«Mein Mann reiste am Donnerstag, dem 20. Juli, nach Paris. Er hatte dort eine geschäftliche Verabredung mit verschiedenen Leuten, unter anderem mit Madame Olivier.»
Poirot nickte bei der Erwähnung der berühmten französischen Chemikerin, welche sogar Madame Curie mit ihren aufsehenerregenden Entdeckungen übertroffen hatte. Sie hatte hohe Auszeichnungen durch die französische Regierung erhalten und war eine der prominentesten Persönlichkeiten der Welt.
«Er kam in den Abendstunden dort an und begab sich sogleich zum ‹Hotel Castiglione›, in der Rue de Castiglione. Am folgenden Morgen plante er eine Zusammenkunft mit Professor Bourgoneau, welche auch stattgefunden hat. Sein Benehmen war normal und völlig unbefangen. Sie hatten eine sehr interessante Unterredung, und es wurde verabredet, dass mein Mann am folgenden Morgen an einigen Experimenten in des Professors Laboratorium teilnehmen sollte. Er hat im ‹Cafe Royal› allein zu Mittag gegessen, unternahm einen Spaziergang in den Bois und besuchte dann Madame Olivier in ihrem Haus in Passy. Auch dort war sein Benehmen vollkommen normal, und er verließ das Haus gegen sechs Uhr abends. Wo er zu Abend gegessen hat, ist nicht bekannt, wahrscheinlich in irgendeinem Restaurant.
Er kehrte gegen elf Uhr abends zum Hotel zurück und ging sogleich auf sein Zimmer, nachdem er gefragt hatte, ob für ihn Post eingegangen sei. Am folgenden Morgen verließ er das Hotel und ist nicht wieder gesehen worden.»
«Um welche Zeit verließ er das Hotel? Zu der Zeit, da er in Professor Bourgoneaus Laboratorium erwartet wurde?»
«Das wissen wir nicht, denn niemand hat ihn das Hotel verlassen sehen. Auch hat er kein Frühstück zu sich genommen, was darauf hinzudeuten scheint, dass er sehr früh fortgegangen ist.»
«Könnte er vielleicht gleich wieder ausgegangen sein, nachdem er nachts heimgekommen war?»
«Das glaube ich nicht. Sein Bett war benutzt, und der Nachtportier hätte jeden bemerken müssen, der um diese Zeit das Hotel verließ.»
«Das ist vollkommen richtig, Madame. Wir können somit als sicher annehmen, dass er das Hotel frühmorgens verließ, und eine andere Möglichkeit vollkommen ausschließen. Es ist hiernach auch nicht anzunehmen, dass er zur Nachtzeit irgendwelchen Pariser Apachen in die Hände gefallen ist. Fehlte etwas von seinem Gepäck?»
Mrs Halliday zögerte sichtlich bei dieser Frage, jedoch sagte sie schließlich:
«Nein, er muss nur einen kleinen Koffer mitgenommen haben.»
«Hm», sagte Poirot nachdenklich, «ich möchte gerne wissen, wo er den Abend verbracht hat. Wenn wir das herausbringen könnten, wären wir ein gutes Stück weiter. Wen hat er an diesem Abend getroffen, da liegt das Geheimnis. Madame, ich teile durchaus nicht den Standpunkt der Polizei, bei der es immer heißt: cherchez la femme, jedoch liegt es auf der Hand, dass irgendetwas Ihren Gatten zur Nachtstunde veranlasste, seine Pläne zu ändern. Sie sagten, dass er bei seiner Rückkehr nach eingegangener Post gefragt hat. Hat er etwas erhalten?»
«Nur einen Brief, und das muss der gewesen sein, den ich an dem Tage geschrieben habe, an dem er England verließ.»
Poirot blieb eine Zeit lang stumm; dann erhob er sich.
«Nun, Madame, die Lösung des Rätsels liegt in Paris, und zu diesem Zwecke werde ich mich unverzüglich auf die Reise machen.»
«Es liegt aber alles bereits so lange zurück, Monsieur.»
«Ja, trotz allem, wir müssen dort weitersuchen.»
Er wandte sich zur Tür, hielt jedoch inne, die Hand am Türgriff. «Sagen Sie, Madame, erinnern Sie sich, dass Ihr Gatte jemals irgendetwas über die Großen Vier erwähnt hat?»
«Die Großen Vier», wiederholte sie verständnislos, «nein, ich kann mich nicht erinnern.»
6
Das war alles, was wir von Mrs Halliday in Erfahrung bringen konnten. Wir eilten zurück nach London, und am nächsten Tag waren wir bereits auf dem Weg zum Kontinent. Mit ziemlich resigniertem Lächeln bemerkte Poirot:
«Diese Großen Vier halten mich tatsächlich in Trab, mon ami. Ich laufe hin und her, kreuz und quer, wie unser gemeinsamer Freund, der Jagdhund in Menschengestalt.»
«Vielleicht triffst du ihn in Paris», sagte ich; ich wusste wohl, dass er einen gewissen Giraud damit meinte, einen der findigsten Detektive der Sûreté, den er bei einer früheren Gelegenheit kennen gelernt hatte.
Poirot zog eine Grimasse. «Ich hoffe, dass es mir erspart bleibt. Der mag mich nicht leiden.»
«Wird es nicht schwierig sein», fragte ich, «ausfindig zu machen, was ein unbekannter Engländer an einem bestimmten Abend vor zwei Monaten unternommen hat?»
«Sogar sehr schwierig, mon ami, aber, wie du genau weißt, Schwierigkeiten erfreuen das Herz von Hercule Poirot.»
«Denkst du an die Möglichkeit, dass die Großen Vier ihn verschleppt haben könnten?»
Poirot nickte.
Unsere Ermittlungen hatten bisher nichts Neues erbracht, und wir wussten nicht viel mehr als das, was uns Mrs Halliday schon erzählt hatte. Poirot hatte eine längere Unterredung mit Professor Bourgoneau, in deren Verlauf er herauszufinden suchte, ob Halliday von irgendwelchen anderen Plänen für den Abend gesprochen hatte, aber diese Frage blieb vollständig offen.
Unsere nächste Informationsquelle lag bei der berühmten Madame Olivier. Ich war ziemlich erregt, als wir die Stufen zu ihrer Villa in Passy hinaufgingen. Es erschien mir außergewöhnlich, dass es einer Frau gelungen sein sollte, eine so prominente Stellung in der Welt der Wissenschaft einzunehmen. Bisher war ich jedenfalls der Meinung gewesen, dass nur die männliche Intelligenz diesen Aufgaben gewachsen sei.
Die Tür wurde durch einen jungen Burschen geöffnet, der auf mich den Eindruck eines Messdieners machte, der streng auf die Einhaltung eines gewissen Rituals bedacht ist.
Poirot hatte sich die Mühe gemacht und uns vorher angemeldet, da es ihm bereits bekannt war, dass Madame Olivier wegen ihrer intensiven Forschungsarbeit niemals Besucher ohne Voranmeldung empfing.
Wir wurden in einen kleinen Salon geführt, den kurz darauf die Dame des Hauses betrat. Madame Olivier war eine große Erscheinung, ihre Schlankheit wurde betont durch einen langen, weißen Mantel und eine weiße Kappe, die ihren Kopf umhüllte. Sie hatte ein schmales, bleiches Gesicht und wundervolle dunkle Augen, die beinahe schwärmerisch leuchteten. Sie glich eher einer Priesterin alter Zeiten als einer modernen Französin. Die eine Wange war durch eine Narbe entstellt, und ich erinnerte mich, dass ihr Gatte und sein Assistent vor drei Jahren bei einer Explosion im Laboratorium getötet wurden, während sie schreckliche Verbrennungen davongetragen hatte. Seither hatte sie sich von der Umwelt abgeschlossen und sich mit wahrem Eifer in ihre wissenschaftlichen Arbeiten vertieft. Sie empfing uns mit kühler Höflichkeit.
«Ich bin bereits des Öfteren durch die Polizei vernommen worden, meine Herren. Ich glaube daher kaum, dass ich Ihnen noch irgendwie von Nutzen sein kann, da ich auch der Polizei keine befriedigende Auskunft habe geben können.»
«Madame, es ist durchaus wahrscheinlich, dass meine Fragen von denen der Polizei abweichen. Um gleich zu beginnen, was war der Inhalt Ihrer Gespräche mit Mr Halliday?»
Sie sah etwas überrascht auf.
«Natürlich seine Arbeit! Seine Arbeit und auch die meine.»
«Erzählte er Ihnen auch über seinen Vortrag, welchen er vor nicht allzu langer Zeit vor einem britischen Auditorium gehalten hat?»
«Natürlich tat er das. Es war das Hauptthema unserer Unterhaltung.»
«Seine Ideen waren wohl etwas fantastischer Natur, oder nicht?», fragte Poirot skeptisch.
«Einige Leute waren wohl dieser Meinung, ich bin jedoch anderer Ansicht.»
«So halten Sie sie also als durchaus durchführbar?»