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Auch Mike sah voller Unglauben auf den Tiefenmesser. Argos hatte Recht. Als er das letzte Mal darauf gesehen hatte, waren sie etwas über hundert Meter tief gewesen. Jetzt berührte die Nadel die Achtzig und stieg ganz langsam, aber sichtbar, weiter nach oben. »Wie kann das ...«, murmelte Trautman, brach dann mitten im Satz ab und legte mit einer entschlossenen Bewegung zwei kleine Schalter auf dem Pult um. Ein Summen erscholl und die große Irisblende vor dem Aussichtsfenster des Salons begann auseinander zu gleiten. Dahinter war nur die Schwärze der Tiefsee zu erkennen. Trautman betätigte einen weiteren Schalter, worauf rechts und links des Fensters zwei starke Scheinwerfer aufflammten, die zwei grelle Lichtbahnen in die Dunkelheit warfen. Plankton und winzige Fische schimmerten darin, bevor sie sich irgendwo in hundert oder auch mehr Metern Entfernung in der Dunkelheit verloren. Aber sie konnten nun tatsächlich sehen, dass die NAUTILUS wieder stieg. Ganz langsam, aber deutlich. »Was ist das?«, flüsterte Serena. Niemand antwortete, aber Trautman warf Argos einen fragenden Blick zu. »Ihre Freunde?«, fragte er. Argos fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn und deutete ein Kopfschütteln an. »Nein«, sagte er. »So mächtig sind nicht einmal sie.« Bevor er weitersprechen konnte, schimmerte etwas hell im Licht der Scheinwerfer. Im ersten Moment konnte keiner von ihnen erkennen, was es war, dann identifizierten sie eine muschelüberzogene, nahezu senkrecht aufstrebende Felswand, auf die die NAUTILUS langsam zuglitt. Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Staunen und banger Erwartung verfolgten sie, wie die unheimliche Kraft das Tauchboot weiter auf das Riff zu und gleichzeitig daran entlang in die Höhe hob, bis vor ihnen ein nahezu ebenes, gewaltiges Unterwasserplateau schimmerte. Mike sah flüchtig auf den Tiefenmesser. Sie befanden sich noch dreißig Meter unter der Meeresoberfläche. Dies musste das unter Wasser liegende Fundament der Insel sein, die ja letzten Endes nichts als ein Berg war, dessen Spitze aus dem Ozean herausragte. Er war nicht überrascht, als das Schiff wieder zu sinken begann und nach wenigen Augenblicken fast sanft auf dem Meeresgrund aufsetzte.

Mike regulierte mit der linken Hand die Sauerstoffzufuhr seines Anzuges neu und versuchte zugleich, mit der rechten den Scheinwerfer ruhig genug zu halten, damit Singh arbeiten konnte. Der winzige Lichtkreis und das in regelmäßigen Abständen aufflackernde blaue Gleißen des Unterwasser-Schweißgerätes waren die einzige Helligkeit, die die endlose Nacht hier unten durchbrachen. Obwohl sie sich nur vierzig Meter unter der Meeresoberfläche befanden, drang nicht der kleinste Lichtschimmer zu ihnen herab. Oben, im trockenen Teil der Welt, musste bereits wieder Nacht herrschen. Vielleicht stand auch schon wieder der nächste Morgen bevor. Mike wusste es nicht. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und war so erschöpft und müde wie selten zuvor. »Noch fünf Minuten«, drang Singhs Stimme aus den Lautsprechern, die in seinen Helm eingebaut waren. »Was ist dann?«, erwiderte Mike müde. »Sind wir dann fertig?« Singh lachte, leise und nicht sonderlich begeistert. »Schön war's«, sagte er. »Nein - mein Sauerstoffvorrat geht allmählich zu Ende. Und ich glaube, das Schweißgerät ist auch bald leer.« Er seufzte. »Es dauert mindestens noch einen Tag, dieses Leck zu reparieren.« Mikes Meinung nach war allein die Idee, ein scheunentorgroßes Leck in einem Unterseeboot vierzig Meter unter Wasser schweißen zu wollen, tollkühn. Trotzdem hatten sie sich nach kurzer Beratung an die Arbeit ge

macht. Tollkühn oder nicht - sie hatten gar keine andere Wahl. Er war so sehr in seine Gedanken versunken gewesen, dass der Strahl seines Scheinwerfers die Stelle, an der Singh arbeitete, losließ und in kleinen Zickzackbewegungen über den Rumpf der NAUTILUS zu wandern begann. Singh machte eine entsprechende Bemerkung und Mike fuhr so erschrocken zusammen, dass die Lampe seinen Fingern entglitt und langsam und sich dabei immer wieder überschlagend zu Boden zu fallen begann. Mike bückte sich hastig danach, verlor selbst das Gleichgewicht und fiel in dem schweren Taucheranzug auf die Seite. Das war nur ein kleines Missgeschick und in keiner Weise gefährlich; die Unterwasseranzüge waren so konstruiert, dass sie ihren Träger vor fast allen denkbaren Gefährdungen schützten, aber es war ärgerlich. Der Meeresboden war knietief mit einer staubfeinen Sandschicht bedeckt, die hoch aufwirbelte, als Mike fiel, und ihm für einen Moment vollkommen die Sicht nahm. Wütend auf sich selbst rappelte er sich hoch, schwenkte den Scheinwerfer im Kreis und sah ein, dass er gar keine andere Wahl hatte, als abzuwarten, bis sich der Sand von selbst wieder senkte. Ein silberner Schemen tauchte für den Bruchteil einer Sekunde im Licht des Scheinwerfers auf und versank wieder. Mike versuchte ihm mit dem Lichtstrahl zu folgen, sah jedoch nichts als wirbelnden Sand. Aber nur einen Moment später sah er den Schemen erneut und obwohl er auch diesmal nur für eine Sekunde im Licht der Scheinwerfer aufblitzte, erkannte er doch jetzt genau, worum es sich handelte. Es war ein Hai! Und es war keineswegs der einzige. Mike ließ den Scheinwerferstrahl langsam kreisen und er sah einen zweiten und dritten und vierten Hai, die mit gemächlichen, fast majestätisch anmutenden Bewegungen durch das Wasser schnitten.

»Singh!«, sagte Mike. »Ich sehe sie«, antwortete Singh. »Beweg dich nicht! Ich komme zu dir.« Mikes Herz begann zu klopfen. Der Taucheranzug bot ihm wahrscheinlich auch Sicherheit gegen einen Haiangriff, aber er hatte trotzdem Angst. Sie schienen ihn zu umkreisen und Mike wusste, dass Haie das oft taten, kurz bevor sie angriffen. Eine riesenhaft anmutende Gestalt stampfte durch den aufwirbelnden Sand auf ihn zu. Es war Singh, der in seinem klobigen Taucheranzug aussah wie ein mittelalterlicher Ritter, der sich um Jahrhunderte geirrt hatte. Auch er hatte einen Scheinwerfer eingeschaltet, den er hin und her schwenkte, und trug das Schweißgerät wie eine Waffe in der rechten Hand. Mike wusste natürlich, dass ihm das rein gar nichts nutzen würde, sollten die Haifische sie wirklich angreifen. Aber es war seltsam: Irgendwie spürte er, dass die Tiere das nicht tun würden. »Zur Schleuse!«, sagte Singh und leuchtete mit seinem Scheinwerfer in die entsprechende Richtung. Zwei, drei Haifische huschten mit eleganten Bewegungen aus dem Licht heraus. »Aber vorsichtig«, fuhr der Inder fort. »Mach keine hastigen Bewegungen, sonst greifen sie vielleicht an.« Mike hätte sich vermutlich nicht einmal dann schnell bewegen können, wenn er es gewollt hätte. Der Taucheranzug war zu schwer dazu und er sank bei jedem Schritt bis an die Knie in den weichen Sand ein. Langsam bewegte er sich neben Singh an der Flanke der NAUTILUS entlang, bis sie die Tauchkammer erreichten. Während sie darauf warteten, dass die Schleuse voll Wasser lief, so dass sie die äußere Tür öffnen konnten, ließen sie beide ihre Scheinwerferstrahlen in langsamen, gegeneinander gerichteten Kreisen durch das Wasser gleiten. Der Anblick war erschreckend und faszinierend zu

gleich: Es mussten Dutzende von Haien sein, die sie umgaben. Haie der unterschiedlichsten Gattung und Größe. Sie schwammen scheinbar ziellos hierhin und dorthin, bewegten sich manchmal auf sie zu, manchmal von ihnen fort, kreisten und schienen fast so etwas wie einen bizarren Tanz aufzuführen. Keines der Tiere kam ihnen jemals näher als vier oder fünf Meter und doch schienen

sie sich auch nie sehr weit von ihnen zu entfernen. »Was bedeutet das?«, murmelte Mike. »Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete Singh, der im Moment der Gefahr wieder in seine alten Gewohnheiten zurückfiel. »Aber es gefällt mir nicht.« Hinter ihnen öffnete sich nahezu lautlos die äußere Schleusentür. Normalerweise betraten sie die Tauchkammer einzeln, denn sie war so klein, dass sie kaum genug Platz für einen bot. Jetzt aber quetschten sie sich gemeinsam hinein. Keiner von ihnen wollte länger als unbedingt nötig in der Gesellschaft der Haifische zubringen. Trautman und Ben erwarteten sie, als sich die äußere Tür geschlossen hatte und der Wasserspiegel so weit gesunken war, dass sie das innere Schleusenschott öffnen konnten. Die beiden halfen erst Singh, dann Mike aus dem Taucheranzug zu steigen; eine Aufgabe, die allein kaum zu bewältigen war. Trautman hatte bereits frische Sauerstoffflaschen bereitgestellt und wollte unverzüglich in Singhs Anzug steigen. Ben und er hatten wohl vor, die nächste Schicht zu übernehmen. Obwohl sie ebenso müde und erschöpft aussahen, wie Mike sich fühlte, wusste er doch, dass Trautman sich keine Ruhepause gönnen würde, bevor die Reparaturarbeiten nicht abgeschlossen und die größte Gefahr somit gebannt war. Singh schüttelte jedoch den Kopf und machte eine abwehrende Bewegung mit beiden Händen. »Ihr solltet da jetzt nicht rausgehen«, sagte er. »Wir haben Gesellschaft. Haifische! Hunderte!«