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Nahezu vollkommen? fragte er sich. Und merkte plötzlich, daß er dieser Frage in Gedanken auswich. Wenn es unvollkommen war, so w o l l t e er nicht wissen warum.

Aber warum wollte er es nicht wissen? Damit hatte er die eigentliche Frage bereits umgangen, war aber immer noch leicht beunruhigt.

Ich mache mir Gedanken, dachte er. Und er sollte sich keine Gedanken machen, weil Denken alles verderben konnte. Vielleicht hatte er auch nur deswegen so intensiv gearbeitet, um nicht nachdenken zu müssen.

Nicht nachdenken zu müssen worüber? Wieder wich er in Gedanken aus.

Und dann war er plötzlich aus dem Halbschlaf heraus und hell wach, und es fiel ihm ein.

Die Martier.

Schau der Tatsache ins Auge, der du auszuweichen versucht hast, der Tatsache, daß alle anderen Leute sie noch sehen und du nicht. Daß du wahnsinnig bist — und du weißt, daß das nicht der Fall ist — oder daß alle anderen Leute verrückt sind.

Beides ist sinnlos und dennoch muß das eine oder das andere wahr sein, und seit du deinen letzten Martier vor reichlich fünf Wochen gesehen hast, bist du der entscheidenden Frage ausgewichen und hast sie aus deinen Gedanken verdrängt — weil das Nachdenken über eine solch gräßliche Paradoxie dich wieder in den früheren Irrsinn treiben könnte und du wieder anfangen würdest —

Angsterfüllt öffnete er die Augen und blickte sich im Zimmer um.

Keine Martier. Natürlich nicht; es gab gar keine Mar-tier. Er wußte nicht, wie er sich dessen so völlig sicher sein konnte, aber er war sich dessen nun einmal völlig sicher.

Genau wie darüber, daß er jetzt geistig gesund war.

Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf Margie. Sie schlief noch friedlich, ihr Gesicht war unschuldig wie das eines Kindes, ihr aufgelöstes blondes Haar fiel über das Kissen, schön noch bei aller Unordnung. Die Bettdecke war verrutscht und gab die zarte rosige Warze einer weich gerundeten Brust frei, und Luke richtete sich auf einem Ellenbogen auf, lehnte sich hinüber und küßte sie, sehr sanft, um Margie nicht zu wecken. Der schwache Lichtschein, der durch das Fenster drang, verriet ihm, daß es noch sehr früh sein mußte, kaum erst Morgen. Und auch, um in sich selber nicht erst das Verlangen danach zu erwecken, da der vergangene Monat ihn gelehrt hatte, daß Margie bei Tageslicht nicht mit ihm zusammen sein mochte, nur nachts und obendrein noch mit verstopften Ohren, so daß er nicht mit ihr sprechen konnte. Diese verfluchten Martier! Es hatte nur das eine Gute, daß dies ihre zweiten Flitterwochen waren, nicht die ersten, und er war schließlich siebenunddreißig und frühmorgens nicht mehr allzu begierig darauf.

Er streckte sich aus und schloß noch einmal die Augen, aber er wußte bereits, daß er nicht mehr einschlafen würde.

Und er fand auch wirklich keinen Schlaf mehr. Von Minute zu Minute wurde er munterer, und nachdem er noch eine Weile gelegen hatte, kroch er vorsichtig aus dem Bett und schlüpfte in seine Kleider. Es war zwar erst etwas nach halb sieben, aber er konnte ja Spazierengehen, bis es spät genug war. Und Margie sollte ruhig soviel schlafen, wie sie konnte.

Er nahm seine Schuhe in die Hand und schlich auf Zehenspitzen hinaus, machte die Tür leise hinter sich zu und setzte sich auf die oberste Treppenstufe, um die Schuhe anzuziehen.

Keine von den Außentüren des Sanatoriums wurde je verschlossen; Patienten, die sich überhaupt nicht frei bewegen durften — weniger als die Hälfte von ihnen — waren, solange sie nicht unter Aufsicht standen, in Privatzimmern untergebracht. Luke ging durch eine Nebentür hinaus.

Draußen war es klar und hell, aber fast zu kühl. Selbst Anfang August kann es in Südkalifornien frühmorgens fast kalt sein, so wie an diesem Tage, und Luke fröstelte ein wenig und wünschte, er hätte einen Pullover unter sein Jackett gezogen. Aber die Sonne stand schon ziemlich hoch, und es würde nicht lange so kühl bleiben. Wenn er rasch ausschritt, würde ihm bald warm werden.

Er ging mit raschen Schritten bis an den Zaun und lief daran entlang. Der Zaun bestand aus Rotholz und war einen Meter achtzig hoch. Es war kein Stacheldraht oben entlang gezogen, und jeder einigermaßen gelenkige Mensch, einschließlich Luke, hätte darüber hinwegklettern können; der Zaun diente mehr der privaten Abgeschlossenheit, als daß er ein Hindernis darstellte.

Für einen Augenblick war Luke in Versuchung, darüber hinwegzuklettern und sich für eine Weile in aller Freiheit zu bewegen, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Wenn man ihn sah, entweder beim Hinüberklettern oder beim Zurückkommen, so machte sich Dr. Snyder vielleicht ernsthafte Sorgen und legte ihm wieder Beschränkungen auf. Dr. Snyder neigte dazu, sich Sorgen zu machen. Und außerdem war das Gelände ziemlich groß und bot genügend Auslaufmöglichkeiten.

Er ging weiter, immer am Zaun entlang. Bis zur ersten Ecke, wo er umdrehte.

Plötzlich sah er, daß er nicht allein, nicht der einzige Frühaufsteher war. Ein kleiner Mann mit einem großen schwarzen Spitzbart saß auf einer von den grünen Bänken, die hier und dort aufgestellt waren. Er trug eine goldumrandete Brille und war mit äußerster Sorgfalt gekleidet, bis herunter zu den blank geputzten Schuhen und den hellgrauen Gamaschen. Luke betrachtete die Gamaschen neugierig; er hatte nicht gewußt, daß man noch welche trug. Der Spitzbart hatte den Kopf gehoben und starrte wie gebannt über Lukes Schulter in den Himmel.

„Schöner Morgen", sagte Luke. Da er einmal stehengeblieben war, wäre es unhöflich gewesen, nichts zu sagen.

Der Bärtige gab keine Antwort. Luke wandte den Kopf, warf einen Blick über die eigene Schulter und stellte fest, daß er in einen Baum hinaufschaute. Aber er entdeckte dort nichts Außergewöhnliches, nur Blätter und Zweige. Kein Vogelnest, nicht einmal einen Vogel.

Luke drehte sich wieder um. Der Bärtige starrte noch immer in den Baum, hatte Luke noch immer keines Blickes gewürdigt. War der Mann taub? Oder — ?

„Verzeihung", sagte Luke. Ein furchtbarer Verdacht kam ihm, als auch darauf keine Antwort erfolgte. Er trat einen Schritt vor und berührte den Mann leicht an der Schulter. Die Schulter zuckte leicht. Der Bärtige hob die Hand und kratzte sich an der Stelle, wo Luke ihn berührt hatte, verwandte jedoch keinen Blick.

Was würde er wohl tun, wenn ich zum Schlage ausholte, fragte sich Luke. Doch statt dessen streckte er die Hand aus und bewegte sie vor den Augen des Mannes hin und her. Der Mann blinzelte, nahm dann seine Brille ab, rieb sich zuerst das ein Auge, dann das andere, setzte die Brille wieder auf und starrte erneut in den Baum.

Luke spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief und ging weiter.

Mein Gott! dachte er; er kann mich nicht sehen, nicht hören, er glaubt nicht, daß ich vorhanden bin. Genau wie i c h nicht glaube —

Aber verdammt nochmal, als ich ihn angefaßt habe, hat er es doch gespürt, nur —

Hysterische Blindheit: Dr. Snyder hat mir den Vorgang einmal erklärt, als ich ihn fragte, warum ich an Stelle von Martiern, die doch angeblich wirklich da sind, nicht wenigstens weiße, undurchsichtige Flecken sähe.

Und er hat mir erklärt, daß ich —

Genau wie jener Mann —

Luke kam zu einer anderen Bank, setzte sich hin, wandte sich um und starrte auf den Bärtigen, der etwa achtzehn Meter von ihm entfernt saß und noch immer in den Baum hinaufschaute.

Wonach? Nach etwas gar nicht Vorhandenem? fragte sich Luke.

Oder nach etwas, das nur für ihn, für mich jedoch nicht vorhanden ist, und wer von uns beiden hat recht?

Und er glaubt, daß i c h nicht existiere, ich weiß aber, daß ich da bin, und wer von uns beiden hat darin recht?

Mag ich mich in allen anderen Dingen irren, darin bestimmt nicht. Ich denke, also bin ich.

Doch wie soll ich wissen, ob er da ist?

Vielleicht ist er nur ein Produkt meiner Phantasie.