Sie wußte aus Erfahrung, daß es nutzlos war, zu versuchen, an geheiligten Stellen eine Tür zu öffnen, bevor man nicht genau wußte, wie sie geöffnet werden kann.
»Meine Herrin hat alle Schlüssel zu den dunklen Orten.«
Nachdem sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen worden war, hatte man ihr einen Schlüsselring gegeben, an dem ein kleiner Dolch und dreizehn Schlüssel hingen, manche groß und schwer, andere so klein wie Angelhaken. Diese hob sie nun hoch und breitete sie aus. »Der da«, sagte Kossil und deutete auf einen Schlüssel. Dann steckte sie ihren plumpen Zeigefinger in eine Spalte zwischen den beiden roten ausgehöhlten Felsen.
Der Schlüssel war lang und rund, mit zwei reichverzierten Bärten, und paßte in die Spalte. Arha packte ihn mit beiden Händen und drehte ihn nach links. Es ging schwer, und er bewegte sich langsam, doch er drehte sich ohne zu stocken.
»Und jetzt?«
»Miteinander …«
Gemeinsam drückten sie das rauhe Gestein links neben dem Schlüsselloch nach innen. Schwerfällig, doch lautlos und ohne hängenzubleiben, glitt ein ungleichmäßiges rotes Felsstück nach innen, bis ein schmaler Spalt sichtbar wurde. Innen war alles pechrabenschwarz.
Arha beugte sich nieder und trat ein.
Kossil, die beleibt und dazu noch dick angezogen war, hatte Mühe, sich durch den engen Spalt zu zwängen. Sobald sie drinnen war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, nahm ihre Kraft zusammen und stemmte sich gegen das Felsstück, bis es sich hinter ihr schloß.
Es war völlig finster. Kein Lichtschimmer fiel in die Dunkelheit, die sich wie nasser Filz über die Augen legte.
Sie mußten sich tief beugen, denn dort, wo sie standen, war es nicht viel höher als ein Meter und sehr eng, Arha konnte den feuchten Fels links und rechts neben sich fühlen.
»Haben Sie ein Licht mitgebracht?« Arha flüsterte, wie man es oft in der Dunkelheit tut.
»Nein, ich habe kein Licht mitgebracht«, antwortete Kossil hinter ihr. Auch Kossil sprach leise, doch in ihrer Stimme lag ein fremder Ton, als lächle sie. Und Kossil lächelte nie. Arhas Herz begann laut zu schlagen; das Blut pulsierte in ihrem Hals. Sie redete sich inständig zu: Dies ist mein Besitz, hierher gehöre ich, ich will mich nicht fürchten!
Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie begann sich langsam vorwärts zu bewegen, es gab keinen anderen Weg. Er führte in den Hügel hinein und hinab.
Hinter ihr kam die schweratmende Kossil, man hörte, wie sich ihre Kleidung an den Felsen und an der Erde wetzte.
Plötzlich wurde der Gang höher. Arha konnte aufrecht stehen, und als sie ihre Hände ausstreckte, fühlte sie keine Wände mehr. Die feuchte Luft, die sie bedrückt hatte und nach Erde roch, war kühler hier, und schwache Strömungen ließen vermuten, daß sich vor ihnen eine große Höhlung auftat. Arha machte ein paar vorsichtige Schritte in die pechrabenschwarze Dunkelheit hinein. Ein Kiesel, von ihrer Sandale angestoßen, geriet in Bewegung, berührte einen anderen Kiesel, und das schwache Geräusch rief ein Echo hervor, das immer leiser, immer entfernter nachklang. Die Höhle mußte riesengroß, hoch und weit sein, doch sie war nicht leer: irgend etwas in der Dunkelheit, unsichtbare Flächen oder Wände, zersplitterten das Echo in tausend Fragmente.
»Wir müssen uns hier unter den Steinen befinden«, flüsterte Arha, und ihr Flüstern wurde von der hohlen Schwärze aufgenommen und in dünne Fäden aufgelöst, in Töne so fein wie Spinnweben, die noch lange im Gehör haften blieben.
»Ja, jetzt befinden wir uns im unteren Grab. Weitergehen! Ich kann hier nicht stehenbleiben. An der linken Wand entlang gehen! An drei Öffnungen vorbei!«
Kossils Flüstern war zischelnd, und die tausend kleinen Echos zischelten hinter ihren Worten her. Sie hatte Angst, man spürte, wie die Angst sie packte. Es behagte ihr nicht, hier unter den Namenlosen zu sein, in ihren Gräbern, in ihren Höhlen, in dieser Dunkelheit! Ihr Platz war nicht hier, sie gehörte nicht hierher.
»Das nächste Mal werde ich eine Fackel mitbringen«, sagte Arha, während sie sich an der Wand entlang tastete und sich über die seltsamen Formen im Fels wunderte, über die Vertiefungen und Erhöhungen, über die feinen Wölbungen und Kurven, über Kanten, die so uneben wie Spitzen, und andere, die so glatt wie Messing waren: es mußte sich um Reliefs handeln, anders war das nicht zu erklären. Vielleicht war das ganze Riesengewölbe das Werk von Bildhauern einer vergangenen Epoche?
»Es ist nicht gestattet, Licht hierherzubringen«, flüsterte Kossil scharf. Noch während sie sprach, wußte Arha, daß sie recht hatte. Hier war die Stätte der Dunkelheit, hier befanden sie sich im innersten Zentrum der Nacht.
Dreimal war Arha an einer Öffnung in dieser verwirrenden, felsigen Schwärze vorbeigekommen. Das vierte Mal tastete sie Höhe und Breite der Öffnung ab und trat ein. Kossil folgte.
In dem Gang, den sie sich jetzt entlangbewegten, kamen sie an einer Öffnung linkerhand vorbei und folgten, als der Gang sich gabelte, der rechten Abzweigung. Blind tasteten sie sich auf diesem unterirdischen Weg durch die absolute Stille der Erde. Bei solch einem Unternehmen muß man ununterbrochen sowohl nach links als auch nach rechts greifen, damit man an keiner der zu zählenden Öffnungen vorbeigeht oder eine Gabelung verfehlt. Durch Tasten leitet man sich vorwärts, der Weg ist unsichtbar, man hält ihn in der Hand. »Ist das hier das Labyrinth?«
»Nein, das sind nur die Irrgänge unter dem Thron.«
»Wo ist der Eingang zum Labyrinth?« Arha begann an diesem Spiel im Dunkeln Gefallen zu finden. Sie suchte nach einer schwierigeren Aufgabe.
»Es ist die zweite Öffnung im unteren Grab. Meine Herrin muß jetzt nach einer Holztür rechts suchen, vielleicht haben wir sie bereits verpaßt …«
Arha hörte, wie Kossil mühsam an der Wand entlangtappte, wie sie sich am Fels stieß. Sie, Arha, berührte den Fels nur leicht mit ihren Fingerspitzen. Kurz darauf fühlte sie glattes Holz. Sie drückte ein wenig, es quietschte etwas, und eine Tür drehte sich leicht in den Angeln und öffnete sich. Sie stand geblendet vom Licht und sah einen Augenblick lang überhaupt nichts.
Sie betraten einen großen niederen Raum, mit Wänden aus zugehauenen Steinen, beleuchtet von einer rauchenden Fackel, die an einer Kette hing. Der Rauch hatte keinen Abzug und füllte den Raum mit beißendem Geruch. Arhas Augen brannten und tränten.
»Wo sind die Gefangenen?«
»Dort.«
Es dauerte eine Weile, bis sie etwas unterscheiden konnte und wahrnahm, daß die drei unordentlichen Haufen am anderen Ende des Raumes Männer waren.
»Die Tür ist nicht verschlossen. Ist kein Posten hier?«
»Es ist keiner nötig.«
Sie ging zögernden Schrittes etwas weiter vor und versuchte, den rauchenden Dunst mit ihren Blicken zu durchbohren. Die Gefangenen waren an beiden Fußgelenken und an einem Handgelenk mit Ketten an großen Eisenringen an der Wand befestigt. Wollte sich einer von ihnen niederlegen, so blieb sein Arm, an dem sich die Kette befand, oben hängen. Ihr Haar und ihre Bärte waren so verfilzt, daß man in deren Schatten ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Einer lag halb am Boden, die anderen beiden saßen und hockten. Sie waren nackt. Der Geruch, der von ihnen ausging, war widerlicher als der Gestank, der vom Rauch herrührte.
Einer von ihnen schien Arha zu mustern, sie glaubte, Augen wahrzunehmen, aber sie war sich nicht sicher. Die beiden anderen rührten sich nicht und hoben ihre Köpfe nicht hoch.
Sie wandte sich ab. »Das sind keine Menschen mehr«, sagte sie.
»Das waren noch nie Menschen. Das waren Dämonen, tierische Wesen, die sich gegen die geweihte Person des Gottkönigs verschworen haben!« Kossils Augen schienen mit dem roten Fackellicht um die Wette zu funkeln.
Arha blickte wieder auf die Gefangenen, sprachlos und neugierig zugleich. »Wie können sie es wagen, einen Gott anzugreifen? Wie können sie das tun? Du da — wie kannst du es wagen, einen lebenden Gott anzugreifen?«