»Ja, und nicht ganz zu Unrecht«, erwiderte Mike ärgerlich. »Wir wären alle nicht in dieser gefährlichen Situation, wenn er nicht auf seinem hirnrissigen Plan beharren würde, ein halbes Dutzend Tote aus einem Wrack zu bergen, das in viertausend Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt.« »Wir wissen nicht, ob sie wirklich tot sind«, antwortete Serena mit einer Ruhe, die ihn wütend machte. »Unsinn!«, beharrte Mike. »Niemand kann in dieser Wassertiefe überleben, versteinert oder nicht. Er bringt uns alle in Lebensgefahr.« »Wie kannst du das sagen?«, fragte Serena. »Du weißt genau, dass es nicht wahr ist. Wir haben abgestimmt, ob wir das Risiko eingehen - und du warst auch damit einverstanden, wenn ich dich erinnern darf.« Mike war so perplex, dass er im ersten Moment nicht einmal antworten konnte, sondern Serena nur mit offenem Mund anstarrte. Es hatte niemals so etwas wie eine Abstimmung gegeben. Das wusste Serena ganz genau. Und selbst wenn, dann hätte er bestimmt nichtfürdieses Selbstmordunternehmen gestimmt. »Ich verstehe dich langsam nicht mehr«, sagte er, nur noch mühsam beherrscht. »Du verteidigst Argos unter allen Umständen, wie? Selbst, wenn du weißt, dass er hundertprozentig im Unrecht ist.« »Aber das ist er nicht!«, protestierte Serena.»Dubist ungerecht. Du feindest ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit an. Weißt du was? Ich glaube, er hatte Recht: Du bist nur eifersüchtig auf ihn, das ist alles.« Mike blinzelte.»Werhatte Recht?«, fragte er. »Astaroth«, antwortete Serena. Dann stockte sie, blinzelte ebenfalls und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wieso habe ich das gesagt?« »Keine ... Ahnung«, antwortete Mike stockend. Da war etwas. Irgendeine Wahrheit unter seinen Gedanken. Er konnte sie nicht erfassen, aber es war ein Gefühl, als wäre da etwas,
was hinauswollte, etwas Gefangenes und Gebundenes, das mit aller Kraft an seinen Ketten zerrte.
»Da siehst du, wie weit wir schon gekommen sind«, sagte Serena. »Ich fange schon an, Unsinn zu reden, nur weil wir uns dauernd streiten!« »Nein, nein«, antwortete Mike hastig. »Das war kein Unsinn. Du hast gesagt:Astaroth hatte Rechtund das stimmt.« »Astaroth war eineKatze«,erinnerte ihn Serena. »Katzen können nicht reden.« »Diese vielleicht schon«, murmelte Mike. Er versuchte fast verzweifelt, die verriegelte Tür in seinen Gedanken aufzustoßen, und er glaubte auch zu spüren, wie sie sichbewegte. »Bist du nur wütend auf ihn, weil er den Kater getötet hat?«, fragte Serena plötzlich. »Das war ein Unfall und das weißt du ganz genau.« Sie stand vom Bett auf, kam auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Vielleicht zum allerersten Mal, seit sie sich kannten, war ihm ihre Berührung unangenehm und er zog seine Hand zurück. Serena sagte nichts dazu, aber er konnte ihr deutlich ansehen, wie sehr sie diese kleine Geste verletzte.
»Astaroth«, murmelte er. »Es ... es hat etwas mit Astaroth zu tun.« Serena seufzte. Ihr Blick spiegelte plötzlich echtes Mitgefühl. »Ich wusste nicht, dass du so sehr an ihm gehangen hast«, sagte sie. »Ich?« Mike riss ungläubig die Augen auf. »Ich?! Serena, was ... redest du da? Du hast genau so an ihm gehangen! Er war dein Leibwächter!« »Mein was?«, wiederholte Serena. Es fiel Mike immer noch schwer, die verschwommenen Erinnerungen hinter seiner Stirn zu Worten werden zu lassen. Für einen Moment war alles ganz klar gewesen, aber nun begannen sich seine Gedanken wieder zu vernebeln. Nein, das stimmte nicht ganz:Irgendetwasbegann seine Gedanken zu vernebeln. Er konnte fast körperlich spüren, wie eine unsichtbare Macht von außen nach seinen Erinnerungen griff und sie wieder dorthin zurückdrängte, wo sie seinem bewussten Zugriff entzogen waren. »Er manipuliert uns«, murmelte er. »Du musst dich dagegen wehren, Serena!« »Er?« Serena blinzelte und sah ihn verständnislos an. »Wen meinst du?« »Argos«, murmelte Mike. Die Worte wollten sich weigern, über seine Lippen zu kommen. Trotzdem fuhr er schleppend und mühsam fort: »Ich weiß nicht wie, aber er ... er beeinflusst uns. Spürst du das denn nicht?« »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Serena. Bevor Mike antworten konnte, wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen und Argos' Stimme sagte in scharfem Ton: »Er redet Unsinn, aber nimm es ihm nicht übel. Er ist einfach überarbeitet. Genau wie wir alle.« Mike fuhr zornig herum und hob die Fäuste. Aber es war genau, wie er befürchtet hatte: Kaum sah er in Argos' Augen, da wich alle Kraft zuerst aus seinen Gliedern, dann aus seinem Bewusstsein. Es gelang Argos nicht mehr, ihn wieder so vollkommen willenlos zu machen, wie er es die vergangenen beiden Tage über gewesen war - und alle anderen an Bord offensichtlich immer noch waren! -, aber Mike konnte nichts anderes tun, als einfach dazustehen und den Atlanter anzustarren; innerlich vor Wut und hilflosem Zorn brodelnd, aber vollkommen gelähmt. »Mach dir keine Sorgen um ihn«, fuhr Argos fort, zwar an seine Tochter gewandt, aber ohne Mike auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Ich kümmere mich um ihn. Warum gehst du nicht in die Kombüse und kochst frischen Kaffee? Ich hätte gerne etwas Heisses zu trinken, bevor ich in den Taucheranzug steige.« Serena verließ die Kabine ohne ein weiteres Wort -allerdings nicht, ohne Mike einen mitleidigen Blick zuzu
werfen. Einen Blick, der seinen Zorn fast zur Raserei steigerte. »Sie ... Sie ...«, begann er. Argos hob die Hand, um ihn zu unterbrechen: »Streng dich nicht unnötig an, Mike. Es hat sowieso keinen Zweck. Und ich habe nicht vor, dir etwas zu tun. wenn es das ist, was du befürchtest.« »Nein -Sie wollen uns nur zu Ihren Marionetten machen, ich weiß«, sagte Mike mühsam. »Sie lesen meine Gedanken!« »Von der ersten Sekunde an«, gestand Argos unumwunden. »Und seit dieser Zeit beeinflussen Sie uns auch alle schon, wie?« Argos verneinte. »Ich kann deinen Zorn verstehen, Mike, aber du täuschst dich in mir. Ich bin nicht euer Feind.« »Und warum dann das alles?«, fauchte Mike. Er versuchte, an Argos vorbei zur Tür zu schielen, und wog in Gedanken seine Chancen ab, schnell genug hinauszukommen, um die anderen zu warnen. Argos schüttelte den Kopf. »Das schaffst du nicht«, sagte er. »Außerdem würden sie dir nicht glauben. Nicht, wenn ich es nicht will.« Mike erwiderte nichts. Es hatte offensichtlich wenig Zweck, jemanden hereinlegen zu wollen, der in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch lesen konnte. »Stimmt«, sagte Argos. »Können wir jetzt vernünftig miteinander reden?« Jetzt, da Mike endlich wieder ganz Herr seines freien Willens und seiner Gedanken war, fiel ihm plötzlich noch deutlicher auf,wiemüde und erschöpft der Atlanter aussah. In derselben Sekunde fiel ihm auch die Erklärung dafür ein. »Sie haben in den letzten drei Tagen nicht geschlafen, weil Sie dann die Macht über uns verloren hätten, habe ich Recht?«, fragte er. »Sie müssen sich in jeder Sekunde
konzentrieren. Es ist bestimmt nicht leicht, fünf Menschen gleichzeitig zu beherrschen.« »Das stimmt«, sagte Argos. »Es ist sogar noch viel schwieriger, als du glaubst. Ich war selbst nicht sicher, ob es mir gelingt.« »Und wie lange glauben Sie, das noch durchhalten zu können?«, fragte Mike böse. »Noch einen Tag? Oder zwei? IrgendwannmüssenSie einmal schlafen.« »Es ist nicht mehr lange nötig«, antwortete Argos. Er seufzte. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber ich habe es nicht gerne getan. Doch ich hatte keine Wahl. Wärt ihr nicht an Bord gekommen, als Serena und ich die Insel verlassen wollten, wäre es nicht nötig gewesen.« »Glauben Sie wirklich, wir sehen einfach zu, wie Sie uns unser Schiff stehlen? «, schnappte Mike. »Ich hätte es euch zurückgebracht«, erwiderte Argos und seltsamerweise fiel es Mike schwer, ihm diese Behauptung nicht zu glauben, »Es tut mir wirklich leid, Mike. Alles ist schief gegangen. Ich wollte nicht, dass ihr in Gefahr geratet. Aber ich muss es tun, versteh doch. Ich kann meine Kameraden nicht einfach auf dem Meeresgrund zurücklassen. Ich bin für ihre Leben verantwortlich.« »Und wer sagt Ihnen, dass wir Ihnen nicht freiwillig geholfen hätten?«, fragte Mike. »Ich kann eure Gedanken lesen, vergiss das nicht«, sagte Argos leise. »Trautman hätte niemalseureLeben riskiert, um die meiner Kameraden zu retten. Aber ich verspreche, dass ich euch freigebe, sobald wir die Männer geborgen haben.« »Und für wie lange?«, fragte Mike zornig. »Bis Sie die NAUTILUS wieder brauchen? Oder Sie eine andere ...Aufgabefür uns haben? Ich glaube Ihnen nicht!« »Das tut mir Leid«, sagte Argos und auch diese Worte klangen ehrlich. »Schade. Ich dachte, ich könnte dich überzeugen, aber ich lese in deinen Gedanken, dass du zu zornig bist. Ich kann dich verstehen. Aber du lässt mir keine Wahl.« »Als was?«, fragte Mike. »Mich wieder zu hypnotisieren?« Argos schüttelte den Kopf. »Das wäre zu riskant«, sagte er geradeheraus. »Du hast meinen Kräften schon einmal getrotzt und ich kann nicht riskieren, dass es dir vielleicht im falschen Moment noch einmal gelingt. Du wirst hierbleiben, bis alles vorbei ist.« »Ich denke nicht daran!«, sagte Mike. »Auch damit habe ich gerechnet«, sagte Argos. »Du zwingst mich, zu drastischen Maßnahmen zu greifen.« »Und wie sehen die aus?«, wollte Mike wissen. »Ein uralter atlantischer Zaubertrick«, sagte Argos, »der aber selbst nach all der Zeit immer noch hervorragend funktioniert.« Er griff in die Jackentasche. »Ich habe den Schlüssel zu deiner Kabine, weißt du?«