«Denkst du, dass sie etwas tun werden?», fragte ich ungläubig.
«Ich zweifle nicht im Geringsten daran. Sieh, um nochmals zu überlegen, sie haben versucht, mich von England wegzulocken. Dies schlug fehl. Daraufhin kommen wir ihnen in der Dartmoor-Affäre in die Quere und retten ihr Opfer vor dem Galgen. Und gestern durchkreuzten wir wiederum ihre Pläne. Ich versichere dir, dies alles werden sie nicht auf sich beruhen lassen.»
Während ich darüber nachdachte, klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich ein Mann herein und schloss die Tür gleich hinter sich zu. Er war groß und hager, hatte eine leicht gebogene Nase und eine auffallend gelbliche Gesichtsfarbe.
Er trug einen Überzieher, der bis zum Hals hinauf zugeknöpft war, dazu einen weichen Hut, dessen Krempe die Augen fast verbarg.
«Entschuldigen Sie mein unangemeldetes Eindringen, meine Herren», sagte er mit weicher Stimme, «jedoch ist mein Anliegen etwas ungewöhnlicher Art.»
Er ging lächelnd zum Tisch hinüber und setzte sich. Ich war bereits im Begriffe aufzuspringen, jedoch hielt mich Poirot mit einer beredten Geste zurück.
«Wie Sie bereits bemerkten, Monsieur, ist Ihr Besuch wirklich etwas unkonventionell. Wollen Sie so freundlich sein, uns über dessen Zweck Näheres mitzuteilen?»
«Mein lieber Monsieur Poirot, das ist mit wenigen Worten erklärt. Sie haben meine Freunde bitter enttäuscht.»
«In welcher Beziehung?»
«Ach, lassen Sie das, Monsieur Poirot, Sie sind vollkommen im Bild, genau wie ich selbst.»
«Es hängt davon ab, Monsieur, wen Sie als Ihre Freunde betrachten.»
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog der Mann ein Zigarettenetui aus der Tasche, öffnete es, entnahm ihm vier Zigaretten und warf sie auf den Tisch. Dann sammelte er sie wieder ein und versorgte sie in seinem Etui.
«Aha», sagte Poirot, «so ist das gemeint. Und was schlagen Ihre Freunde vor?»
«Sie schlagen vor, Monsieur, dass Sie Ihre sehr beachtlichen Talente zur Aufdeckung von Verstößen gegen das Gesetz entfalten sollten – Sie sollten wieder Ihre frühere Beschäftigung aufnehmen und die Probleme von Damen der Londoner Gesellschaft lösen.»
«Ein sehr friedfertiges Geschäft», bemerkte Poirot, «und angenommen, ich wäre damit nicht einverstanden?»
Der Mann machte eine vielsagende Bewegung.
«Wir würden es natürlich außerordentlich bedauern», setzte er hinzu, «ebenso alle Freunde und Bewunderer von Hercule Poirot. Beileidskundgebungen jedoch, so ehrlich sie auch sein mögen, können einen Toten nicht mehr zum Leben erwecken.»
«Lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig», bemerkte Poirot kopfnickend. «Und angenommen, ich würde mich einverstanden erklären?»
«In diesem Falle bin ich beauftragt, Ihnen eine Entschädigung anzubieten.»
Er zog eine Brieftasche hervor und warf zehn große Banknoten auf den Tisch. «Das ist vorerst einmal ein Beweis unseres guten Willens», sagte er. «Sie werden später zehnmal so viel erhalten.»
«Großer Gott», fuhr ich auf, «wagen Sie im Ernst daran zu denken?»
«Setze dich, Hastings», befahl Poirot in bestimmtem Ton. «Zähme deine guten und ehrenvollen Regungen, und setz dich hin. Ihnen aber, mein Herr, sage ich Folgendes: Was würde mich hindern, die Polizei zu verständigen und Sie verhaften zu lassen, während mein Freund Sie daran hindert, sich davonzumachen?»
«Tun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an, wenn Sie es für ratsam halten», sagte unser merkwürdiger Besucher mit äußerster Ruhe.
«So höre doch endlich auf zu zögern, Poirot», rief ich, «das ist ja nicht mehr auszuhalten. Ruf die Polizei, und lass ihn verhaften.»
Ich erhob mich schnell und stellte mich mit dem Rücken zur Tür.
«Es scheint der einzige Weg zu sein», murmelte Poirot, als wollte er mit sich ins Reine kommen.
«Aber so offensichtlich scheint er Ihnen wohl doch nicht zu sein, was?», sagte unser Besucher mit einem Lächeln.
«Nun entschließe dich doch endlich, Poirot», drängte ich. «Auf deine Verantwortung, mon ami.»
Als er den Hörer aufnahm, sprang der Mann katzenartig auf mich zu. Ich fing ihn auf, und in der nächsten Minute hielten wir uns in eisernem Griff und taumelten durch das Zimmer. Er schwankte und glitt aus, ich fühlte mich bereits im Vorteil, als er vor mir zu Boden fiel. Aber dann, meines Sieges sicher, ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Ich fühlte mich hochgehoben und landete kopfüber, meine Glieder in wüstem Durcheinander, an der Wand. Ich erhob mich zwar sofort, doch die Tür fiel schon hinter meinem Widersacher ins Schloss. Ich rannte hinterher, rüttelte, aber sie war von außen abgeschlossen. Dann entriss ich Poirot den Hörer.
«Ist dort der Empfang? Halten Sie einen Mann auf, der hinaus will, ein großer Mann mit hochgeschlossenem Überzieher und weichem Hut. Er wird von der Polizei gesucht.»
Nur wenige Minuten vergingen, bis wir ein Geräusch auf dem Gang hörten. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde aufgestoßen, und der Direktor des Hotels erschien.
«Wo ist der Mann – haben Sie ihn erwischt?», schrie ich.
«Nein, mein Herr, es ist niemand heruntergekommen.»
«Aber er muss doch an Ihnen vorbeigekommen sein?»
«Mir ist niemand begegnet, Monsieur. Er kann unmöglich entkommen sein.»
«Sie sind sicher jemandem begegnet», sagte Poirot mit gedämpfter Stimme. «Vielleicht jemandem vom Hotelpersonal?»
«Nur einem Kellner mit einem Tablett, Monsieur.»
«Aha», sagte Poirot. «Deshalb also war er zugeknöpft bis zum Kragen.»
Poirot versank in tiefes Nachdenken, nachdem das aufgeregte Hotelpersonal sich endlich entfernt hatte.
«Es tut mir unendlich Leid, Poirot», murmelte ich ziemlich beschämt. «Ich glaubte ihn bereits überwältigt zu haben.»
«Ja, das war nun mal eben ein Judogriff, und nun sei nicht weiter so betrübt, mon ami. Alles verlief planmäßig – und zwar nach seinem Plan. Es ist genau das, was ich erreichen wollte.»
«Was wolltest du bezwecken?», fragte ich, indem ich mich nach einem braunen Gegenstand bückte, der auf dem Fußboden lag. Es war ein dünnes Taschenbuch aus braunem Leder, das unser Besucher während des Kampfes verloren haben musste. Es enthielt zwei quittierte Rechnungen, ausgestellt auf den Namen Felix Laon, und ein zusammengefaltetes Stück Papier, welches mein Herz schneller schlagen ließ. Es war die halbe Seite eines Notizblockes, auf welche einige Worte gekritzelt waren.
«Die nächste Zusammenkunft findet am Freitag um elf Uhr vormittag in der Rue des Echelles Nr.34 statt.» Es war unterzeichnet mit einer großen Zahl – 4.
Und heute war Freitag, die Uhr auf dem Kaminsims zeigte gerade 10.30 Uhr.
«Mein Gott, was für ein Zufall!», rief ich. «Das Schicksal meint es trotzdem gut mit uns. Wir müssen uns unverzüglich auf den Weg machen. Welch erstaunliches Glück.»
«Deshalb ist er also gekommen», murmelte Poirot. «Nun sehe ich ganz klar.»
«Was denn, Poirot? So komm doch endlich!»
Poirot sah mich an, schüttelte den Kopf und lächelte in seiner typischen Art.
«Treten Sie bitte ein!, sagte die Spinne zu der kleinen Fliege. So steht es doch wohl geschrieben in dem Märchen, das die englischen Kindermädchen ihren Schützlingen erzählen, nicht wahr? Nein, nein – sie glauben zwar, mich täuschen zu können – und dennoch durchschaue ich sie.»
«Worauf in aller Welt willst du hinaus, Poirot?»
«Mein lieber Freund, ich bin nach den heutigen Geschehnissen mit mir zu Rate gegangen. War unser Besucher tatsächlich der Meinung, er würde irgendwelche Aussichten haben, mich bestechen zu können? Oder, andernfalls, mich in Angst versetzen und mich zur Einstellung meiner Tätigkeit veranlassen zu können? Es ist kaum anzunehmen. Warum ist er also überhaupt gekommen? Nun, ich durchschaue den ganzen Plan – sehr schlau und durchdacht –, der scheinbare Vorwand, mich entweder bestechen oder abschrecken zu können, sodann der provozierte Kampf, bei dem der Mann absichtlich sein Notizbuch verlor, und nun die Falle! Rue des Echelles, elf Uhr morgens. Ich denke gar nicht daran, mon ami! So leicht kann man Hercule Poirot nicht einfangen.»