„Und das wäre?"
„Warum Sie mich haben kommen lassen. Ich möchte ihn natürlich gern sehen. Aber Sie sagten doch selber, es wäre besser, es zu unterlassen, da ich ihn stören oder ablenken und sein Schaffen beeinträchtigen oder gar zum Stillstand bringen könnte. Bei dem Tempo, in dem er jetzt schreibt, kann er in drei Wochen mit dem Buche fertig sein, und so ungern ich noch länger warte, wäre es unter diesen Umständen nicht ratsamer? Man weiß ja nicht, ob er nicht wieder — und dann hätte er wenigstens dieses Buch fertig."
Dr. Snyder lächelte kläglich. Er sagte: „Ich fürchte nur, mir wurde keine andere Wahl gelassen, Mrs. Devereaux. Luke streikt."
„Er streikt?"
„Ja, heute früh erklärte er mir, daß er keine Zeile mehr schreiben würde, falls ich Sie nicht anriefe und herbäte. Und er meinte es auch."
„Dann hat er also den ganzen heutigen Tag eingebüßt?"
„Nein, nein. Nur eine halbe Stunde — solange hat es gedauert, bis ich Sie erreichte. Er nahm die Arbeit in dem Augenblick wieder auf, als ich ihm mitteilen konnte, daß Sie heute Abend kommen würden. Er hat sich darauf verlassen."
„Das freut mich. Noch irgendwelche Instruktionen, Herr Doktor, ehe ich jetzt zu ihm hinaufgehe?"
„Lassen Sie sich auf keine Auseinandersetzung mit ihm ein, besonders nicht über seine fixe Idee. Wenn Martier auftauchen, so denken Sie daran, daß er sie weder sehen noch hören kann. Und daß das echt ist, nicht nur gespielt."
„Und sie natürlich selber auch ignoriere. Aber Sie wissen genau, Herr Doktor, daß das nicht immer möglich ist, beispielsweise, wenn einem ein Martier völlig unvermutet etwas ins Ohr schreit —"
„Luke weiß, daß andere Leute noch immer Martier sehen. Es wird ihn nicht weiter überraschen, wenn Sie plötzlich zusammenschrecken. Oder ihn bitten müssen, etwas gerade Gesagtes zu wiederholen, weil ein Martier lauter geschrien als er gesprochen hat — das heißt, daß Sie sich einbildeten, es wäre ein Martier."
„Aber wie ist das, Herr Doktor, wenn ein Martier Krach machen sollte, während ich mich mit Luke unter-halte — selbst wenn sein Unterbewußtsein ihn den Martier nicht hören läßt — kann er mich dann trotzdem hören oder nicht?"
„Er kann. Ich habe das nachgeprüft. Er kann einen deutlich hören, selbst wenn man im Flüsterton spricht und ein Martier daneben sitzt und kreischt. Es ist ähnlich wie mit Leuten, die in einer Kesselschmiede oder anderen geräuschvollen Betrieben arbeiten. Nur daß es bei ihnen auf Gewohnheit und weniger auf hysterischer Taubheit beruht, daß sie eine normale Unterhaltung über oder vielmehr unter dem Geräuschniveau führen können."
„Verstehe. Ja, jetzt begreife ich, wieso er trotz störender Einflüsse hören kann. Aber wie ist es mit dem Sehen? Martier sind undurchsichtig, meine ich, und es will mir nicht einleuchten, wie selbst jemand, der nicht an sie glaubt, durch sie h i n d u r c h schauen kann. Gesetzt, es drängte sich einer zwischen ihn und mich, wenn er mich ansieht. Ich verstehe, daß er sich ihm wahrscheinlich nicht als ein Martier darstellen würde — als etwas Verschwommenes vielleicht — aber er könnte auf keinen Fall hindurch schauen und müßte wissen, daß etwas da ist."
„Er blickt weg. Der übliche Abwehrmechanismus spezialisierter hysterischer Blindheit. Und seine Blindheit ist natürlich spezialisiert, da er nur Martiern gegen-über blind ist. Sehen Sie, zwischen seinem Bewußtsein und seinem Unterbewußtsein besteht eine Dichotomie, und sein Unterbewußtsein spielt seinem Bewußtsein gleichsam einen Streich, indem es ihn veranlaßt, sich lieber abzuwenden oder sogar die Augen zu schließen, als herauszufinden, daß sich in seinem Blickfeld etwas befindet, durch das er nicht hindurchschauen kann."
„Aber was glaubt er, warum er sich abwendet oder die Augen zumacht?"
„Irgendwie liefert ihm sein Unterbewußtsein auch dafür einen Vorwand. Beobachten Sie ihn nur einmal, wenn Martier in der Nähe sind, besonders wenn ein Martier in sein Blickfeld gerät."
Snyder seufzte. „In den ersten Tagen seines Hierseins habe ich das alles sorgfältig geprüft. Ich habe mich häufig in seinem Zimmer aufgehalten und mich mit ihm unterhalten oder gelesen, wenn er arbeitete, manchmal auch nur so getan, als läse ich. Während er tippte, geriet mehrmals ein Martier zwischen ihn und die Schreibmaschine. Und jedesmal verschränkte er die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und starrte hinauf nach der Decke —"
„Das tut er immer, wenn er schreibt und innehält, um nachzudenken."
„Richtig. Aber in diesen Fällen unterbrach sein Unterbewußtsein seinen Gedankenfluß und z w a n g ihn dazu, weil er sonst auf seine Schreibmaschine geschaut hätte und nicht imstande gewesen wäre, sie zu sehen. Wenn wir uns unterhielten und ein Martier kam zwischen uns, stand er unter irgendeinem Vorwand auf. Einmal saß ein Martier auf seinem Kopf, ließ die Beine vor seinem Gesicht herunterhängen und versperrte ihm die Aussicht vollkommen. Er machte einfach die Augen zu, nehme ich jedenfalls an, da auch ich nicht durch die Beine des Martiers hindurchschauen konnte — weil er bemerkte, die Augen täten ihm weh und sich entschuldigte, daß er sie zumache. Sein Unterbewußtsein gestattete ihm die Erkenntnis einfach nicht, daß da etwas war, durch das er nicht hindurchschauen konnte."
„Langsam fange ich an zu begreifen, Herr Doktor. Und wenn man eine solche Gelegenheit wahrnähme und ihm zu beweisen suchte, daß es tatsächlich Martier gibt — wenn man ihm erklärte, daß einer mit den Beinen vor seinen Augen herumbaumelte und ihn aufforderte, die Augen zu öffnen und einem zu sagen, wieviele Finger man hochhielte oder irgendetwas — so würde er sich wahrscheinlich weigern, die Augen aufzumachen und vernunftgemäß zu handeln."
„Ja. Ich sehe, Sie haben Erfahrungen mit Paranoikern gehabt, Mrs. Devereaux. Wie lange arbeiten Sie schon als Schwester in der Landesheilanstalt, wenn ich fragen darf?"
„Im Ganzen fast sechs Jahre. Fünf Jahre vor unserer Heirat und jetzt seit zehn Monaten wieder — seit der Trennung von Luke —"
„Würden Sie mir — als Arzt selbstverständlich — den Grund für das Zerwürfnis zwischen Ihnen nennen?"
„Gern, Herr Doktor — aber könnten wir nicht ein andermal darüber sprechen? Es läßt sich nicht einfach auf einen Nenner bringen, weil es eine Menge Kleinigkeiten waren, und es würde eine ganze Weile dauern, Ihnen das auseinander zu setzen, besonders wenn ich uns beiden gegenüber gerecht sein wollte."
„Natürlich." Dr. Snyder warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Du lieber Himmel! Ich hatte keine Ahnung, daß ich Sie solange aufgehalten habe. Luke wird schon ungeduldig sein. Aber ehe Sie zu ihm hinaufgehen, möchte ich noch eine einzige sehr persönliche Frage an Sie richten."
„Ja?"
„Wir sind sehr knapp an Pflegepersonal. Würden Sie unter Umständen Ihre Stellung in der Landesheilanstalt aufgeben und herkommen und für mich arbeiten?"
Margie lachte.
„Was ist daran so persönlich?" fragte sie.
„Der Beweggrund. Luke hat entdeckt, daß er Sie sehr liebt und daß es ein großer Fehler von ihm war, Sie gehen zu lassen. Und aus Ihrer — ah — Sorge und Anteilnahme schließe ich, daß Sie genau so empfinden."
„Ich — ich bin mir nicht ganz sicher, Doktor. Ich spüre Anteilnahme, ja, und Zuneigung. Und habe eingesehen, daß ich zum mindesten teilweise an unserem Zerwürfnis schuld bin. Ich selber bin so — so verdammt normal, daß ich nicht genügend Verständnis für seine psychischen Probleme als Schriftsteller aufgebracht habe. Aber ob ich ihn wieder lieben kann — ich muß abwarten, bis ich ihn wiedergesehen habe."
„Gut. Sollten Sie sich entschließen, hier zu arbeiten und zu wohnen — sein Nebenzimmer hat eine Verbindungstür. Normalerweise ist sie natürlich verschlossen, aber —"
Wieder lächelte Margie. „Ich sage Ihnen Bescheid, ehe ich gehe, Doktor. Und sollte ich mich in Ihrem Sinne entschließen, so kann ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung mitteilen, daß auch dann niemand behaupten könnte, Sie duldeten ein illegales Verhältnis. Formell sind wir noch verheiratet. Ich kann die Scheidungsklage jederzeit zurückziehen; das endgültige Urteil wird erst in drei Monaten gefällt. "