Dummer Solipsismus — Jugendtorheiten, die man überwindet.
Und doch verfällt man ihnen immer wieder, sobald man selber die Dinge anders als andere Leute oder andere Dinge als sie zu sehen anfängt.
Spitzbart natürlich nicht; er war nur einer unter vielen Übergeschnappten. Bedeutungslos. Nur daß das kleine Erlebnis mit ihm vielleicht dazu beigetragen hatte, Luke auf die richtige Fährte zu bringen.
In jener Nacht, da er sich mit Gresham betrunken hatte, kurz bevor ihm die Sinne geschwunden waren, war jener Martier dagewesen, den er beschimpft hatte. Er entsann sich deutlich. „Ich habe dich doch überhaupt erst erfunden", hatte er zu ihm gesagt.
Und?
Wie stand es, wenn das wirklich der Fall war? Wenn er in seiner Trunkenheit etwas erkannt hatte, wovon er in nüchternem Zustande nichts wußte?
Wenn Solipsismus gar nicht so dumm war?
Wenn das Universum und alles darin Befindliche nichts weiter war als ein Produkt von Luke Devereauxs Phantasie?
Wenn er, Luke Devereaux, die Martier an jenem Abend ihres Kommens, als er in Carter Bensons Hütte in der Wüste in der Nähe von Indio gewesen war, wirklich erst erfunden hatte?
Luke erhob sich und ging weiter, schneller, um seinen Gedankengang zu beschleunigen. Er rief sich jenen Abend mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis. Kurz bevor es an die Tür geklopft, hatte er an einen Zukunftsroman gedacht, den er zu schreiben beabsichtigte. Er hatte gedacht: „Was, wenn die Martier ..."
Aber er konnte sich nicht erinnern, wie der Gedanke weitergegangen war. Das Klopfen des Martiers hatte ihn in seinem Gedankengang unterbrochen.
Oder nicht?
Vielleicht war der Gedanke nur nicht bis in sein Bewußtsein gedrungen und hatte so ausgesehen: „Was, wenn die Martier kleine grüne Kerle wären, sichtbar, hörbar, aber nicht greifbar und was, wenn einer von ihnen jetzt plötzlich an die Tür klopfen und sagen würde: ,He, Mack, ist dies die Erde?'"
Und so weiter von da an.
Warum nicht?
Ein Grund sprach dagegen: Er hatte schon viele Fabeln erfunden — hunderte, wenn man die Kurzgeschichten dazu rechnete — und keine davon hatte sich in dem Augenblick ereignet, da er sie sich ausgedacht hatte.
Aber wenn nun an jenem Abend die Voraussetzungen etwas anderer Art gewesen wären? Oder hatte vielleicht, was noch wahrscheinlicher war, sein Hirn aus Übermüdung plötzlich ausgesetzt, und hatte jener Teil, der „die Wirklichkeit", die fiktive Welt, die er gewöhnlich aus sich heraus projektierte, nicht mehr von der „Romanwelt" unterscheiden können, den Dingen, die für ihn Literatur waren und die in diesem Falle tatsächlich ein Roman innerhalb eines Romans wären?
Es ergab einen Sinn, so unsinnig es auch klang.
Aber was war dann vor etwa fünf Wochen geschehen, als er aufgehört hatte, an Martier zu glauben? Warum glaubten andere Leute — wenn diese anderen Leute selber Produkte seiner, Lukes, Phantasie waren — weiter an etwas, woran Luke nicht mehr glaubte und das daher auch nicht mehr existierte?
Er steuerte auf eine andere Bank zu und setzte sich. Das war etwas zum Kopfzerbrechen.
Oder war es gar nicht so schwierig? Er hatte an jenem Abend einen Schock erlitten. Er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war und wußte nur, daß es mit einem Martier zusammenhing, aber nach der Wirkung zu urteilen, die es auf ihn ausgeübt — ihn zeitweilig in einen katatonischen Zustand versetzt — mußte es ein ziemlich heftiger Schock gewesen sein.
Und vielleicht gerade weil dieser Schock den Glauben an Martier mit einem Schlag aus seinem Bewußtsein gedrängt hatte, während er im Unterbewußtsein noch an dem Irrtum zwischen Tatsache und Fiktion festhielt — zwischen der projektierten „wirklichen" Welt und der Fabel für eine Geschichte — hatten die fiktiven Martier anscheinend reale Existenz angenommen.
Er war gar nicht paranoid. Einfach schizophren.
Ein Teil seines Geistes — der bewußte, denkende Teil — glaubte nicht an Martier und wußte genau, daß sie nicht existierten.
Aber der tiefer liegende Teil, das Unbewußte, das die Illusionen hervorbrachte und aufrechterhielt, hatte die Botschaft nicht empfangen. E s nahm die Martier als wirklich hin, als so wirklich wie alles andere und so machten es natürlich auch jene anderen Wesen seiner Einbildung und ihr E s, die Menschen.
Erregt stand er auf und ging raschen Schrittes weiter.
Das machte die Sache einfach. Er brauchte seinem Unterbewußtsein die Botschaft nur zukommen zu lassen.
Er kam sich zwar albern dabei vor, sprach aber dennoch in Gedanken: „Es gibt keine Martier. Andere Leute sollten auch keine sehen."
Ob das die gewünschte Wirkung haben würde? Warum nicht, sofern er die richtige Lösung wußte, und dessen war er sich gewiß.
Er befand sich an einer abgelegenen Ecke des Geländes und machte kehrt, um sich nach der Küche zurückzubegeben. Inzwischen war das Frühstück wahrscheinlich fertig, und er konnte vielleicht aus dem Benehmen anderer Leute schließen, ob sie noch immer Martier sahen und hörten.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß es zehn nach sieben war, noch zwanzig Minuten bis zur ersten Aufforderung zum Frühstück, aber in der geräumigen Küche befanden sich ein Tisch und Stühle, und Frühaufsteher waren herzlich eingeladen, vor dem eigentlichen Frühstück eine Tasse Kaffee dort zu trinken.
Luke ging durch die Hintertür hinein und blickte sich um. Die Köchin war am Herd beschäftigt; ein Pfleger machte ein Tablett für einen der internierten Patienten fertig. Von den beiden Hilfsschwestern, die auch das Frühstück servierten, war noch nichts zu sehen; wahrscheinlich deckten sie die Tische im Speisesaal.
Zwei Patienten tranken Kaffee in der Küche, beides ältere Frauen, die eine in einem Morgenrock, die andere in einem Bademantel.
Alles machte einen ruhigen, friedfertigen Eindruck, kein Anzeichen für eine Störung. Er würde zwar den Martier nicht wahrnehmen, wenn einer auftauchte, aber er würde es an den Reaktionen der Leute erkennen, die er sehen konnte, auf indirekte Weise.
Er goß sich eine Tasse Kaffee ein, ging damit an den Tisch, nahm Platz und sagte zu einer der beiden Damen die er kannte: „Guten Morgen Mrs. Murcheson." Margie hatte sie zufällig gestern miteinander bekannt gemacht. „Guten Morgen, Mr. Devereaux", sagte Mrs. Murcheson. „Und Ihre hübsche junge Frau? Schläft sie noch?" „Ja. Ich bin früh aufgestanden und habe einen Spaziergang gemacht. Ein herrlicher Morgen."
„Scheint so. Dies ist Mrs. Randall, Mr. Devereaux, falls Sie beide sich noch nicht kennen sollten." Luke nahm höflich davon Kenntnis. „Sehr angenehm, Mr. Devereaux", sagte die andere ältere Dame. „Wenn Sie draußen waren können Sie mir vielleicht sagen, wo mein Mann ist, damit ich nicht erst überall nach ihm suchen muß."
„Ich habe nur einen einzigen Menschen gesehen", erklärte Luke. „Einen Mann mit einem Spitzbart."
Sie nickte, und Luke sagte: „Oben an der Nordwestecke. Er sitzt auf einer Bank und starrt in einen Baum."
Mrs. Randall seufzte. „Denkt wahrscheinlich über seine große Rede nach. Diese Woche hält er sich für Ishurti, der Ärmste."
Sie schob ihren Stuhl zurück. „Ich werde gehen und ihm sagen, daß der Kaffee fertig ist."
Luke wollte sich gerade erbieten, ihr den Gang abzunehmen, als ihm einfiel, daß der Spitzbart ihn weder sehen noch hören konnte. Und so nahm er Abstand davon.
Als die Tür sich geschlossen hatte, legte Mrs. Murche-son eine Hand auf seinen Arm. „Ein so nettes Paar", sagte sie. „Es ist jammerschade."
„Sie scheint wirklich nett zu sein", sagte Luke. „Ihn kenne ich noch nicht weiter. Sind sie beide — uh —?"
„Ja, natürlich. Aber beide glauben, daß nur der andere — jeder glaubt von sich, er wäre nur hier, um auf den anderen aufzupassen." Sie lehnte sich näher. „Aber ich hege so meinen Verdacht, Mr. Devereaux. Ich halte sie beide für Spitzel, die sich nur wahnsinnig stellen.