Kaum eine Sekunde, nachdem sie aufgeschrien hatte, war sie in der Nacht verschwunden. »Sie werden ihr nichts tun«, sagte Mike. Er betete, dass es so war. Die Haifischmänner durften Serena einfach nichts zuleide tun! Fast verzweifelt versuchte er, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, aber es war unmöglich. Nach einigen Momenten jedoch glaubte er, die Geräusche eines Kampfes zu hören. Laute, die ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagten. Ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, wollte er losstürmen, doch auch er kam nicht weit. Der Haifischmann, mit dem er zu reden versucht hatte, ergriff ihn blitzschnell bei den Unterarmen. Er griff ihn nicht an, sondern hielt ihn einfach nur fest, aber in seinen Händen lag eine so übermenschliche Stärke, dass Mike trotzdem vor Schmerz aufstöhnte. Nach einem Augenblick jedoch ließ das Geschöpf Mike wieder los und trat zu den anderen zurück. Die Botschaft war deutlich, auch ohne Sprache. Schritte näherten sich und nur einen Moment später tauchten zwei der Haifischmänner wieder aus der Dunkelheit auf. Sie hielten Argos an beiden Armen gepackt zwischen sich, aber der Atlanter versuchte nicht, Widerstand zu leisten. Argos war kein Schwächling, aber Mike hatte am eigenen Leib gefühlt, wie unvorstellbar stark diese Geschöpfe waren. »Argos!«, rief Trautman. »Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten? Was sind das für Wesen?« Argos hob mühsam den Kopf. Mike erschrak, als er in sein Gesicht blickte. So kurz der Kampf gewesen war, er musste heftig gewesen sein, denn Argos' Züge waren nicht nur totenbleich, sondern auch verschwollen. Aus einem tiefen Kratzer auf seiner Wange lief Blut. Offensichtlich hatte er sich trotz allem noch mit letzter Kraft gewehrt. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Solange Sie sich nicht einmischen, sind Sie nicht in Gefahr!«
»Das ist keine Antwort«, sagte Trautman scharf. Er wollte auf Argos zutreten und diesmal schienen ihre unheimlichen Bewacher nichts dagegen zu haben, denn sie ließen ihn gewähren. Eine der Kreaturen, die Argos gepackt hatten, hob jedoch warnend die Hand, als er sich ihm auf drei Schritte genähert hatte, und Trautman blieb auch sofort wieder stehen. Nach kurzem Zögern folgten ihm auch Mike und die anderen. Ihre unheimlichen Begleiter folgten ihnen ebenfalls, lautlos wie Schatten, aber nahe genug, um sofort eingreifen zu können. »Das sind die, vor denen Sie geflohen sind, nicht wahr?«, fragte Trautman mit einer Kopfbewegung auf einen der Haifischmänner. »Die Wesen, die die Haie geschickt haben.« »Sind das die Leute aus dem schwarzen Schiff?«, wollte Ben wissen. Argos schüttelte matt den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber sie gehören zusammen. Und auch die hier sind nur Werkzeuge. Aber Sie haben Recht: Sie wurden geschickt, um mich und die anderen zu holen. Ich habe gedacht, ich könnte ihnen entkommen, aber vermutlich ist das unmöglich.« Er seufzte tief und als er weitersprach, war seine Stimme sehr leise. »Es ist vorbei. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben getan, was Sie konnten. Was nun geschieht, geht nur mich etwas an.« »Das ist nicht ganz richtig«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihnen. Mike und die anderen fuhren überrascht zusammen, als sie die beiden großgewachsenen, in dunkelblaue englische Marineuniformen gekleideten Gestalten sahen, die aus der Nacht hervorgetreten waren. Mike erkannte sie sofort: Es waren zwei der drei Seeleute, die sie aus dem Wrack geborgen hatten. Offensichtlich hatte das, was Argos versucht hatte, zumindest zum Teil Erfolg gehabt, denn sie schienen vollständig wiederhergestellt zu sein.
Doch das war nicht der Grund für Mikes Erschrecken. Die beiden waren nicht allein gekommen. Einer von ihnen hatte Serena gepackt. Mit der einen Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der anderen presste er sie trotz ihres verzweifelten Sträubens an sich. »Was soll das?«, fragte Mike. »Lassen Sie sie sofort los!« Der Seemann wandte langsam den Blick, sah ihn kopfschüttelnd an und sagte lächelnd: »Aber das wäre ziemlich dumm, meinst du nicht auch?« »Serena hat nichts mit all dem zu tun«, sagte Trautman scharf. »Lassen Sie sie los! Auf der Stelle!« Und als wären seine Worte ein Signal gewesen, setzten sich nicht nur er und Singh, sondern auch beide Haifischmänner in Bewegung, um sich auf die aufgetauchten Atlanter zu stürzen. Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, war jedoch schneller. Mit einer blitzartigen Bewegung griff er unter seine Jacke, zog eine Pistole hervor und richtete die Mündung auf Serenas Schläfe. »Keinen Schritt weiter«, sagte er. Trautman, Singh und Mike erstarrten mitten in der Bewegung und nach einem weiteren Schritt hielten auch die Haifischmänner inne. »Sehr gut«, sagte der Seemann.
»Ich hatte gehofft, dass ihr vernünftig seid. Und nun alle ein paar Schritte zurück, wenn ich bitten darf.« Er wedelte auffordernd mit der linken Hand. Trautman, Ben und Singh, dann auch die beiden Haifischmänner gehorchten, während der Seemann und sein Kamerad, der immer noch Serena gepackt hielt, im selben Tempo näher kamen. »Und jetzt lasst ihn los!«, befahl der Atlanter mit einer Geste auf die beiden Haifischgeschöpfe, die Argos gepackt hielten. Die beiden zögerten. Der Atlanter zog den Hahn des Revolvers zurück und wiederholte seine Aufforderung, und die beiden Geschöpfe ließen Argos' Arme tatsächlich los und traten zwei, drei Schritte weit zurück. Argos sank mit einem Keuchen auf die Knie und wäre nach vorne gestürzt, hätte er sich nicht im letzten Moment mit den Händen im Sand abgestützt. »Du hattest Recht, Argos«, fuhr der Atlanter mit der Pistole fort. »Sie scheinen tatsächlich so programmiert zu sein, dass der Schutz unschuldigen Lebens über ihre eigentliche Aufgabe geht. Erstaunlich!« Mike verstand kein Wort, obwohl er das Gefühl hatte, es eigentlich verstehen zu müssen. Aber er war viel zu aufgeregt, hatte viel zu viel Angst um Serena, um einen klaren Gedanken zu fassen. »Was soll das?«, fragte er. »Wir stehen auf Ihrer Seite! Warum bedrohen Sie Serena?« Der Atlanter schenkte ihm ein fast mitleidiges Lächeln. »Ich hätte dich für klüger gehalten, nach allem, was Argos mir über dich erzählt hat«, sagte er. »Du siehst es doch selbst. Diese freundlichen Gesellen da werden nichts tun, solange sie damit das Leben eines unschuldigen Kindes gefährden würden. Wäre es dir lieber, wenn ich dich als Geisel nähme?« »Jederzeit«, antwortete Mike spontan und das war auch ernst gemeint. Der Atlanter schüttelte jedoch den Kopf. »Seltsam. Auch diese Antwort überrascht mich nicht«, sagte er. »Trotzdem ist es besser, wenn wir unser Prinzesschen hier behalten.« Mike versuchte verzweifelt, Serenas Blick einzufangen. Serena hatte aufgehört, sich zu sträuben, aber ihre Augen waren weit und dunkel vor Panik. Der Atlanter drückte die Waffe so fest gegen ihre Schläfe, dass es weh tun musste. »Sie ... Sie würden ihr doch niemals wirklich etwas antun, oder?«, stammelte Mike. Der Atlanter antwortete nicht, aber Trautman sagte mit einem leisen, harten Lachen: »Selbstverständlich würde er das. Diese Geschöpfe lassen sich nicht von leeren Drohungen beeindrucken.« »Da haben Sie in der Tat Recht, Trautman«, antwortete der Atlanter. »Ich würde es sehr bedauern, diesem entzückenden jungen Mädchen etwas zuleide tun zu müssen, aber glauben Sie mir: Ich werde es tun, wenn es nötig ist.« Er trat rasch auf Argos zu -ohne dass der Lauf seiner Waffe dabei auch nur einen Sekundenbruchteil nicht auf Serenas Kehle gedeutet hätte -, griff unter seine Arme und zog ihn mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Haben sie dich verletzt?« Argos schüttelte den Kopf. Er wankte, aber Mike nahm an, dass das eher an den Anstrengungen der vergangenen Nacht lag als an dem, was ihm die Haifischmänner angetan hatten. »Es geht schon wieder«, murmelte er. Erschöpft fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht, warf dann einen Blick in die Runde und sah Mike an. In seinen Augen erschien ein Ausdruck von Bedauern, ja, fast von Schmerz. »Es tut mir Leid«, sagte er. Mike starrte ihn an. »Sie verdammter Mistkerl«, antwortete er. »Warum habe ich Sie nicht da unten ertrinken lassen?« Und in diesem Moment meinte er das ernst. Argos schien es auch zu spüren, denn sein Blick verdüsterte sich noch mehr und nach einer Sekunde hatte er nicht mehr die Kraft, dem Mikes standzuhalten. Mühsam drehte er sich um und wandte sich an den Mann, der seine Tochter festhielt. »Bitte tu ihr nicht weh, Vargan«, sagte er. »Nur wenn es nötig ist«, erwiderte Vargan. »Und was haben Sie jetzt vor?«, wollte Trautman wissen. »Nun«, sagte der Atlanter mit der Pistole lächelnd. »Ich denke, wir werden uns zuerst einmal von unseren ungebetenen Gästen verabschieden.« Er wandte sich dem nächststehenden Haifischmann zu, lächelte -und schwenkte blitzschnell seine Pistole herum. Zwei Schüsse fielen so rasch hintereinander, dass sie wie ein einzelner klangen. Der Haifischmann wurde zurückgeworfen, riss die Arme in die Luft und fiel sterbend in den Sand und im nächsten Sekundenbruchteil hatte sich die Waffe wieder auf Serena gerichtet. »Tarras!«, schrie Argos. »Bist du verrückt geworden?!« Tarras grinste kalt. »Keineswegs, Argos. Ich bin nur nicht ganz sicher, ob sie unsere Sprache verstehen. Ich denke, das haben sie begriffen.« Mike starrte entsetzt auf den zu Boden gesunkenen Haifischmann herab. Zwei seiner Brüder bemühten sich um ihn, aber selbst Mike erkannte sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Die beiden Kugeln hatten das Wesen mitten ins Herz getroffen. »Ich hoffe, ich muss meine Demonstration nicht wiederholen«, sagte Tarras. Noch bevor irgendeiner der anderen antworten konnte, riss er seine Pistole abermals herum und gab einen weiteren Schuss ab. Diesmal ließ die Kugel allerdings nur den Sand vor den Füßen eines der anderen Haifischmänner hoch aufspritzen. Die Wesen hatten die Botschaft jedoch verstanden. Zwei von ihnen ergriffen ihren sterbenden Kameraden und nahmen ihn in die Mitte, die anderen drehten sich schweigend herum und verschwanden ebenso lautlos in der Nacht, wie sie aufgetaucht waren. Tarras deutete auf Ben. »Du, Junge! Lauf ihnen nach und überzeuge dich davon, dass sie wirklich ins Wasser gehen und sich nicht nur irgendwo verstecken!« Ben starrte den Atlanter eine Sekunde lang trotzig an, aber dann nickte Trautman unmerklich und Ben drehte sich herum und lief hinter den Haifischmännern her. Als auch er in der Nacht verschwunden war, sagte Trautman: »Sie haben gewonnen. Sie können das Mädchen jetzt loslassen.« Eine Sekunde lang sah Tarras einfach nur verblüfft drein, dann lachte er. Der Pistolenlauf deutete immer noch auf Serenas Kopf. »Sie haben wirklich keine Ahnung,wie?« »Wovon?«, fragte Trautman lauernd. »Was hast du ihnen erzählt, Argos?«, erkundigte sich Tarras lachend. »Nur das, was sie wissen mussten«, antwortete Argos leise. Er sah seinen Kameraden an. Nicht jedoch Trautman, Mike oder einen der anderen. »Nun, das ist anscheinend nicht allzu viel«, erwiderte Tarras. Er wandte sich direkt an Trautman. »Ich fürchte, dass wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen können, lieber Herr Trautman«, erklärte er in spöttischem Tonfall. »Jedenfalls noch nicht sofort. Wir brauchen unser kleines Prinzesschen nämlich noch, wissen Sie?« Trautman nickte. Sein Gesicht war wie aus Stein. »Weil wir sonst nicht tun, was Sie von uns verlangen«, vermutete er. »Für einen so alten Mann haben Sie ein erstaunlich scharfes Begriffsvermögen«, erklärte Tarras höhnisch. »Aber keine Sorge: Wir werden Ihre Dienste allerhöchstens noch für zwei oder drei weitere Tage in Anspruch nehmen. Und danach bekommen Sie Ihr Prinzesschen unbeschädigt zurück -falls niemand auf dumme Ideen kommt, heißt das«, fügte er mit einem Seitenblick auf Mike hinzu. Mike begriff nur ganz allmählich, was die Worte des Atlanters bedeuteten, dann aber fuhr er herum und wandte sich an Argos: »Das können Sie nicht tun! Warum lassen Sie das zu?« »Aber was soll er denn machen?«, erkundigte sich Tarras. Mike ignorierte ihn. »Befehlen Sie ihm, damit aufzuhören!«, schrie er. »Sie können es! Sie sind ihr König!« Argos senkte den Blick. Tarras blinzelte, machte für eine Sekunde ein verblüfftes Gesicht und begann dann schallend zu lachen. »Un