plötzlich. Vor einer Sekunde war das Meer noch leer und dann waren sie da.« Mike trat langsam, mit zitternden Knien und klopfendem Herzen, näher an das Bullauge heran. «Wo ist Argos?«, fragte er. »Dort drüben, im hinteren Teil.« Serena trat neben ihn und deutete mit zitternder Hand auf das abgebrochene Heck des Schiffes. Ihr Gesicht war totenbleich und ihre Augen waren groß und dunkel vor Furcht. »Zusammen mit Singh«, fuhr sie fort. »Sie haben die beiden vorderen Trümmerstücke abgesucht und nichts gefunden«, erklärte Trautman vom Steuerpult her. »Aber kaum waren sie im Wrack, da tauchten die Haie auf. Als hätten sie auf uns gewartet.« »Mach dir keine Sorgen«, antwortete Mike, zu Serena gewandt. »Den beiden kann nichts passieren, solange sie im Schiff bleiben.« »Aber sieh dir diese Ungeheuer doch an!«, protestierte Serena. »Ein paar davon sind so groß, dass sie selbst in einem Taucheranzug nicht mehr vor ihnen sicher sind.« »Ja, aber die können nicht ins Schiff«, erwiderte Mike. Er wusste nicht, ob er Recht hatte oder nicht. Er wollte Serena nur beruhigen. Die abgrundtiefe Furcht, die er in ihren Augen las, schnürte ihm die Kehle zusammen. So fuhr er fort: »Und gegen die kleinen Haie bieten die UnterwasseranzügegenügendSchutz.« »Du sagst es, Mike -solange sie das Wrack nicht verlassen«, sagte Trautman. Er kam mit langsamen Schritten um das Steuerpult herum und trat zwischen Serena und ihn. Dabei legte er die rechte Hand auf Serenas Schulter, um sie zu trösten. Aber sie streifte seinen Arm ab und trat einen halben Schritt zur Seite. Trautmans Gesicht verdüsterte sich, doch er sagte nichts dazu, sondern fuhr fort: »Sie haben noch Sauerstoff für eine halbe Stunde. Und danachmüssensie herauskommen.«
»Wir müssen irgendetwas tun«, sagte Serena. »Wir müssen sie verscheuchen.« »Das ist unmöglich«, sagte Trautman leise. »Aber warum nicht?!«, fragte Serena. »Das Schiff ist bewaffnet! Und wir könnten « »Was?«, unterbrach sie Juan. »Mit Torpedos auf die Haie schießen? Oder in die Taucheranzüge steigen und sie mit Harpunen erlegen?« Er lachte hart. »Wenn es drei oder vier wären oder meinetwegen ein Dutzend ... aber so?« Mikes Gedanken überschlugen sich. Natürlich hatte Serena Recht: Sie mussten irgendetwas tun, um Argos und vor allem Singh! - aus dieser Gefahr zu befreien. Aber ein einziger Blick aus dem Fenster zeigte ihm auch, wie sinnlos jede Idee war, die ihm kommen wollte: Es waren Haie der verschiedensten Gattungen und Größe, die das Wrack am Meeresboden umkreisten; einige davon kaum so lang wie sein Arm, andere riesige, sieben oder acht Meter lange Giganten, vor deren Gebissen selbst die Unterwasseranzüge keinen Schutz mehr bieten würden. »Wir könnten die NAUTILUS ein gutes Stück näher heranbringen«, sagte Trautman leise. »Es ist nicht ganz ungefährlich. Der Meeresboden ist uneben hier und einige dieser Trümmerstücke könnten selbst das Schiff beschädigen, aber ich glaube, ich könnte sie auf zwanzig Meter heranmanövrieren.« Er ging zurück zum Steuerpult und sagte: »Sucht euch einen festen Halt. Es könnte ein bisschen holperig werden.« Alle mit Ausnahme Serenas und Mikes, der nicht von ihrer Seite weichen wollte, gehorchten seinem Rat. Juan gesellte sich zu Trautman, um ihm an den Kontrollinstrumenten zu helfen, während sich Ben und Chris mit beiden Händen am Tisch festklammerten. Es vergingen nur wenige Augenblicke, da hob die NAUTI-LUS scheinbar schwerelos vom Meeresboden ab und begann ganz langsam weiter auf das Wrack zuzugleiten.
Hier unten herrschte offenbar eine starke Strömung, denn das Schiff zitterte und bebte ununterbrochen und Mike konnte jetzt auch wieder hören, wie der Rumpf unter dem enormen Wasserdruck ächzte. Mehr als einmal schlug etwas mit einem harten, metallischen Geräusch gegen den Schiffsrumpf; die Laute hallten wie Glockenschläge im Schiff wider und ließen Mike erschauern. Und einmal schrammte etwas mit einem schrecklichen Geräusch unter dem Boden der NAUTI-LUS entlang: wie eine Messerklinge, die über Glas fuhr. Doch letzten Endes hielt das Schiff auch dieser weiteren Belastungsprobe stand und es gelang Trautman, die NAUTILUS tatsächlich nicht nur bis auf zwanzig, sondern allerhöchstens fünfzehn Meter an das abgebrochene Heck des Wracks heranzubringen, bevor das Unterseeboot wieder auf den Meeresboden herabsank. Für etliche Minuten waren sie so gut wie blind, denn ihr Manöver hatte den feinen Schlick vom Meeresboden aufsteigen lassen, der nun wie Nebel im Wasser hing und selbst das Licht der Scheinwerfer verschluckte. Aber in dem unwirklichen graubraunen Schleier, der sich vor dem Fenster ausgebreitet hatte, zuckten immer wieder schlanke, silberfarbene und weiße Schatten auf und die Haie kamen der NAUTILUS nun merklich näher als bisher. Etliche von ihnen strichen so dicht am Bullauge entlang, dass Mike direkt in ihre schwarzen, unergründlichen Augen sehen konnte. »Wie lange reicht ihr Sauerstoff noch?«, fragte Ben. Mike drehte sich nicht vom Fenster weg, als er Trautmans Stimme hörte. »Vielleicht zwanzig Minuten, wahrscheinlich weniger.«
»Und ... was tun wir nun?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman.
»Aber wir ... wir können doch nicht einfach dastehen
undnichtstun!«, flüsterte Serena.
»Das sagt ja auch keiner«, erwiderte Trautman. »Aber
wir helfen Singh und deinem Vater nicht, wenn wir einfach blindlings hinausstürmen und selbst dabei umkommen. Noch ist etwas Zeit. Ich bin sicher, dass uns etwas einfällt, wenn wir einen kühlen Kopf bewahren und jetzt nicht in Panik geraten.«»Einen kühlen Kopf bewahren?!«Serenas Stimme kippte fast über. »Sie werdensterben! Sie haben die Wahl, zu ersticken oder von diesen Ungeheuern getötet zu werden!« »Vielleicht könnten wir einen Art Schutz bauen«, schlug Juan vor. »In unseren Laderäumen liegt genug Material. Es sind nur zehn oder fünfzehn Meter. Wenn wir so eine Art Tunnel errichten, durch den wir zu dem Schiff kommen ...« »Eine gute Idee«, sagte Trautman, »aber dazu fehlt uns die Zeit.« Juan erwiderte irgendetwas, was Mike schon gar nicht mehr hörte. Serenas letzte Worte hallten hinter seiner Stirn wider.Sie werden sterben!Er konnte es nicht zulassen. Astaroth war gestorben, weil er nichts getan hatte, um ihm zu helfen, und nun trennten Singh nur mehr fünfzehn oder zwanzig Minuten vom sicheren Tod - wieder würde er dabeistehen und tatenlos zusehen. Nein! Er hatte einmal versagt, als einer seiner Freunde in höchster Not gewesen war, und das würde sich nicht wiederholen! Und wenn es sein eigenes Leben kostete! Während Serena, Juan, Ben und Trautman weiter miteinander diskutierten, trat er langsam vom Fenster zurück, drehte sich herum und verließ den Salon, ohne dass einer der anderen es auch nur merkte.
Mike überprüfte pedantisch den Sitz seines Unterwasseranzuges, tastete mit den Fingern ein letztes Mal sichernd über die schweren Messingbolzen, die den Helm verriegelten, und nickte dann zufrieden. In einer Wassertiefe wie dieser konnte er sich keine Unachtsamkeiten erlauben. Ein winziger Riss, ein noch so
kleiner Spalt -und das Wasser würde mit der Gewalt eines Schwerthiebes in seinen Anzug hineinschießen und ihn auf der Stelle töten. Unter dem Gewicht der drei Sauerstoffflaschen wankend, streckte er den Arm aus und betätigte den Schalter, der die Pumpen in Gang setzte. Die innere Tür der Schleuse hatte er bereits verriegelt und er hatte auch dafür gesorgt, dass niemand sie von außen öffnen konnte; zumindest nicht schnell genug, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Das Wasser schoss sprudelnd in die Kammer. Um Mikes Füße bildeten sich kleine Wirbel, die rasch höher stiegen, seine Waden, die Knie und dann die Hüften erreichten und binnen weniger als einer Minute war die Kammer bis unter die Decke mit eiskaltem Wasser gefüllt. Mike streckte ein zweites Mal die Hand aus, zögerte noch einen letztenHerzschlag lang und drückte dann entschlossen auf den Öffnungsknopf. Das äußere Schleusentor glitt auf und Mike blinzelte geblendet in das grelle Licht der Scheinwerfer, die den Meeresboden vor der NAUTILUS mehr als taghell erleuchteten. Sein Herz begann zu klopfen, als er sah, wie nahe die Haie waren. Eine Sekunde lang fragte er sich allen Ernstes, ob er den Verstand verloren hatte. Auch nur einen Schritt dort hinaus zu tun war glatter Selbstmord. Trotzdem tat er es. Der Meeresgrund war an dieser Stelle so weich, dass bei jedem Schritt unter seinen Füßen eine braungraue Sandwolke emporwirbelte, die fast bis zu seiner Brust stieg. Er hatte das Gefühl, durch zähen Sumpf zu laufen, der sich an seine Beine klammern wollte, und das Gewicht der Sauerstoffflaschen drückte ihn unbarmherzig nach vorne. Er machte drei, vier mühsame Schritte, bei denen er jedes Mal mehr Sand hochwirbelte, und es kam ihm vor, alsentferneer sich von dem Wrack, statt ihm näher zu kommen.