»Dann müssen wir einige Sauerstoffflaschen neu füllen und jemand muss in einem Taucheranzug hinunter«, sagte Trautman. »Das wird ein paar Stunden in Anspruch nehmen, aber ich glaube, nach all der Zeit macht das jetzt auch keinen Unterschied mehr.« Er half Singh, wieder an Bord des Beibootes zu klettern, dann ruderten sie die wenigen Meter zur NAUTI-LUS zurück und Trautman und der Inder kletterten aufs Schiff hinauf. Als Mike und Juan ihnen folgen wollten, schüttelte Trautman jedoch den Kopf und deutete zum Strand. »Fahrt zur Insel«, sagte er. »Seht euch ein bisschen um, aber geht nicht zu weit. Ich glaube nicht, dass sie bewohnt ist, aber sicher ist sicher. Singh und ich bereiten alles Notwendige vor. Ich will diese Nacht gerne auf festem Boden verbringen«, fügte er in sonderbarem Tonfall hinzu. Mike konnte das gut verstehen. Trautmans Bemerkung zeigte, wie sehr das Zutrauen des deutschen Seemanns in die NAUTILUS erschüttert war. Trautman war praktisch auf dem Wasser geboren und hatte den allergrößten Teil seines Lebens dort beziehungsweise unter Wasser verbracht. Und Mike hatte in all den Jahren, in denen sie sich kannten, nicht ein einziges Wort des Bedauerns oder Zweifeins von ihm gehört, aber im Moment erging es ihm fast ebenso. Vielleicht waren sie einmal zu oft gerade noch mit knapper Mühe entkommen. Juan und er griffen nach den Rudern und fuhren zum Strand. Während der nächsten halben Stunde untersuchten sie den Wald im Umkreis einer halben Meile so gründlich, wie es ging, fanden aber weder Spuren menschlicher Bewohner noch gefährlicher Tiere, dafür aber eine kleine Quelle, die nur wenige Dutzend Meter vom Ufer entfernt lag, und genug Früchte, um ein wahres Festmahl daraus zu bereiten. Sie sammelten trockenes Holz, um später ein Feuer zu entzünden, stapelten es dicht oberhalb der Flutlinie zu einem Haufen auf und ruderten schließlich zur NAUTILUS zurück.
Als sie in den Salon kamen, waren alle bis auf Singh darin versammelt. Argos lag auf der Couch beim Kartentisch und schien immer noch ohne Bewusstsein. Und Serena saß, ganz wie Mike es erwartet hatte, neben ihm und hatte seine Hand ergriffen. Sie sah mit großer Sorge auf sein Gesicht hinab. Der Anblick versetzte Mike einen tiefen, schmerzhaften Stich. Serena schien seinen Blick zu spüren, denn sie sah plötzlich auf, blickte ihm in die Augen und lächelte. Aber es war ein trauriges Lächeln, so dass Mike sich noch niedergeschlagener fühlte. Rasch wandte er den Blick ab und ging zu Trautman und den anderen. »Wie weit seid ihr?« Trautman sah auf die Uhr. »Es dauert noch eine Stunde, bis die Sauerstoffflaschen gefüllt sind«, antwortete er, »Und dann kommt es drauf an, was unsere silbergrauen Freunde dort draußen tun.« »Vorhin haben sie uns nicht angegriffen«, sagte Mike. »Vorhin«, antwortete Trautman mit leicht erhobener Stimme, »haben wir nur nachgesehen und nicht versucht, die Männer aus dem Schiff zu holen.« Er ließ eine kurze Spanne Zeit verstreichen und fügte leiser und fast nur an sich selbst gewandt hinzu: »Ich möchte wissen, wer sie geschickt hat und warum.« »Warum fragen Sie ihn nicht?« Ben deutete mit einer trotzigen Geste auf Argos. »Ich bin sicher, er kennt die Antwort.« »Und er wird sie uns sagen«, antwortete Mike scharf. Vielleicht eine Spur schärfer, als notwendig gewesen wäre, denn Ben sah ihn irritiert an. »Aber jetzt nicht. Jetzt müssen wir erst -« »Vor allem aufhören, uns gegenseitig an die Kehlen zu gehen«, mischte sich Trautman ein. »Ich kann dich verstehen, Ben. Ich bin auch nicht besonders gut auf Argos zu sprechen, aber möglicherweise hatte er seine Gründe für das, was er getan hat. Er wird uns alles erklären.«
»Klar«, sagte Ben giftig. »Wenn wir ihm nur Zeit genug lassen, sich eine hübsche Ausrede auszudenken oder uns wieder zu seinen Sklaven zu machen.« »Ich glaube nicht, dass er das noch einmal tut«, antwortete Mike. Ben sah ihn nur böse an, ersparte sich aber eine Antwort und drehte sich schließlich trotzig weg. Die Stunde, von der Trautman gesprochen hatte, schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, in der kaum jemand ein Wort sagte. Sie alle waren erschöpft und sie alle mussten auf die eine oder andere Weise mit dem Erlebten fertig werden. Das galt auch für Mike. Sie mochten hier vor den Haien in Sicherheit sein, doch irgendetwas sagte ihm, dass die, die diese Tiere geschickt hatten, noch über ganz andere Möglichkeiten verfügten. Und da war immer noch dieses unheimliche Gesicht, an das er sich zu erinnern glaubte. Schließlich war die quälende Wartezeit vorbei und Singh kam zurück und teilte ihnen mit, dass der Taucheranzug bereit wäre. Während er in die Schleuse hinunterging, um sich umzuziehen, begaben sich Trautman, Mike und Juan wieder aufs Deck und ruderten im Beiboot zu dem Wrackteil hinaus. Mike erschrak ein wenig. Das Wasser rings um das bizarre Anhängsel der NAUTILUS brodelte vor Haien. Obwohl es so flach war, dass man fast darin stehen konnte und ein Teil des zerborstenen Schiffsteiles sogar daraus hervorragte, hatten sich nun doch wieder einige wirklich grosse Haie eingefunden. Riesen von drei, vier Metern Körperlänge, die ihm jetzt zwar winzig vorkamen, nach den Kolossen, die sie weiter unten gesehen hatten, von denen jeder einzelne aber durchaus in der Lage war, selbst einem Mann im Taucheranzug gefährlich zu werden. Eine ganze Weile saßen sie schweigend im Boot und warteten, dass Singh auftauchte und in das Wrack hineinstieg. Dann sagte Trautman plötzlich: »Du hast uns nicht alles erzählt, nicht wahr?«
Mike blinzelte und versuchte, den Verwirrten zu spielen. »Wie?« »Du hast mich noch nie belügen können, Mike«, erklärte Trautman mit einem sanften, fast väterlich wirkenden Lächeln. »Keiner von euch kann das. Da draußen ist noch mehr passiert, nicht wahr? Du hast nicht nur Astaroth gesehen.« »Doch«, antwortete Mike. Trautman sah ihn nur an und nach einer Sekunde verbesserte sich Mike: »Oder nein, Sie haben Recht. Esistnoch etwas passiert.« »Und was?« »Die Haie ... haben mir geholfen«, sagte Mike zögernd. Juan starrte ihn ungläubig an, während Trautman keineswegs überrascht dreinsah. »Geholfen?« »Ich wäre allein nie in das Wrack hineingekommen«, antwortete Mike. »Zwei von ihnen haben mich hochgehoben. Nur so konnte ich zu Singh und Argos gelangen. »Um ihnen die Sauerstoffflaschen zu bringen«, fügte Trautman in nachdenklichem Tonfall hinzu. »Das ist erstaunlich.« »Aber warum sollten sie das tun?«, wunderte sich Juan. »Doch bestimmt nicht, um Argos das Leben zu retten.« »Wer weiß«, sagte Trautman. »Vielleicht wollen sie ja nicht seinen Tod. Vielleicht wollen sie ihn einfach nur
haben.«
»Haben?«, fragte Mike. »Wie meinen Sie das?« Trautman zuckte mit den Schultern. »Er hat uns niemals erzählt, wo er hergekommen ist. Ist euch das eigentlich noch nicht aufgefallen? Vielleicht ist er ja an einem Ort, wo er nicht sein sollte.« »Oder umgekehrt«, fügte Juan nachdenklich hinzu. »Er istnichtan einem Ort, an dem er sein sollte.« Mike blickte nachdenklich vor sich hin. Dann fügte er noch hinzu: »Wer immer sie geschickt hat, scheint großen Wert darauf zu legen, keine Unbeteiligten zu verletzen.« »Ja«, murmelte Trautman. »Wisst ihr, woran ich die ganze Zeit denken muss?« Sie schüttelten beide den Kopf. Trautman fuhr mit einem fast unsicheren Lächeln und einem in einem Tonfall, als wären ihm seine eigenen Worte beinahe peinlich, fort: »Nachdem wir von der Insel der Indios geflohen sind ... wir hätten es fast nicht geschafft, hochzukommen. Irgendetwas hat uns geholfen.« Er sah Mike an. »So wie dir, in das Wrack hineinzukommen.« »Wie bitte?«, murmelte Juan. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass uns diese Haie hochgehoben haben?« Trautman machte eine Kopfbewegung auf das Wasser hinaus. »Die da bestimmt nicht. Aber fünf oder sechs von den großen Tieren, die wir vorhin gesehen haben, könnten es durchaus schaffen.« »Das klingt nicht sehr überzeugend«, murmelte Juan. »Ich weiß«, räumte Trautman ein. »Und ich fürchte, wir werden die Antwort auf diese Frage auch niemals bekommen. Aber ich bin auch gar nicht sicher, ob ich das will.« In diesem Moment tauchte Singh unter ihnen auf: Ein verzerrter Schatten, der mit mühsam aussehenden Schritten auf dem Meeresgrund entlangstapfte und von einem ganzen Rudel unterschiedlich großer Haie flankiert wurde, die ihn neugierig umkreisten. Es wurde immer dichter, so dass er sich am Schluss buchstäblich mit den Händen einen Weg durch die lebende Mauer bahnen musste, aber es war so, wie Trautman prophezeit hatte: Die Haie machten keinen Versuch, ihn anzugreifen. Sie versuchten nicht einmal ernsthaft, ihn vom Betreten des Schiffswracks abzuhalten, obwohl sie dies zweifellos gekonnt hätten, allein durch ihre Anzahl. Nach einer Weile verschwand Singh in dem zerborstenen Schiffsrumpf und es verging eine beunruhigend lange Zeit, bis er wieder auftauchte. Er trug eine menschliche Gestalt auf den Armen. Langsam, unter seiner Last wankend, näherte er sich dem Boot und Trautman warf die mitgebrachten Seile ins Wasser, so dass Singh sie an dem versteinerten Seemann befestigen konnte. Obwohl sie sich zu dritt anstrengten, kostete es ihre gesamte Kraft, den zu Stein erstarrten Körper aus dem Wasser zu ziehen und ins Boot zu heben. Das kleine Schiffchen ächzte und schwankte bedrohlich unter dem zusätzlichen Gewicht. Mike erschauerte, als er den Seemann von nahem sah. Obwohl er es besser wusste, fiel es ihm sehr schwer zu glauben, dass dieser Körper jemals gelebt haben sollte, geschweige denn, dass noch so etwas wie Leben in ihm war. Der Mann war durch und durch zu Stein erstarrt, wie eine aus Marmor gehauene, perfekte Nachbildung eines menschlichen Körpers. Sie mussten ihre Plane ändern und die geborgenen Matrosen einzeln an Land rudern, denn das Boot hätte das Gewicht dreier solcher Körper niemals getragen, so dass die geplante Rettungsaktion viel länger dauerte, als sie geglaubt hatten. Als Singh endlich wieder in die NAUTILUS zurückkehrte und sie mit dem letzten Geretteten zum Strand hinaufruderten, waren Mike, Juan und auch Trautman mit ihren Kräften am Ende und es dunkelte auch bereits. Mike und Juan nahmen den Mann, der in der sitzenden Position, in der er sich am Tisch befunden hatte, als ihn das Unglück überfiel, zu Stein erstarrt war, an Armen und Beinen und trugen ihn ächzend den Strand hinauf, während Trautman zur NAUTILUS zurückruderte, um die anderen zu holen. Sie legten den versteinerten Matrosen neben seine Kameraden in den Sand und ließen sich erschöpft daneben zu Boden sinken. Im schwächer werdenden Licht des Sonnenuntergangs boten die drei versteinerten Körper einen noch unheimlicheren Anblick als bisher. Zugleich aber war es Mike - und auch Juan - nicht möglich, den Blick von ihnen zu wenden. »Unheimlich«, murmelte Juan nach einer Weile. »Das kannst du laut sagen«, pflichtete ihm Mike bei. »Ich habe fast Angst vor ihnen.« Juan schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht«, sagte er. »Was dann?« »Die Wesen, die das getan haben«, murmelte Juan. Erst jetzt begriff Mike, dass Juan von den fremden Wesen sprach, die mit dem Sternenschiff gekommen waren. Sie hatten sie niemals gesehen. Jedenfalls nicht lebend, aber sie hatten ja erlebt, was ihre so unendlich viel weiter entwickelte Technik in falschen Händen anzurichten imstande war. »Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen«, sagte er. »Das Schiff ist fort und ich glaube auch nicht, dass es zurückkommt.« »Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Juan. »Ich frage mich, wer sie sind. Wo sie hergekommen sind und was sie hier wollten.« Seine Stimme wurde leiser und in seine Augen trat ein Ausdruck, der Mike schaudern ließ. »Wir waren ihnen so nah, damals in der Pyramide. Erinnerst du dich? Ein einziger Schritt und wir wären dort gewesen. Ich frage mich, ob wir sie jemals wiedersehen.« »Ich frage mich, ob wir das sollten«, sagte Mike. Juan schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. »Ich würde alles darum geben, einmal mit einem von ihnen zu reden«, murmelte er. Er hob den Blick und sah in den Himmel hinauf. In dem verblassenden Blau des Sonnenunterganges waren bereits die ersten Sterne zu erkennen. »Sie sind irgendwo dort oben. Vielleicht kommen sie eines Tages zurück.« »Hast du schon vergessen, was Serena über sie erzählt hat?«, sagte Mike. »Die AtlanterhattenKontakt zu ihnen. Es hat jedes Mal in einer Katastrophe geendet.« »Wenn sie alle so waren wie Argos, wundert mich das