Sie sprach in die Dunkelheit hinein: »Die kleine Insel, wo man dir den Talisman gab, liegt die hier in diesen Gewässern?«
»Ja«, seine Stimme kam aus dem Dunkel. »Hier irgendwo; südlich, glaube ich. Ich würde sie nicht wiederfinden.«
»Ich weiß, wer die alte Frau war, die dir den Ring gegeben hat.«
»Du weißt es?«
»Man hat mir die Geschichte erzählt. Es gehört zum Wissen der Ersten Priesterin. Thar hat sie mir erzählt, das erste Mal in Kossils Gegenwart, und später ausführlicher, als wir allein waren. Das war das letzte Mal, daß sie mit mir gesprochen hat vor ihrem Tode. Ein adliges Geschlecht in Hupun hatte sich gegen die immer mächtiger werdenden Priester in Awabad erhoben. Der Stammvater des Geschlechts war König Thoreg, und unter den Schätzen, die er seinen Nachfahren hinterließ, war der halbe Ring von Erreth-Akbe.«
»So heißt es auch in den Taten von Erreth-Akbe. Es heißt … in deiner Sprache: ›Und als der Ring zerbrochen ward, blieb eine Hälfte in des Priesters Intathins Hand, die andere in des Helden Hand. Und der Hohepriester sandte die zerbrochene Hälfte zu den Namenlosen. Zu den Urmächten der Erde in Atuan, und sie verschwand im Dunkel, an Orten, die Menschen längst vergessen haben. Doch Erreth-Akbe legte seine Hälfte in die Hand des Mägdleins Tiarath, der Tochter des weisen Königs, und sprach: ›Möge sie im Licht des Tages, im Brautschatz des Mägdleins bleiben, möge sie in diesem Land bleiben, bis der Ring wieder geheilt werden kann.‹ So sprach der Held, bevor er nach dem Westen segelte.
Dann wurde die Ringhälfte wahrscheinlich von Tochter zu Tochter weitergegeben, durch all die vielen Jahre. Und sie war nicht verloren, wie deine Landsleute gedacht haben. Aber als die Hohepriester Priesterkönige wurden, und als die Priesterkönige das Reich schufen und sich Gottkönige nannten, wurde das Haus Thoregs immer ärmer und schwächer. Und ganz am Ende, so hat mir Thar erzählt, blieben nur noch zwei Kinder übrig, ein Junge und ein Mädchen. Der Gottkönig in Awabad, der damals regierte, war der Vater des jetzigen Gottkönigs. Er ließ die Kinder aus ihrem Palast in Hupun rauben, denn es wurde ihm prophezeit, daß ein Nachfahre von Thoreg von Hupun schließlich doch das Reich zu Fall bringen würde. Und davor hatte er Angst. Er veranlaßte, daß die Kinder geraubt und auf einer einsamen Insel mitten im Meer ausgesetzt wurden, und er ließ ihnen nichts außer ihrer Kleidung und etwas Nahrung. Er hatte Angst, sie durch das Messer, oder durch den Strang, oder durch Gift umzubringen, denn ein Fluch liegt auf jedem, selbst auf einem Gott, der königliches Blut vergießt. Sie hießen Ensar und Anthil, und Anthil gab dir den zerbrochenen Ring.«
Er schwieg lange. »So schließt sich also auch die Geschichte«, sagte er dann, »wie sich der Ring geschlossen hat. Aber es ist eine grausame Gesichte, Tenar. Die kleinen Kinder, die kleine Insel, der alte Mann und die Frau, die ich sah … sie waren kaum noch der menschlichen Sprache mächtig.«
»Ich möchte dich um etwas bitten.«
»Bitte!«
»Ich möchte nicht in die Innenländer, nach Havnor. Ich gehöre nicht dorthin, in große Städte, unter fremde Menschen. Ich gehöre in kein Land. Ich habe mein eigenes Land verraten. Und ich habe etwas Furchtbares getan. Setz mich auf einer Insel aus, so wie die Kinder des Königs ausgesetzt wurden, auf einer einsamen Insel, wo es keine Leute gibt und wo keiner hinkommt. Laß mich dort und trag den Ring nach Havnor. Er gehört dir, nicht mir. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Auch deine Landsleute haben nichts mit mir zu tun. Laß mich allein.«
Langsam, ganz langsam erschien ein Licht wie ein kleiner Mondaufgang in der Dunkelheit. Bestürzt blickte sie auf. Das magische Licht war auf sein Geheiß erschienen. Es schwebte am Ende seines Stabes, den er hochhielt, als er sich am Bug des Bootes aufsetzte. Es beleuchtete den unteren Teil des Segels, den Dollbord, die Planken und übergoß sein Gesicht mit einem silbernen Licht. Er schaute ihr voll ins Gesicht.
»Was war das Furchtbare, das du getan hast, Tenar?«
»Ich habe angeordnet, daß drei Männer in einem Raum unter dem Thron eingeschlossen werden und verhungern sollten. Sie sind an Hunger und Durst gestorben. Als sie tot waren, wurden sie im Gewölbe begraben. Die Grabsteine fielen auf ihre Gräber.«
Sie sprach nicht weiter.
»Noch mehr?«
»Manan.«
»Dieser Tod liegt auf meiner Seele.«
»Nein. Er starb, weil er mich liebte und weil er treu war. Er glaubte, daß er mich schützen müsse. Er hatte das Schwert über meinen Hals gehalten. Als ich klein war, war er immer lieb zu mir — wenn ich weinte …« Sie verstummte, denn sie spürte, wie die Tränen wieder in ihr aufstiegen, und sie wollte nicht mehr weinen. Ihre Hände ballten sich in den schwarzen Falten ihres Kleides. »Ich war nie nett zu ihm«, sagte sie. »Ich werde nicht nach Havnor gehen. Ich werde nicht mit dir gehen. Such eine Insel, wo niemand hinkommt, setz mich dort ab und laß mich allein sein. Das Böse muß gesühnt werden. Ich bin nicht frei.«
Das sanfte Licht, durch den Nebel verschleiert, glomm zwischen ihnen.
»Hör mir zu, Tenar, hör mir gut zu! Du warst das Gefäß des Bösen. Das Böse ist ausgeleert. Es ist vorbei. Es ist in seinem eigenen Grab begraben. Du warst nie dazu bestimmt, grausam oder böse zu sein. Du warst bestimmt, das Licht zu halten, wie eine brennende Lampe Licht hält und spendet. Ich habe die Lampe gefunden, und sie war nicht angezündet. Ich werde sie nicht auf irgendeiner Wüsteninsel lassen, wie etwas, das man findet und wieder wegwirft. Ich nehme dich mit nach Havnor, und ich werde zu den Fürsten der Erdsee sagen: ›Schaut her! Anstelle der Dunkelheit habe ich das Licht gefunden, sie, ihre Seele. Durch sie wurde Böses zunichte gemacht; durch sie kam ich lebendig aus den Gräbern heraus; durch sie wurde, was zerbrochen war, wieder heil, und wo Haß loderte, wird Friede walten!«
»Ich will nicht gehen«, sagte Tenar gequält. »Ich kann nicht. Es ist nicht wahr, was du sagst!«
»Und danach«, fuhr er unbeirrt fort, »nehme ich dich weg von den Fürsten und reichen Adligen. Denn es stimmt, daß du dort nicht hingehörst. Du bist zu jung und zu weise. Ich nehme dich in mein Land mit, nach Gont, wo ich geboren bin, zu meinem früheren Meister Ogion. Er ist jetzt alt, ein sehr großer Magier und eine stille Seele. Er wird ›Der Schweigsame‹ genannt. Er wohnt in einem kleinen Haus hoch auf den Felsen bei Re Albi, weit über dem Meer. Er hat ein paar Ziegen und einen kleinen Garten. Im Herbst geht er ganz allein auf eine Wanderung über die Insel, durch die Wälder, hinauf in die Berge, durch Täler, entlang den Flüssen. Einmal habe ich dort bei ihm gewohnt, als ich noch jünger war als du. Ich blieb nicht lange, weil ich nicht vernünftig genug war, um zu bleiben. Ich verließ ihn, um das Böse zu suchen, und fand es dann wahrhaftig auch … Doch du entflohst dem Bösen und suchst die Freiheit, suchst die Stille, bis du dich selbst gefunden hast. Dort findest du Güte und Stille, Tenar. Dort kann die Lampe eine Weile geschützt vom Winde brennen. Wirst du dorthin mitkommen wollen?«
Der Nebel wogte grau zwischen ihren Gesichtern. Das Boot hob sich leicht auf den langgestreckten Wogen. Die Nacht umgab sie, und unter ihnen lag die unergründliche See.
»Ja, ich werde mitkommen«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Oh, ich wollte, es wäre gleich … daß wir dorthin gehen könnten …«
»Es wird nicht lange dauern, Kleines.«