Ben und Juan unterbrachen ihre Arbeit nicht einmal, als sie ihn hörten, aber Chris warf ihnen einen flüchtigen Blick zu und als Mike in sein Gesicht sah, erschrak er. Das jüngste Besatzungsmitglied der NAUTILUS sah kreidebleich aus. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe und seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum die Kraft zu haben schien, die Werkzeuge zu halten, die er den beiden anderen reichte. Mike verlor kein weiteres Wort, sondern griff ebenfalls mit zu. Sie arbeiteten eine gute Stunde, bis Ben, der der handwerklich Geschickteste an Bord war, sich endlich mit dem Ergebnis zufrieden gab. »Gehen wir zurück in den Salon«, schlug Juan müde vor. »Trautman und Singh müssten eigentlich auch bald zurückkommen.« Er warf Mike einen fragenden Blick zu. »Haben sie gesagt, wie weit sie sind?« Das hatten sie, aber Mike hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich an Trautmans Worte zu erinnern. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Wo sein Gehirn sein sollte, schien sich nur noch Watte zu befinden, in der sich seine Gedanken verirrten und die Erinnerungen seinem Zugriff entglitten. Er musste sich zwei, drei Augenblicke lang mit aller Macht konzentrieren und dann kam er doch nicht dazu, die Worte auszusprechen. Ein sachtes Zittern lief durch den Boden. Gleichzeitig hörten sie ein dumpfes, rumorendes Dröhnen, das immer lauter und lauter wurde. Mike riss überrascht die Augen auf und auch Juan und Ben sahen sich erschrocken um. Dabei war das Geräusch nicht einmal besonders beunruhigend: Es war das normale, seit Jahren vertraute Motorengeräusch der NAUTILUS, das den akustischen Herzschlag des Schiffes darstellte. Aber die Maschinen hatten seit Tagen geschwiegen und sie waren dem Maschinenraum so nahe, dass sie die Vibrationen der mächtigen Antriebsaggregate hören konnten. Und nicht nur das.
Mike fuhr erschrocken herum, als er einen anderen, weit weniger beruhigenden Ton hörte: Das leise, monotone Plätschern von Wasser. Auch Ben sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein und hob den Arm. Seine ausgestreckte Hand deutete auf eine Stelle an der Sicherheitswand, die sie gerade montiert hatten. Durch eine der Schweißnähte, die wohl doch nicht so dicht geworden war, wie sie angenommen hatten, sickerte ein dünner, aber beständiger Wasserstrom. »Aber was ...?«, murmelte Juan. »Trautman muss völlig den Verstand verloren haben!«, sagte Ben. »Will er uns umbringen?Raus hier!«Er musste seine Aufforderung nicht wiederholen. So schnell es ging, liefen sie die Treppe hinauf und in den Salon. Die NAUTILUS zitterte und ächzte immer stärker und aus dem anfänglich noch halbwegs ruhigen Geräusch der Maschinen wurde ein gequältes Brüllen. Mike hatte das Gefühl, dass das Schiff drauf und dran war, rings um sie herum auseinanderzubrechen. Umso überraschter war er, als sie hintereinander in den Salon stürmten und nicht nur Trautman und Singh an den Kontrollinstrumenten des Schiffes stehen sahen, sondern auch helles Sonnenlicht, das durch das große Seitenfenster hereinströmte. Die NAUTILUS war aufgetaucht. Mike blieb abrupt stehen und blinzelte ungläubig abwechselnd das Fenster und Trautman an. Alles in allem hatten sie kaum mehr als drei Minuten gebraucht, um hierher zu kommen. Trotzdem hatte die NAUTILUS in dieser Zeit die Meeresoberfläche erreicht. »Aber wir ...«, murmelte Juan fassungslos. »Wir sind ...« »Aufgetaucht«,bestätigte Trautman.»Endlich.« »Vierzig Meter indrei Minuten?«,keuchte Mike. Trautman sah ihn an, als begriffe er gar nicht, was Mike damit meinte. »Ich dachte, ihr hättet es eilig«, sagte er. »Ich für meinen Teil kann es gar nicht erwarten, endlich wieder frische Luft zu atmen. Du etwa nicht?« »Aber das ist doch Wahnsinn«, murmelte Juan. »Trautman, was ... was ist bloß in Sie gefahren? Sie hätten uns alle umbringen können!« »Ach was«, sagte Trautman gut gelaunt und eine Sekunde später fügte eine noch fröhlicher klingende Stimme hinter ihnen hinzu: »Statt rumzumeckern, solltet ihr lieber mitkommen. Wir gehen nach draußen.« Mike drehte sich herum und erblickte Serena und Argos, die lautlos hinter ihnen aufgetaucht waren. Serena strahlte über das ganze Gesicht, während Argos noch müder aussah als bisher. Genauer gesagt machte er auf Mike den Eindruck, dass er sich nur noch mit äußerster Mühe auf den Beinen hielt. »Das war bodenlos leichtsinnig!«, pflichtete ihm Ben bei. »Das Schiff hätte in Stücke brechen können. Ganz davon abgesehen, dass wir dort unten in der Falle gesessen hätten, wenn die Wand nicht gehalten hätte!« »Hat sie aber«, sagte Trautman. »Und Serena hat vollkommen Recht. Lasst uns alle nach oben gehen und ein bisschen Sonnenlicht tanken. Danach sieht die Welt wahrscheinlich schon ganz anders aus.«
Mike war der Letzte, der das Schiff verließ. Er hatte auf dem Weg nach oben nichts mehr gesagt, aber er behielt sowohl Trautman als auch Argos aufmerksam im Auge. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden, dessen war er sich mittlerweile vollkommen sicher. Dann verbesserte er sich in Gedanken: Etwas stimmte nicht mitihnen allen.Es war nicht nur das, was Trautman gerade getan hatte. Das Schiff in weniger als drei Minuten vierzig Meter weit aufsteigen zu lassen war mehr als bodenloser Leichtsinn: Es grenzte an Selbstmord. Aber das war längst nicht alles. Ganz plötzlich und ohne dass er das Gefühl genauer in Worte kleiden konnte, hatte er den Eindruck, dass niemand hier mehr so reagierte, wie er sollte. Ben, Juan, Chris und Serena kletterten hintereinander die kurze Leiter hinab, die auf das Deck der NAUTILUS hinunterführte, und sie bewegten sich langsam und vorsichtig und irgendwie steif -dabei hätten sie eigentlich ausgelassen herumtollen sollen, nach den Tagen, die sie auf dem Meeresgrund festgesessen hatten.Puppen,dachte er.Sie bewegen sich wie Puppen, die an Fäden hängen.
Was für eine verrückte Vorstellung. Und doch ... Etwas war an dieser Vorstellung, was -Argos hob den Kopf, blickte ihm in die Augen und Mike blinzelte ein paarmal und fragte sich, woran er gerade eigentlich gedacht hatte. Es hatte irgendetwas mit Puppen zu tun gehabt, aber ... Nein. Er wusste es nicht mehr. Wahrscheinlich war es nur wieder die Erinnerung an seinen verrückten Traum, die ihn quälte. Er blickte auf das Meer hinaus und es dauerte nicht lange, bis ihm etwas auffiel. »Seht mal da«, sagte er. Seine ausgestreckte Hand deutete nach Norden, aber er hätte ebenso gut in jede beliebige andere Richtung deuten können, denn der Anblick war überall gleich. Sie waren nicht allein. Rings um das Schiff herum schnitten Dutzende, wenn nicht Hunderte grauer, dreieckiger Flossen durch die Wasseroberfläche. Haie. »Und ich habe gedacht, wir wären die Biester los«, seufzte Trautman. »Was ist bloß in die gefahren?« »Vielleicht halten sie die NAUTILUS für einen besonders großen Appetithappen«, witzelte Ben. Niemand lachte. Trautman und Singh hatten ganz absichtlich nicht mehr darüber gesprochen, aber sie alle wussten, dass die Haie die NAUTILUS während der gesamten Zeit, die sie auf dem Unterwasserriff festlag, regelrecht belagert hatten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Trautman achselzuckend, »Aber ich glaube nicht, dass wir Grund zur Sorge haben. Hätten sie uns angreifen wollen, hätten sie dazu mehr als genug Gelegenheit gehabt.« »Vergesst die Biester einfach«, sagte Argos. Er sah zum Himmel hinauf. »In einer Stunde wird es dunkel. Ich schlage vor, ihr ruht euch so lange aus und genießt noch das Sonnenlicht. Ich werde inzwischen nach unten gehen und die Pumpen einschalten, damit wir das Wasser aus dem Schiff bekommen. Sobald es dunkel wird, können wir wahrscheinlich losfahren.« »Ich helfe Ihnen«, sagte Singh. »Wir müssen die Batterien aufladen - und vor allem die Sauerstofftanks füllen.« Mike hielt das nicht für eine gute Idee. Singh hatte, ebenso wie Trautman und Argos, mehr und schwerer gearbeitet, als ihm zuzumuten war. Er brauchte dringend ein paar Stunden Ruhe. Welchen Unterschied machte es, ob sie sofort oder in zwei Stunden weiterarbeiteten? Argos widersprach jedoch nicht, sondern nickte nur und machte sich mit müden Bewegungen daran, die Leiter wieder hinaufzusteigen. Als er die Hand nach dem Turm ausstreckte, um sich hochzuziehen, erschien ein struppiges, einäugiges Katzengesicht über dessen Rand und fauchte ihn wütend an. Argos prallte erschrocken zurück und hätte um ein Haar seinen Halt losgelassen und Astaroth setzte ihm nach, holte aus und verpasste ihm einen Krallenhieb, der vier dünne, blutige Striemen auf Argos' Wange hinterließ.