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Dr. Snyders Abhandlung begann:

„Ich glaube, daß die größte psychologische Schwäche der Martier, ihre Achillesferse, in der Tatsache liegt, daß ihnen die Unfähigkeit zu lügen angeboren ist. Ich bin mir durchaus bewußt, daß dieser Punkt bereits hervorgehoben und erörtert worden ist, und ich bin mir bewußt, daß viele — insbesondere unsere russischen Kollegen — fest daran glauben, daß Martier lügen können und lügen, und daß zwei Gründe dafür ausschlaggebend sind, daß sie die Wahrheit über unsere eigenen Affären sagen und noch nie bei einer nachweisbaren Lüge über irdische Angelegenheiten ertappt worden sind. Erstens belästigen sie uns mit ihrem Geschwätz dadurch stärker, weil wir nicht bezweifeln können, was sie uns sagen. Zweitens wollen sie uns dadurch, daß sie in Kleinigkeiten nie nachweisbar unaufrichtig sind, zur unbesehenen Hinnahme der Großen Lüge über ihr Wesen und ihren Zweck verführen. Der Gedanke, daß es eine Große Lüge geben muß, müßte unseren russischen Freunden eigentlich einleuchtender erscheinen als den meisten anderen Leuten. Da sie solange mit ihrer eigenen Großen Lüge gelebt haben ..." Dr. Snyder hörte auf zu tippen, überlas den letzten Satz noch einmal und xte ihn aus. Er hoffte, daß die betreffende Abhandlung internationale Verbreitung finden würde, warum sollte er also einige seiner Leser von vornherein mit einem Vorurteil gegen das, was er zu sagen gedachte, erfüllen.

„Ich glaube jedoch, daß der Nachweis dafür, daß die Martier nicht nur nicht lügen, sondern überhaupt nicht lügen können, durch ein einziges logisches Argument zu führen ist. Es ist offensichtlich ihre Absicht, uns nach Möglichkeit zu plagen und zu beunruhigen.

Dennoch haben sie eine Behauptung nie aufgestellt und die eine Feststellung, die unser Elend über das erträgliche Maß hinaus steigern würde, nie getroffen; sie haben uns nie erklärt, daß sie für immer hier zu bleiben beabsichtigten. Seit ihrer Ankunft lautet die Antwort, sofern sie überhaupt zu antworten geruhen, auf die Frage, wann sie heimzukehren oder wie lange sie zu bleiben gedächten, wörtlich oder dem Sinne nach, daß uns das ,nichts anginge'. Hoffnung ist das einzige, was ein Überleben für die meisten von uns als wünschenswert erscheinen läßt, die Hoffnung darauf, daß die Martier eines Tages, ob schon morgen oder erst in zehn Jahren, verschwinden und wir sie nie wiedersehen werden. Die bloße Tatsache, daß ihr Kommen so plötzlich und unerwartet erfolgte, läßt die Möglichkeit offen, daß sie ebenso plötzlich und unerwartet verschwinden werden. Wenn die Martier lügen könnten, so ist es unmöglich, zu glauben, daß sie uns nicht sagen würden, sie beabsichtigten, ihren ständigen Wohnsitz unter uns zu nehmen. Deshalb können sie nicht lügen. Und aus dieser einfachen Logik ergibt sich der willkommene Folgesatz, daß, wie sie offensichtlich wissen, ihr hiesiger Aufenthalt nicht von Dauer ist. Wäre er es, so brauchten sie nicht zu lügen, um uns noch tiefer in Ungl —" Ganz dicht an Dr. Snyders rechtem Ohr erklang ein schrilles Auflachen. Er fuhr zusammen, drehte sich aber nicht um, da er wußte, daß ihm sonst das Gesicht des Martiers unerträglich nahe kommen würde.

„Sehr schlau, Mack, sehr gelehrt. Und gewunden wie eine Wendeltreppe."

„Es ist völlig logisch", sagte Dr. Snyder. „Es ist absolut bewiesen. Ihr könnt nicht lügen."

„Ich kann", sagte der Martier. „Vielleicht bringst du das einmal mit deiner Logik in Einklang, Mack."

Dr. Snyder versuchte, es mit seiner Logik in Einklang zu bringen und stöhnte. Wenn ein Martier behauptete, er könnte lügen, dann sagte er entweder die Wahrheit, oder er log wirklich und —

Wieder ein schrilles Auflachen dicht an seinem Ohr.

Und dann Stille, in welcher Dr. Snyder den Bogen aus der Maschine spannte und in kleine Fetzen zerriß. Er warf sie in den Papierkorb und vergrub danach den Kopf in seinen Händen.

„Dr. Snyder, ist Ihnen nicht wohl?" erklang Margies Stimme.

„Es ist weiter nichts, Margie." Er blickte auf und versuchte, gefaßt auszusehen; mit Erfolg, wie es schien, da sie ihm nichts anmerkte.

„Mir taten die Augen weh", erklärte er. „Ich habe sie nur einen Augenblick ausgeruht."

„Oh. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich das Manuskript eingesteckt habe. Dabei ist es erst vier Uhr. Ist wirklich nichts mehr zu erledigen, ehe ich Feierabend mache?"

„Nein. Doch, ja. Sie könnten George Bescheid sagen, daß er das Schloß an Lukes Tür auswechseln soll. Ich meine, daß er ein gewöhnliches anbringen soll."

„Gut. Sind Sie fertig mit Ihrer Abhandlung?"

„Ja", sagte er. „Ich bin fertig mit meiner Abhandlung."

„Freut mich. Dann gehe ich jetzt und sehe zu, daß ich George finde." Er hörte das Klappern ihrer Absätze auf den Stufen, die zur Hausmeisterwohnung im Souterrain führten.

Er erhob sich, fast ohne Kraftanstrengung. Er fühlte sich furchtbar müde, furchtbar entmutigt, furchtbar leer. Er brauchte Ruhe, Schlaf. Wenn er sich hinlegte und das Abendessen oder die Zellenversammlung verschlief, so spielte das keine Rolle. Er brauchte Schlaf dringender als Essen oder nichtige Argumente mit Kollegen.

Er schleppte sich mühsam die läuferbelegte Treppe zum zweiten Stock hinauf.

Blieb vor Lukes Tür stehen und starrte darauf. Ein Schwein hat der Kerl, dachte er. Sitzt da drin und denkt nach oder liest. Und merkt nicht einmal etwas davon, falls Martier in der Nähe sein sollten. Unfähig sie zu sehen oder zu hören.

Vollkommen glücklich, vollkommen ausgeglichen. Wer war eigentlich verrückt, Luke oder alle anderen?

Und obendrein hatte er noch Margie.

Zum Teufel mit ihm! Man sollte ihn den Wölfen vorwerfen, den anderen Psychiatern, und sie mit ihm herumexperimentieren lassen; entweder würden sie ihn heilen und ihn genau so elend machen, wie es alle anderen Leute waren, oder ihn völlig in den Irrsinn treiben.

Er begab sich in das Zimmer, das er benützte, wenn er keine Lust hatte, heim nach Signal Hill zu gehen, und schloß die Tür. Nahm den Hörer ab und rief seine Frau an.

„Ich werde heute Abend wahrscheinlich nicht nach Hause kommen, Liebling", sagte er. „Nur damit du Bescheid weißt und dich mit dem Essen einrichtest."

„Ist etwas passiert, Ellicott?"

„Ich bin nur furchtbar abgespannt und möchte mich ein Weilchen hinlegen, und wenn ich durchschlafe — ich brauche dringend Schlaf, das ist alles."

„Du hast doch aber Versammlung heute Abend."

„Die laß ich wahrscheinlich auch ausfallen. Sollte ich hingehen, komme ich anschließend nach Hause."

„Schön, Ellicott. Hier haben sich die Martier wieder ungewöhnlich schlimm benommen. Weißt du, was zwei von ihnen —"

„Bitte, Liebling. Ich möchte kein Wort über Martier hören. Erzähl es mir ein andermal, bitte. Wiedersehn, Liebling."

Er legte den Hörer auf und erblickte ein gequältes Gesicht im Spiegel, sein eigenes Gesicht. Ja, er brauchte dringend Schlaf. Er nahm den Hörer noch einmal ab und rief die Empfangsdame an, die gleichzeitig den Klappenschrank bediente und Buch führte.

„Doris? Ich möchte unter keinen Umständen gestört werden. Sagen Sie, ich sei außer Hause, wenn jemand nach mir fragt."

„Gut, Doktor. Für wie lange?"

„Bis ich mich wieder melde. Und wenn das nicht geschieht, bis Sie abgelöst werden und Estelle kommt, so sagen Sie ihr bitte Bescheid, ja? Danke."

Wieder erblickte er sein Gesicht im Spiegel. Sah, daß seine Augen eingefallen waren und daß mindestens doppelt soviel Grau in seinem Haar war wie vor vier Monaten.

Martier können also nicht lügen, wie? fragte er sich stillschweigend.