Es war sein vierzehnter enttäuschender Abend in der Hütte.
Es war der fünfzehnte Abend nach seiner Flucht aus dem Sanatorium, wenn man ein so einfaches Davonlaufen als Flucht bezeichnen kann. Auch der erste Abend war enttäuschend gewesen, aber aus einem anderen Grunde. Etwa halbwegs zwischen Long Beach und Indio, in Riverside, hatte er mit seinem Wagen, dem alten '57 Mercury, den er für hundert Dollars erstanden hatte, eine Panne gehabt. Er hatte ihn in eine Garage abschleppen lassen, wo man ihm erklärte, daß die Reparatur bis zum nächsten Nachmittag dauern würde. In einem Riverside Hotel hatte er einen langweiligen Abend und eine schlechte Nacht verbracht (es war so eigenartig und einsam wieder allein zu schlafen).
Am nächsten Vormittag hatte er Besorgungen gemacht und seine Einkäufe in die Garage geschafft, um sie in den Wagen zu verstauen, während ein Autoschlosser daran arbeitete. Er hatte sich selbstverständlich eine Reiseschreibmaschine und etwas Papier gekauft. (Er war gerade dabei gewesen, die Schreibmaschine auszuwählen, als um 10 Uhr Pazifischer Zeit Yato Ishurtis Rede über den Äther gekommen war und der Verkauf solange eingestellt wurde; der Inhaber hatte ein Radio eingeschaltet, und alle im Laden Anwesenden hatten sich darum versammelt. Da er wußte, daß Ishurtis fundamentale Prämisse — daß es wirklich Martier gäbe — falsch war, hatte sich Luke zuerst über die Unterbrechung seines Einkaufs geärgert, sich aber dann über die unsinnige Beweisführung Ishurtis amüsiert.)
Er kaufte einen Koffer, etwas Wäsche, einen Rasierapparat, Seife sowie einen Kamm und für ein paar Tage Lebensmittel und Spirituosen, damit er nicht gleich wieder nach Indio einkaufen fahren müßte.
Er bekam seinen Wagen am Spätnachmittag zurück — zusammen mit einer Reparaturrechnung, die fast die Hälfte des Betrages ausmachte, den er ursprünglich dafür bezahlt hatte — und erreichte sein Ziel kurz vor Anbruch der Dunkelheit. Er fühlte sich an jenem Abend zu müde, um sein eigentliches Vorhaben energisch zu betreiben, und schließlich fiel ihm ein, daß er ohnehin etwas vergessen hatte: Allein hatte er keine Möglichkeit festzustellen, ob es ihm geglückt war oder nicht.
Am nächsten Morgen führ er wieder nach Indio und kaufte sich den besten und teuersten kleinen Radioapparat, den er finden konnte, einen Apparat, mit dem er zu jeder Tages- und Nachtzeit Sendungen von überall her empfangen konnte.
Jede beliebige Nachrichtensendung würde es ihm verraten.
Der einzige Haken dabei war nur, daß er seit zwei Wochen, bis zum heutigen Abend, vergeblich auf eine Bestätigung durch den Funk gewartet hatte, wo noch immer direkt oder indirekt vom Vorhandensein der Martier die Rede war.
Und Luke versuchte alles, was er sich ausdenken konnte und wurde fast verrückt dabei.
Er w u ß t e , daß Martier nur imaginär waren, das Produkt seiner eigenen Phantasie (wie alles andere), daß er sie vor fünf Monaten im März erfunden hatte, als er sich die Fabel für einen Zukunftsroman ausdachte. Er hatte sie erfunden.
Doch er hatte schon hunderte anderer Fabeln erfunden und keine davon hatte sich wirklich zugetragen, nicht einmal scheinbar, daher mußte an jenem Abend etwas anders gewesen sein, und er gab sich alle Mühe, die genauen Umstände zu rekonstruieren.
Bis auf die genaue Getränkemenge und den leichten Trunkenheitsgrad, da auch das ein Faktor gewesen sein konnte. Wie bei seinem ersten Aufenthalt hier draußen, blieb er tagsüber völlig nüchtern — ganz gleich, ob er mit einem schweren Kopf erwachte — schritt im Zim-mer auf und ab und sann verzweifelt nach (damals über eine Fabel, diesmal über eine Lösung). Damals wie jetzt gestattete er sich das erste Glas erst, nachdem er sich etwas zum Abendessen gemacht und gegessen hatte und teilte sich seine Getränke dann sorgfältig ein — zum mindesten solange, bis er sein Vorhaben für den Abend angewidert aufgegeben hatte.
Was war eigentlich los?
Hatte er nicht die Martier erfunden, indem er sie sich eingebildet hatte? Warum konnte er den Vorgang nicht umkehren, jetzt, da er aufgehört hatte, sich welche einzubilden und die Wahrheit wußte? Selbstverständlich war ihm das, so weit es ihn selber betraf, gelungen. Doch warum hörten andere Leute nicht auf, sie wahrzunehmen und zu hören?
Es muß eine psychische Blockierung sein, sagte er sich. Aber dadurch daß er der Sache einen Namen gab, kam er auch nicht weiter.
Er nahm einen Schluck und starrte auf das Glas. Versuchte, zum tausendsten Male seit seinem Hiersein, sich daran zu erinnern, wieviele Gläser er an jenem Märzabend getrunken hatte. Viele waren es nicht gewesen, das wußte er; er hatte sie nicht stärker gespürt als die beiden, die er heute Abend getrunken hatte.
Oder hatte das Trinken überhaupt nichts damit zu tun?
Wieder nahm er einen Schluck, stellte das Glas ab und lief im Zimmer auf und ab. „Es gibt keine Martier", dachte er. „Es hat nie welche gegeben; sie existieren — genau wie alles andere — nur solange ich sie mir einbildete. Und jetzt bilde ich mir keine mehr ein.
Deshalb -"
Vielleicht hatte dies die gewünschte Wirkung gehabt. Er trat an das Radio, stellte es an und wartete, bis es warm geworden war. Hörte sich irgendein Geschwätz an und sagte sich, daß er, selbst wenn es ihm soeben geglückt war, ein paar Minuten würde warten müssen, ehe jemand merkte, daß die Martier weg waren, da sie nicht überall und ständig wahrgenommen wurden. Bis die Stimme eines Ansagers ertönte: „Augenblicklich versucht ein Martier direkt hier im Studio ..."
Luke schaltete den Apparat ab und fluchte.
Nahm noch einen Schluck und setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort.
Vielleicht sollte er die psychische Blockierung zu umgehen versuchen, anstatt dagegen anzurennen? Sie konnte sich nur gebildet haben, weil er zwar recht hatte, aber nicht genug Selbstvertrauen besaß. Vielleicht sollte er sich etwas anderes einbilden, etwas völlig Verschiedenartiges, und wenn seine Phantasie es dann ins Leben rief, so konnte selbst sein verdammtes Unterbewußtsein es nicht mehr leugnen, und dann, in diesem Moment . . .
Es war einen Versuch wert. Er hatte nichts dabei zu verlieren.
Er würde sich jedoch etwas vorstellen, was er wirklich herbeisehnte, und wonach sehnte er sich — abgesehen vom Verschwinden der Martier — im Augenblick am meisten?
Nach Margie natürlich.
Er fühlte sich furchtbar verlassen nach diesen zwei Wochen in der Einsamkeit. Und wenn er Margie durch intensives An-sie-denken herversetzen könnte, so würde er auch imstande sein, jene psychische Blockierung zu durchbrechen, das wußte er.
„Moment mal", dachte er. „Ich werde mir vorstellen, daß sie sich auf der Fahrt hierher befindet, schon durch Indio hindurch und nur noch eine halbe Meile entfernt ist. Bald werde ich den Wagen hören."
Alsbald hörte er den Wagen.
Am liebsten wäre er mit einem einzigen Satz bis an die Tür gesprungen, aber er zwang sich, langsam zu gehen. Als er die Tür öffnete, erblickte er näherkommende Scheinwerfer. Sollte er jetzt — ?
Nein, er würde warten, bis er ganz sicher war. Er glaubte zwar bereits zu erkennen, daß es Margies Wagen war, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Er würde warten, bis der Wagen hielt, bis Margie ausstieg, bis er wußte. Und dann in diesem goldenen Augenblick würde er denken: E s gibt keine Martier.
Und es würde auch keine geben.
In wenigen Minuten würde der Wagen hier sein.
Es war einundzwanzig Uhr fünf, Pazifische Zeit. In Chikago war es dreiundzwanzig Uhr fünf, und Mr. Oberdorffer trank Bier und wartete darauf, daß sein Superschwingungserzeuger auf Touren kommen sollte; in Äquatorialafrika brach der Tag an und ein Medizinmann namens Bugassi stand mit verschränkten Armen unter dem größten je dagewesenen Juju und wartete, daß die ersten Sonnenstrahlen darauf fallen sollten.