Der Martier warf einen Blick zurück und höhnte: „Mir ist das doch völlig egal, ob du was sehen kannst oder nicht. Wenn du einen Unfall hast, mir macht das nichts aus."
Luke seufzte, fuhr an und legte die primitive Wegstrecke bis zur Autobahn mit herausgestrecktem Kopf zurück. Halluzination oder nicht, der kleine Mann war nicht durchsichtig, und so mußte er notgedrungen an ihm vorbeischauen.
Er überlegte, ob er an irgendeiner Raststätte Halt machen sollte um Kaffee zu trinken und entschied sich dafür. Vielleicht blieb der Martier, wo er war. Aber auch wenn er das Lokal betrat, so würde ihn ohnehin niemand wahrnehmen können, es war also völlig gleichgültig. Er, Luke, mußte nur daran denken, nicht mit ihm zu reden.
Der Martier sprang herunter, als er den Wagen parkte und folgte ihm in das Lokal. Im Augenblick waren zufällig keine anderen Gäste anwesend. Nur ein hohlwangiger Kellner mit einer schmutzigen weißen Schürze.
Luke nahm auf einem Hocker Platz. Der Martier sprang auf den danebenstehenden Hocker und stützte die Ellenbogen auf die Theke.
Der Kellner wandte sich um und starrte an Luke vorbei. Er stöhnte: „Mein Gott, schon wieder einer!"
„Huh?" sagte Luke. „Schon wieder was?" Er klammerte sich so fest an die Thekenkante, daß seine Finger schmerzten.
„Schon wieder so ein gottverdammter Martier", sagte der Mann. „Sehen Sie ihn denn nicht?"
Luke schöpfte tief Luft und atmete langsam aus. „Wollen Sie damit sagen, daß es noch mehr von dieser Sorte gibt?"
Der Kellner starrte Luke fassungslos an. „Wo waren Sie denn gestern Nacht, Mister? Allein draußen in der Wüste, ohne Radio und Fernsehapparat? Heiland, es gibt Millionen von ihnen!"
Der Kellner irrte. Spätere Schätzungen ergaben, daß es sich um etwa eine Milliarde handelte.
Und jetzt wollen wir Luke Devereaux eine Weile sich selbst überlassen — wir werden später zu ihm zurückkehren — und einen Blick auf die Vorgänge werfen, die sich anderswo abspielten, während Luke in der Benson-Hütte in der Umgebung von Indio Besuch hatte.
Schätzungsweise eine Milliarde Martier. Das ergab auf die Gesamtbevölkerung der Erde — Männer, Frauen, Kinder — umgerechnet etwa einen Martier auf drei Menschen.
Allein in den Vereinigten Staaten gab es nahezu sechzig Millionen und eine der Einwohnerzahl entsprechende Menge in allen anderen Ländern der Welt. Soweit man mit einigermaßen Bestimmtheit ermitteln konnte, tauchten sie überall gleichzeitig auf. In der Pazifischen Zeitzone war es 20.14 Uhr gewesen. Andere Zeitzonen, andere Tageszeiten. In New York war es drei Stunden später, 23.14 Uhr, als die Theater gerade zu Ende waren und es in den Nachtklubs geräuschvoll wurde. (Nach dem Kommen der Martier ging es dort noch bei weitem geräuschvoller zu.) In London war es morgens 4.14 Uhr — aber die Menschen wurden trotzdem munter; die Martier bereiteten ihnen ein fröhliches Er-wachen. In Moskau war es frühmorgens kurz nach sieben, als man sich gerade zur Arbeit rüstete — und die Tatsache, daß viele Leute sich tatsächlich auf den Weg machten, spricht für ihren Mut. Vielleicht war auch ihre Furcht vor dem Kreml größer als vor den Martiern. In Tokio war es 13.14 Uhr und in Honolulu 18.14 Uhr.
An jenem Abend starben viele Menschen. Oder an jenem Morgen oder Nachmittag, je nachdem, wo sie sich befanden.
Allein in den Vereinigten Staaten werden die Verluste auf dreißigtausend geschätzt, wobei die meisten Todesfälle sich unmittelbar bei oder kurz nach der Ankunft der Martier ereigneten.
Einige starben an Herzschlag aus reiner Angst. Andere erlitten Schlaganfälle. Viele erlagen ihren Schußverletzungen, weil viele Leute nach Flinten griffen, um die Martier niederzuschießen. Die Kugeln gingen jedoch glatt durch die Martier hindurch, ohne sie zu verwunden, und landeten nur allzu häufig in menschlichen Körpern. Viele Leute kamen bei Automobilunfällen ums Leben. Einige Martier hatten sich in fahrende Kraftwagen gekwimmt, gewöhnlich auf den Vordersitz neben den Fahrer. „Schneller, Mack, schneller" — wenn diese Worte von einem Sitz kommen, den der Fahrer für leer hält, so ist das nicht gerade geeignet, ihm eine größere Kontrolle über den Wagen zu verleihen, auch wenn er sich nicht umdreht.
Verluste unter den Martiern waren gleich Null, obwohl sie häufig angegriffen wurden — manchmal auf den ersten Anblick, aber öfter, wie im Falle Luke Devereaux, nachdem man sie dazu angestachelt hatte — mit Flinten, Messern, Äxten, Stühlen, Heugabeln, Geschirr, Hackmessern, Saxophonen, Büchern, Tischen, Schraubenschlüsseln, Hämmern, Sensen, Lampen und Rasenmähmaschinen, mit allem, was gerade greifbar war. Die Martier höhnten und schmähten.
Andere Leute versuchten sie freundschaftlich zu empfangen und sich mit ihnen auf guten Fuß zu stellen. Ihnen gegenüber waren die Martier noch ausfälliger.
Aber wo sie auch auftauchten und wie sie auch empfangen wurden — zu sagen, daß sie Unruhe und Verwirrung gestiftet hätten, wäre die größte Unterbewertung des Jahrhunderts.
Man denke beispielsweise an die bedauerliche Aufeinanderfolge der Ereignisse im Fernsehstudio KVAK, Chikago. Nicht daß sich dort etwas grundsätzlich anderes abspielte als in allen anderen Fernsehstationen, die gerade eine Direkt - Übertragung sendeten, aber wir können leider nicht auf a l l e eingehen.
Auf dem Programm stand eine für das Fernsehen bearbeitete Fassung von „Romeo und Julia" mit Richard Bretain, dem größten lebenden Shakespeare-Darsteller, und mit Helen Ferguson als Partnerin.
Das Schauspiel hatte um 22.00 Uhr begonnen und vierzehn Minuten später war es bis zu der Balkonszene des zweiten Aktes gediehen. Julia war soeben auf dem Balkon erschienen, und der unten stehende Romeo hielt mit sonorer Stimme gerade die berühmteste aller romantischen Ansprachen:
„Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost, und Julia die Sonne! — Geh auf, du holde Sonn'! Ertöte Lunen, Die neidisch ist und schon vor Grame bleich, Daß du viel schöner bist... "
So weit war er gekommen, als plötzlich, etwas zur Linken von Helen Ferguson, ein grünes Männchen auf der Balkonbrüstung hockte.
Richard Bretain schluckte und geriet ins Stottern, faßte sich jedoch gleich wieder und spielte weiter. Schließlich hatte er keinen Beweis, daß noch jemand außer ihm die Erscheinung sah. Und das Stück mußte auf alle Fälle weitergehen. Tapfer fuhr er fort:
„ ... obwohl ihr dienend.
Oh, da sie neidisch ist, so dien' ihr nicht,
Nur Toren gehn in ihrer blassen grünen —"
Das Wort grün blieb ihm im Halse stecken. Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und vernahm in der kurzen Pause ein kollektives Gemurmel, das von überall her aus dem Studio zu kommen schien.
Und in dieser Pause sagte der kleine Mann mit lauter, vernehmlicher und hämischer Stimme: „Mack, das ist ganz großer Blödsinn, und du weißt es sehr genau."
Julia richtete sich auf, wandte sich um und erblickte das Männchen auf der Brüstung neben sich. Sie stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht.
Der kleine Mann schaute ungerührt auf sie herunter. „Was zum Teufel ist denn in dich gefahren, Puppe?", wollte er wissen.
Der Regisseur des Stückes war ein tapferer, energischer Mann. Vor zwanzig Jahren war er Leutnant bei der Marineinfanterie gewesen und hatte seine Leute bei den Angriffen auf Tarawa und Kwajalein geführt; für Tapferkeit über die bloße Pflichterfüllung hinaus war er zu einer Zeit, als bloße Pflichterfüllung praktisch Selbstmord bedeutete, zweimal ausgezeichnet worden. Seitdem hatte er fünfzig Pfund zugenommen und bewohnte ein Haus mit Erkerfenstern, war aber immer noch ein tapferer Mann.
Er bewies es, indem er seinen Platz neben der Kamera verließ und nach vorn stürzte, um den Eindringling zu packen und hinauszubefördern.
Er packte zu, aber nichts geschah. Der kleine Mann ließ eine obszöne Bemerkung in waschechtem BrooklynStil fallen. Dann stellte er sich auf die Brüstung, und während der Regisseur sich vergeblich bemühte, ihn an den Fußknöcheln zu packen und nicht durch sie hindurch zu greifen, vollführte er eine Wendung nach der Kamera hin, hob seine rechte Hand und machte eine lange Nase.