Thar sprach zu ihr: »Es ziemt sich nicht, daß man dich mit anderen Mädchen herumrennen und -klettern sieht. Du bist Arha.«
Sie stand blaß und trotzig da und gab keine Antwort.
»Es ist besser, du tust nur das, was du tun mußt. Du bist Arha.«
Einen Augenblick lang hob das Mädchen die Augen auf und blickte Thar und Kossil an, und in dem Blick lag solch ein Haß und solch eine Wut, daß man davor erschrecken konnte. Doch die hagere Priesterin blieb davon unberührt, es bestärkte sie nur in ihrer Gewißheit. Sie neigte sich etwas nach vorne und flüsterte: »Du bist Arha. Nichts blieb zurück. Alles wurde verzehrt.«
»Alles wurde verzehrt«, wiederholte das Mädchen, wie es die Worte täglich wiederholt hatte, jeden Tag, seit es sechs Jahre alt war.
Thar neigte leicht den Kopf, und Kossil tat das gleiche, als sie die Rute weglegte. Das Mädchen verbeugte sich nicht, sondern drehte sich um und verließ den Raum.
Nach dem Essen, das aus Kartoffeln und neuen Zwiebeln bestand und in dem langen, schmalen, dunklen Refektorium schweigend eingenommen wurde, nach dem Singen der Abendhymne und nachdem die Türen mit heiligen Worten geweiht worden waren und das Ritual des Unaussprechlichen gefeiert worden war, nahm die Arbeit für diesen Tag ein Ende. Jetzt durften die Mädchen in den Schlafsaal hinaufgehen und sich mit Würfel- oder Stabspielen vergnügen, solange das einzige Licht aus Binsenrohr brannte. Danach konnten sie miteinander von Bett zu Bett flüstern. Arha machte sich — wie jeden Abend — auf und ging über die Höfe und Hänge der Stätte zum Kleinhaus, wo sie allein schlief.
Der Abendwind trug einen süßen Duft mit sich. Die Sterne des Frühlings waren dicht gesät, wie Margeriten auf einer Wiese. Aber das Mädchen konnte sich nicht mehr an Wiesen erinnern. Es blickte nicht auf.
»Hoppla, Kleines!«
»Manan«, sagte Arha gleichgültig.
Der mächtige Schatten gesellte sich ihr zu, das Sternenlicht glänzte auf seiner Glatze.
»Haben sie dich bestraft?«
»Ich kann nicht bestraft werden.«
»Nein … Das stimmt …«
»Sie können mich nicht bestrafen. Sie wagen es nicht.«
Er stand da, mit seinen großen plumpen Händen, die an den Seiten herunterhingen, enorm und undeutlich. Sie roch wilde Zwiebeln und den verschwitzten, mit Salbei gemischten Geruch seines alten, schwarzen Umhangs, der am Saum zerrissen und zu kurz für ihn war.
»Sie können mich nicht berühren. Ich bin Arha«, sagte sie mit schriller, heftiger Stimme und begann zu weinen.
Die großen, wartenden Hände kamen hoch und zogen sie zu ihm, und er hielt sie sachte und strich über ihre geflochtenen Haare. »Schon gut, schon gut, kleiner Honigkuchen, kleines Mädchen …« Sie hörte seine heisere Stimme, die tief aus seiner Brust kam, und sie hängte sich an ihn. Ihre Tränen versiegten bald, aber sie klammerte sich an Manan, als könne sie nicht allein stehen.
»Armes kleines Ding«, flüsterte der und hob sie hoch, trug sie zur Tür des Hauses, in dem sie allein schlief. Er stellte sie auf den Boden.
»Ist es wieder besser, Kleines?«
Sie nickte und wandte sich um und betrat das dunkle Haus.
3
DIE GEFANGENEN
Kossil kam gemessenen und schweren Schrittes den Gang des Kleinhauses herunter. Die große, massive Gestalt füllte den Türrahmen, schrumpfte etwas, als sich die Priesterin verneigte und mit einem Knie den Boden berührte, und schwoll dann wieder zu ihrem vollen Umfang an, als sie sich aufrichtete.
»Herrin!«
»Was ist los, Kossil?«
»Es ist mir gestattet, bisher gewissen Pflichten nachzukommen, die in den Aufgabenkreis der Namenlosen fallen. Es wäre jetzt an der Zeit, daß meine Herrin diese Dinge, an die sie sich in diesem Leben noch nicht wieder erinnert hat, lernt, sieht und in die Hand nimmt, wenn es ihr genehm ist.«
Arha saß in ihrem fensterlosen Zimmer, angeblich um zu meditieren, in Wirklichkeit aber tat sie nichts und dachte auch an fast nichts. Es dauerte eine Weile, bis sich der starre, hochmütige Ausdruck ihres Gesichtes änderte. Doch schließlich belebte er sich, obwohl sie sich bemühte, dies zu verbergen. Sie sagte, und ihre Stimme war lauernd: »Das Labyrinth?«
»Das Labyrinth werden wir nicht betreten. Aber das untere Grab müssen wir durchqueren.«
In Kossils Stimme lag Furcht, doch das konnte gespielt sein, um Arha Angst einzuflößen. Das Mädchen ließ sich Zeit mit dem Aufstehen, dann sagte sie gleichgültig: »Gehen wir!« Aber in ihrem Herzen frohlockte sie, während sie der schweren Gestalt der Priesterin folgte: Endlich! Endlich bekomme ich mein eigenstes Reich zu Gesicht!
Sie war fünfzehn Jahre alt. Es war nun schon mehr als ein Jahr her, seit man sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen hatte und ihr die Privilegien der Einen Priesterin der Gräber von Atuan übergeben hatte. Von allen Priesterinnen des Kargadreiches war sie die Höchste, selbst der Gottkönig durfte ihr nichts befehlen. Alle verneigten sich und ließen sich aufein Knie nieder vor ihr, selbst die strenge Thar und Kossil. Alle sprachen in gewählten Worten zu ihr. Aber sonst hatte sich nichts geändert. Nichts ereignete sich. Als das Zeremoniell ihrer Weihe vorbei war, flossen die Tage genauso dahin, wie sie bisher dahingeflossen waren. Wolle mußte gesponnen, schwarzes Tuch mußte gewebt werden, Getreide mußte gemahlen und Ritualhandlungen mußten vollzogen werden, jeden Abend wurden die Neun Gesänge gesungen, die Türen mußten mit geweihten Namen bedacht werden, zweimal im Jahr mußten die Steine mit Ziegenblut getränkt werden, und vor dem leeren Thron mußten die Tänze des dunklen Mondes getanzt werden. So war das Jahr verflossen, genau wie die Jahre zuvor, und würde sie so alle kommenden Jahre ihres Lebens verbringen?
Manchmal war ihre Langeweile so stark, daß sie wie von heimlichem Grauen erfaßt wurde. Es würgte sie in der Kehle. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es sie getrieben, darüber zu reden. Sie mußte einfach darüber reden, sie konnte nicht mehr schweigen, oder sie würde wahnsinnig werden. Sie sprach mit Manan darüber. Ihr Stolz verbot es ihr, sich den anderen Mädchen anzuvertrauen, und die Vorsicht gebot ihr, den alten Frauen nichts davon zu sagen, aber bei Manan riskierte sie nichts, er war eine treue, alte Seele, ihm konnte sie alles sagen, gleichgültig was. Überraschenderweise hatte er eine Antwort:
»Weißt du, Kleines«, sagte er, »vor langer Zeit, bevor unsere vier Länder ein Reich wurden, bevor es einen Gottkönig gab, der über uns alle herrscht, gab es eine große Anzahl kleinerer Könige, Prinzen und Häuptlinge. Die stritten sich laufend untereinander. Und dann kamen sie hierher, um ihre Streitereien zu schlichten. Ja, da ging es anders zu! Sie kamen von unserem eigenen Land, Atuan, von Karego-At, von Atnini, und selbst von Hur-at- Hur, die obersten Herrscher mit ihrem ganzen Hof, den Prinzen und Bediensteten, kamen. Und dann wollten sie wissen, was sie tun sollten. Und man begab sich dann vor den leeren Thron und fragte die Namenlose um Rat. Ja, ja, so war es vor langer Zeit gewesen! Dann aber kamen die Priesterkönige und die herrschten erst über ganz Karego-At und bald darauf über ganz Atuan, und jetzt sind schon vier oder fünf Generationen vergangen, seit die Gottkönige über alle vier Länder herrschen und ein Reich daraus geschmiedet haben. Damit hat sich alles geändert. Der Gottkönig kann jetzt alle streitsüchtigen Häuptlinge unterdrücken und alle Streitfragen selbst entscheiden, und da er selbst ein Gott ist, muß er die Namenlosen nicht oft um Rat fragen.«
Arha war nachdenklich geworden. Hier in der Wüste, unter den ewiggleichen Steinen, verlor die Zeit ihre Bedeutung, das Leben floß unverändert dahin, schon seit unvordenklichen Zeiten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß sich je etwas an diesem Leben ändern, daß das Alte absterben und etwas Neues an seine Stelle treten könnte. Es war nicht einfach, die Dinge in diesem neuen Licht zu betrachten. »Die Macht des Gottkönigs ist viel geringer als die Macht derjenigen, denen ich diene«, sagte sie mit gerunzelter Stirn.