berg heruntergekommen wäre. Aber in der Erdsee gibt es viele, viele Städte, und verglichen mit diesen ist das hier eine Kleinstadt. Es gibt viele, viele Länder. Du wirst sie sehen, Tenar.«

Sie erwiderte nichts. Sie ging neben ihm, und ihr Gesicht war verschlossen.

»Es ist ganz wunderbar, wenn man sie zum ersten Mal sieht: ein neues Land, eine neue Insel, die sich langsam aus dem Meer hebt, wenn man sich mit dem Boot nähert. Dann sieht man die Wiesen und Felder und Wälder, die Städte mit ihren Höfen und Palästen, die Märkte, wo alles, was es auf dieser Welt gibt, feilgeboten wird.«

Sie nickte. Sie wußte, daß er sie ermuntern wollte, aber sie hatte ihr Glück oben in den Bergen gelassen, dort in dem Flußtal, das im Dämmerlicht lag. In ihrem Herzen war Furcht, und diese Furcht wuchs täglich. Alles, was vor ihr lag, war ihr unbekannt. Sie kannte nichts außer der Wüste und den Gräbern. Und was nutzte ihr das jetzt? Sie kannte die Gänge eines Labyrinths, das in Trümmern lag, sie kannte die Tänze, die vor einem zerstörten Altar getanzt wurden. Sie wußte nichts von Wäldern, Städten oder den Herzen der Menschen.

Sie fragte plötzlich: »Wirst du dort bei mir bleiben?«

Sie blickte ihn nicht an. Er schritt noch immer als weißhäutiger, kargischer Landmann neben ihr her, und er gefiel ihr nicht in dieser Verstellung. Aber seine Stimme war geblieben, es war die gleiche, die in der Dunkelheit des Labyrinths zu ihr gesprochen hatte.

Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Tenar, ich gehe dorthin, wohin ich gesandt werde. Ich folge meinem Ruf. Bis jetzt war es mir nicht vergönnt, lange an demselben Ort zu verweilen.

Verstehst du das? Ich tu, was ich tun muß. Dort, wohin ich gehe, muß ich allein gehen. Solange du mich brauchst, bleibe ich in Havnor. Und wenn du mich je wieder brauchst, dann rufe mich. Ich werde kommen. Selbst aus dem Grab würde ich kommen, wenn du mich rufst, Tenar! Aber ich kann nicht bei dir bleiben.«

Sie erwiderte nichts. Nach einer Weilefügte er hinzu: »Du wirst mich dort nicht lange brauchen. Du wirst dort glücklich sein.«

Sie nickte. Sie verstand ihn und sie nahm hin, was er ihr sagte.

Nebeneinander schritten sie dem Meer zu.

12

DIE FAHRT ZUR SEE

Er hatte sein Boot in einer kleinen Höhle am Fuß eines großen felsigen Vorgebirges versteckt, das von den benachbarten Dorfbewohnern das Wolkenkap genannt wurde. Zum Abendessen hatte ihnen einer der Bewohner einen Teller Fischsuppe gegeben. Im letzten Licht des grauen Tages kletterten sie über die Klippen zum Strand hinunter. Die Höhle war nichts weiter als ein schmaler Spalt, der sich ungefähr zehn Meter in den Fels hinein erstreckte. Der Sandboden war feucht, denn er lag nur wenig höher als die Flut. Man konnte den Eingang der Höhle vom Wasser aus sehen, und Ged meinte, daß es besser wäre, wenn sie kein Feuer anzündeten, denn es könnte die Fischer, die nachts zur See fuhren, neugierig machen und anlocken. So legten sie sich auf den Sand, der sich so weich anfühlte, aber steinhart war, wenn man seine todmüden Glieder darauflegte. Tenar hörte der Brandung zu, die ein paar Meter unterhalb des Eingangs gegen die Felsen züngelte und zischte, und die leise grollend kilometerlang am Strand östlich von ihnen vernehmbar war. Es hörte sich wie eine Wiederholung des gleichen Geräusches an, pausenlos, aber es war immer verschieden. Ruhelos, ohne abzusetzen, rollten die Wellen gegen das Ufer, gegen alle Küsten, gegen alle Länder dieser Welt. Nie rasteten sie, nie standen sie still. Die Wüste, die Berge: die standen still. Die brüllten nicht fortwährend mit dieser mächtigen dumpfen Stimme. Nie hörte das Meer auf zu reden, doch seine Sprache war ihr fremd. Sie verstand sie nicht.

Im ersten Licht des Morgens, als die Ebbe den Wasserspiegel gesenkt hatte, erwachte sie aus schweren Träumen und sah, wie der Zauberer die Höhle verließ. Sie beobachtete ihn, wie er barfuß, den Gürtel um seinen gerafften Umhang schnallend, auf den schwarzbehaarten Felsen unterhalb der Höhle herumlief und etwas suchte. Er kam zurück, den Eingang verdunkelnd, als er eintrat. »Hier«, sagte er und hielt ihr eine Handvoll nasser, scheußlicher Dinge entgegen, die wie lila Steine mit orangefarbenen Lippen aussahen.

»Was ist das?«

»Miesmuscheln, direkt vom Fels gepflückt. Und diese beiden hier, das sind Austern, die schmecken noch besser. Siehst du — so macht man das!« Mit dem kleinen Dolch von ihrem Schlüsselbund, den sie ihm in den Bergen geliehen hatte, öffnete er die orangefarbenen Muscheln und aß sie, mit dem Seewasser als Tunke.

»Du kochst die nicht vorher? Du ißt sie roh?«

Sie konnte ihm nicht zuschauen, wie er, verlegen, aber ohne sich davon abhalten zu lassen, eine nach der anderen öffnete und aß.

Als er damit fertig war, ging er zurück in die Höhle zum Boot, das mit dem Bug nach vorne auf ein paar Treibholzstückchen ruhte, die es vor dem Sand schützten. Tenar hatte das Boot am vergangenen Abend bereits mißtrauisch und verständnislos betrachtet. Es war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte, mindestens dreimal so lang wie sie selbst. Es war gefüllt mit Geräten, deren Zweck ihr schleierhaft war, und es sah gefährlich aus. An jeder Seite seiner Nase, wie sie den Bug bezeichnete, waren zwei Augen gemalt, und im Halbschlaf hatte sie sich dauernd eingebildet, daß diese Augen sie anstarrten.

Ged kramte eine Weile im Boot herum und kam mit etwas zurück: einem Paket harten Brotes, das fest eingewickelt war, um es trocken zu halten. Er bot ihr ein großes Stück davon an.

»Ich habe keinen Hunger.«

Er blickte in ihr trotziges Gesicht.

Er wickelte das Brot wieder ein und tat es zurück, dann setzte er sich an den Eingang der Höhle. »Noch ungefähr zwei Stunden bis zur Flut«, sagte er. »Dann können wir fahren. Du hast schlecht geschlafen, warum schläfst du jetzt nicht ein bißchen?«

»Ich bin nicht schläfrig.«

Er gab ihr keine Antwort. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am dunklen Felsentor und wandte ihr sein Profil zu. Die schimmernden Wellen des Meeres hoben und senkten sich hinter ihm, als sie ihn von der Tiefe der Höhle aus betrachtete. Er rührte sich nicht. Er war so regungslos wie der Felsen selbst. Eine Stille ging von ihm aus wie Ringe im Wasser, das von einem Stein berührt wurde. Sein Schweigen war kein Nichtreden, es war ein Ding an sich, es war wie das Schweigen der Wüste.