«Auf jeden Fall. Meine Forschungen gingen nach derselben Richtung, obgleich sie nicht das gleiche Ziel hatten. Ich habe die Gammastrahlen untersucht, die bei einer Substanz in Erscheinung treten, welche unter dem Namen Radium C, dem Produkt einer Radiumstrahlung, bekannt ist, und dabei bin ich auf dieselben magnetischen Erscheinungen gestoßen.
Tatsächlich habe ich eine Theorie bezüglich des wahren Ursprungs der Kräfte, die wir als Magnetismus bezeichnen, jedoch sind meine Untersuchungen noch nicht so weit abgeschlossen, dass sie veröffentlicht werden könnten. Mr Hallidays Experimente und Gedankengänge waren außerordentlich interessant für mich.»
Poirot nickte. Dann stellte er eine Frage, die mich völlig überraschte.
«Madame, wo fanden die Gespräche statt – in diesem Raum?»
«Non, Monsieur, im Laboratorium.»
«Darf ich es einmal sehen?»
«Selbstverständlich.»
Sie führte uns durch die Tür, durch welche sie hereingekommen war, und wir betraten einen schmalen Gang. Danach durchschritten wir zwei weitere Türen und befanden uns in einem großen Laboratorium mit seinen vielen Gefäßen, Schmelztiegeln und Hunderten von anderen Versuchsgegenständen, von welchen ich nicht einmal die Namen kannte. Zwei Angestellte arbeiteten gerade an einem Experiment. Madame Olivier stellte sie vor.
«Mademoiselle Claude, eine meiner Assistentinnen.» Eine große, ernst blickende junge Dame nickte uns zu.
«Monsieur Henri, ein alter und vertrauter Freund.»
Der Herr, klein und dunkel, verbeugte sich höflich, Poirot sah sich im Raum um. Es boten noch zwei weitere Türen Zugang außer der einen, durch die wir hereingekommen waren. Eine davon, erklärte Madame Olivier, führe in den Garten, die andere in einen Nebenraum, der ebenfalls für Untersuchungen bestimmt sei. Poirot nahm alles aufmerksam zur Kenntnis und erklärte sodann, in den Salon zurückkehren zu wollen.
«Madame, waren Sie während Ihrer Unterredung mit Mr Halliday allein?»
«Ja, Monsieur. Meine Assistenten waren in dem kleinen Raum nebenan.»
«Konnte das Gespräch belauscht werden – von diesen oder irgendjemand anders?»
Madame Olivier überlegte und schüttelte dann den Kopf.
«Ich glaube nicht. Ich bin dessen beinahe sicher. Die Türen waren alle verschlossen.»
«Könnte sich vielleicht ein Fremder in dem Raum verborgen gehalten haben?»
«Es befindet sich zwar ein großer Schrank in der Ecke, aber die Idee erscheint mir absurd.»
«Pas tout à fait, Madame; aber nun noch eine Frage: Hat Mr Halliday irgendeine Äußerung über seine Pläne für den Abend gemacht?»
«Er hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt, Monsieur.»
«Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und entschuldigen Sie bitte die Störung. Bitte bemühen Sie sich nicht, wir finden den Ausgang schon.»
Wir waren im Treppenhaus, als eine Dame gerade durch die Haustür trat. Sie eilte die Treppen hinauf, und ich bemerkte noch die strenge Trauerkleidung, wie sie von französischen Witwen getragen wird.
«Eine außergewöhnliche Frau», bemerkte Poirot, als wir uns entfernten.
«Madame Olivier? Ja, sie…»
«Mais non, nicht Madame Olivier. Cela va sans dire! Es gibt nicht viele Genies ihresgleichen in der Welt. Nein, ich meinte die andere, die Dame, die uns im Treppenhaus begegnete!»
«Ich habe ihr Gesicht nicht sehen können», entgegnete ich erstaunt. «Ich kann mir auch nicht denken, dass du es gesehen haben kannst, nachdem sie es offensichtlich abwandte.»
«Das ist eben der Grund, warum ich von einer ungewöhnlichen Frau sprach», sagte Poirot ruhig. «Eine Frau, die ihr Haus betritt – denn ich nehme an, sie wohnt hier, da sie einen Schlüssel hatte – und schnell die Treppe hinaufstürmt, ohne die zwei fremden Besucher, die sich im Treppenhaus befinden, auch nur anzusehen, ist wirklich als außergewöhnlich zu bezeichnen. Mille tonnerres! Was soll das bedeuten?» Er riss mich zurück – gerade noch zur rechten Zeit. Ein Baumstamm war auf den Weg gestürzt, gerade scharf an uns vorbei. Poirot schaute hin, starr vor Entsetzen.
«Das war sehr knapp! Aber wie konnte ich auch darauf vorbereitet sein – ich hatte keinen Verdacht – wenigstens kaum einen Verdacht. Ja, wenn meine Augen die Situation nicht gleich erfasst hätten, dann dürfte Hercule Poirot wohl jetzt nicht mehr unter den Lebenden sein – ein schrecklicher Verlust für die Welt! Und auch du, mon ami, wärest nicht mehr da, obgleich das nicht eine Katastrophe von solch weltbewegender Bedeutung gewesen wäre», setzte er spöttisch hinzu.
«Vielen Dank», entgegnete ich kühl, «und was werden wir jetzt tun?»
«Tun?», rief Poirot. «Wir werden jetzt nachdenken. Ja, hier, und zwar gleich auf der Stelle werden wir unsere kleinen grauen Zellen in Funktion treten lassen. Dieser Mr Halliday – war er nun tatsächlich in Paris? Ja, denn Professor Bourgoneau, mit dem er bekannt ist, hat ihn gesehen und mit ihm gesprochen.»
«Worauf, in aller Welt, willst du hinaus?», rief ich aus.
«Das war am Freitagmorgen. Er wurde zuletzt Freitag nacht um elf Uhr gesehen – aber hat man ihn wirklich zu dieser Zeit gesehen?»
«Der Portier –»
«Ein Nachtportier, der zudem Halliday vorher noch nie gesehen hatte. Ein Herr betritt das Hotel, anscheinend Halliday – Nummer vier hat sicher für einen Doppelgänger gesorgt –, fragt nach eingegangener Post, geht auf sein Zimmer, packt einen kleinen Koffer und schlüpft heimlich am nächsten Morgen hinaus. Niemand hat Halliday während des ganzen Abends gesehen – niemand, da er sich ja bereits in den Händen seiner Widersacher befand. War es wirklich Halliday, den Madame Olivier empfing? Er muss es gewesen sein, obgleich sie ihn nicht von Angesicht kannte. Einem Unbeteiligten wäre es kaum möglich gewesen, sie auf ihrem Spezialgebiet zu täuschen. Halliday suchte sie also tatsächlich auf, hatte eine Unterredung mit ihr und entfernte sich wieder. Was ereignete sich dann?»
Poirot packte meinen Arm und zog mich förmlich zur Villa zurück.
«Nun, mon ami, stell dir einmal vor, es ist am Tag nach seinem Verschwinden, und wir verfolgen Spuren. Du liebst doch Spuren, nicht wahr? Sieh, hier haben wir solche, und zwar die von Mr Halliday…» Er wandte sich nach rechts, wie wir es vorhin getan hatten, und entfernte sich eilig. «Ah! Andere Schritte folgen ihm mit der gleichen Eile, die Schritte einer Frau. Sieh, jetzt hat sie ihn erreicht – eine schlanke junge Dame in Witwentracht. ‹Pardon, Monsieur, Madame Olivier wünscht, dass ich Sie zurückrufe.› Er stockt und kehrt um. Nun, welchen Weg wählt die junge Dame? Sie will nicht mit ihm gesehen werden. Ist es ein Zufall, dass sie ihn gerade am Zugang eines schmalen Pfades anspricht, der zwei Gärten voneinander trennt? Sie geht ihm voraus und erklärt, dieser Weg sei eine Abkürzung. Zur Rechten befindet sich Madame Oliviers Villa, zur Linken eine andere – und von diesem Gartengrundstück stammt ja der Baum, der vorhin niedergestürzt ist. Die Gartentore der beiden Villen führen auf diesen Pfad heraus. Hier befindet sich der Hinterhalt, einige Männer stürzen sich auf Halliday, überwältigen ihn und schleppen ihn in die fremde Villa.»
«Lieber Himmel, Poirot», rief ich aus, «willst du mir einreden, dass dies alles geschehen ist?»
«Ich sehe es vor meinem geistigen Auge, mon ami. So und nur so kann es passiert sein. Komm, lass uns zum Haus zurückgehen.»
«Willst du Madame Olivier nochmals aufsuchen?»
Poirot lächelte seltsam.
«Nein, Hastings, ich möchte mir gern die Dame genau ansehen, der wir im Treppenhaus begegnet sind.»
«Wofür hältst du sie denn, vielleicht für eine Verwandte von Madame Olivier?»
«Mit größter Wahrscheinlichkeit ist es ihre Sekretärin – und zwar noch nicht lange in ihren Diensten.»