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«Allmächtiger Himmel», stammelte ich.

Poirot schaute gedankenverloren vor sich hin. «Es gibt aber noch etwas, das ich durchaus nicht verstehen kann.»

«Das wäre?»

«Die Zeit, Hastings – die Zeit. Wenn sie mich in eine Falle locken wollten, so würde sich doch die Nachtzeit besser dazu eignen. Warum zu so früher Stunde? Ist es vielleicht möglich, dass sich heute Morgen noch irgendetwas anderes ereignet? Etwas, das sie vor mir verbergen wollen?»

Er senkte den Kopf.

«Wir werden sehen. Hier bleibe ich sitzen, mon ami. Wir rühren uns heute Morgen nicht von der Stelle und warten ab, was geschehen wird.»

Es war genau 11.30 Uhr, als der Stein ins Rollen kam: ein Telegramm. Poirot riss es auf und gab es mir. Madame Olivier bat uns darin, unverzüglich nach Passy zu kommen.

Wir kamen der Aufforderung ohne einen Augenblick zu zögern nach. Madame Olivier empfing uns in demselben kleinen Salon. Ich war von neuem tief beeindruckt von der wundervollen Erscheinung dieser Nachfolgerin von Becquerel und den Curies, ihrem schmalen, nonnenhaften Gesicht und ihren ausdrucksvollen Augen.

Sie kam sogleich zur Sache.

«Messieurs, Sie stellten mir gestern einige Fragen in Verbindung mit dem Verschwinden von Mr Halliday. Ich erfahre soeben, dass Sie ein zweites Mal hierher zurückkehrten, um meine Sekretärin, Inez Veroneau, zu sehen. Sie verließ das Haus mit Ihnen und ist bis jetzt noch nicht zurückgekommen.»

«Ist das alles, Madame?»

«Nein, Monsieur, nicht alles; letzte Nacht wurde in mein Laboratorium eingebrochen, und es wurden mehrere wertvolle Papiere und Aufzeichnungen gestohlen. Die Diebe haben versucht, noch etwas weit Wertvolleres zu stehlen, aber glücklicherweise konnten sie den großen Safe nicht öffnen.»

«Madame, ich möchte Sie von folgenden Tatsachen unterrichten. Ihre frühere Sekretärin, Madame Veroneau, ist in Wirklichkeit die Gräfin Rossakoff, eine Expertin im Diebstahl, und sie war auch verantwortlich für das Verschwinden von Mr Halliday. Wie lange stand sie schon in Ihren Diensten?»

«Fünf Monate, Monsieur. Was Sie mir da berichten, beunruhigt mich in höchstem Maße.»

«Leider ist es so. Waren diese verschwundenen Unterlagen leicht zu finden, oder nehmen Sie an, dass ein Eingeweihter an dem Verschwinden beteiligt ist?»

«Allerdings ist es ziemlich seltsam, dass die Diebe genau wussten, wo sie zu suchen hatten. Denken Sie etwa, dass Inez –?»

«Ja, ich zweifle keine Minute daran, dass der Diebstahl auf Grund ihrer Informationen erfolgte. Aber was ist das weit Wertvollere, das die Diebe nicht finden konnten? Etwa Juwelen?»

Madame Olivier schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln.

«Weitaus wertvoller als das, Monsieur.» Sie sah sich vorsichtig um, beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme: «Radium, Monsieur.»

«Radium?»

«Ja, ich bin jetzt bei dem schwierigsten Punkt meiner Experimente angelangt und besitze selbst ein kleines Quantum davon – jedoch wurde mir eine größere Menge für den Fortgang meiner Arbeiten leihweise zur Verfügung gestellt. So klein auch in Wirklichkeit das Quantum ist, so stellt es doch einen beträchtlichen Teil dessen dar, was in der ganzen Welt vorhanden ist, und somit den Wert von vielen Millionen Francs.»

«Und wo befindet es sich zur Zeit?»

«In einem Bleibehälter in dem großen Safe. – Der Safe scheint altmodisch und leicht zu öffnen;, doch in Wirklichkeit ist er ein Meisterstück in seiner Art. Das war wahrscheinlich der Grund, warum die Diebe ihn nicht öffnen konnten.»

«Wie lange behalten Sie das Radium noch in Ihrem Besitz?»

«Nur noch zwei Tage, Monsieur, dann sind meine Versuche abgeschlossen.»

Poirots Augen funkelten.

«Und weiß Inez Veroneau davon? Ja? Dann ist es gut; unsere Freunde werden ihren Versuch wiederholen. Kein Wort davon zu irgendjemand, Madame, und seien Sie versichert, Ihr Radium wird Ihnen erhalten bleiben. Haben Sie einen Ersatzschlüssel zur Tür, die zum Garten führt?»

«Ja, Monsieur, hier ist er. Ich habe noch einen gleichen in meinem Besitz. Und hier haben Sie auch den Schlüssel zum Gartentor, welches in den Gartenweg zwischen den anliegenden Villen führt.»

«Ich danke Ihnen, Madame. Heute Nacht gehen Sie bitte wie gewöhnlich schlafen, haben Sie keine Furcht, und überlassen Sie alles Weitere mir. Aber, bitte, zu niemand auch nur ein Wort – auch nicht zu Ihren Assistenten, Mademoiselle Claude und Monsieur Henri, nicht wahr? – Besonders nicht zu diesen beiden.» Poirot verließ die Villa und rieb sich zufrieden die Hände.

«Was werden wir jetzt tun?», fragte ich.

«Jetzt, Hastings, werden wir Paris verlassen – und nach England abreisen.»

«Warum das?»

«Wir werden unsere Koffer packen, zusammen essen und dann zur Gare du Nord fahren.»

«Und das Radium?»

«Ich sagte, wir werden nach England abreisen – ich meinte damit aber nicht, dass wir dort auch ankommen werden. Überlege bitte einen Moment, Hastings. Es ist so gut wie sicher, dass wir beobachtet und verfolgt werden. Wir müssen unsere Widersacher in dem Glauben lassen, dass wir zurück nach England fahren, und sie werden dies nicht eher glauben, als bis sie uns tatsächlich den Zug besteigen und abfahren sehen.»

«Hast du die Absicht, im letzten Moment aus dem Zuge zu springen?»

«Nein, Hastings, unsere Widersacher werden sich mit einer scheinbaren Abreise nicht begnügen.»

«Aber der Zug hält nicht vor Calais!»

«Er wird halten, wenn man dafür bezahlt.»

«Du bist im Irrtum, Poirot – keinesfalls darfst du dem Zugpersonal ein solches Anerbieten machen, sie würden es zurückweisen.»

«Mein lieber Freund, hast du noch nie den kleinen Handgriff bemerkt, die Notbremse? Die Strafe für widerrechtliches Benutzen beträgt 100 Francs, wenn ich nicht irre.»

«Ach so, diese willst du betätigen.»

«Nicht gerade ich selbst, sondern ein Bekannter von mir wird es tun, Pierre Combeau. Dann, während er vom Personal zur Rede gestellt wird, eine große Szene macht und alle Fahrgäste interessiert herumstehen, werden wir beide uns heimlich, still und leise aus dem Staube machen.»

Wir führten Poirots Plan wie verabredet aus. Pierre Combeau, ein alter Freund von Poirot, der dessen kleine Eigenarten zur Genüge kannte, traf die notwendigen Vorkehrungen. Die Notbremse wurde betätigt, als wir die letzten Vorstädte von Paris passierten. Combeau inszenierte alles in der üblichen erregten Art, die den Franzosen eigen ist, während Poirot und ich den Zug verließen, ohne von irgendjemand beobachtet zu werden. Unsere nächste Aufgabe bestand darin, uns ein vollständig verändertes Aussehen zuzulegen. Poirot hatte wiederum vorgesorgt und trug alles in einer kleinen Tasche bei sich. Wir aßen in einem bescheidenen kleinen Restaurant zu Abend und machten uns danach auf den Rückweg nach Paris. Es war kurz vor elf Uhr, als wir in die Nähe von Madame Oliviers Villa gelangten. Zuerst beobachteten wir sorgfältig die ganze Straße, bevor wir in den kleinen Gartenweg schlüpften. Die Umgebung schien vollkommen menschenleer. Eines war sicher: Niemand war uns gefolgt.

«Um diese Zeit erwarte ich sie noch nicht», flüsterte Poirot, «möglicherweise kommen sie gar nicht vor morgen Nacht. Sie wissen, dass nur zwei Nächte verbleiben, in denen das Radium noch greifbar ist.»

Wir benutzten den Schlüssel zum Gartentor mit äußerster Vorsicht, es öffnete sich lautlos, und wir schlüpften in den Garten. Doch gleich danach geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Innerhalb einer Minute waren wir umzingelt, gebunden und geknebelt. Mindestens zehn Männer mussten uns überwältigt haben. Jeglicher Widerstand wäre nutzlos gewesen, und wie zwei hilflose Bündel wurden wir aufgehoben und fortgetragen. Zu meinem größten Erstaunen trug man uns zum Hause hin, und nicht in entgegengesetzter Richtung. Mit einem Schlüssel wurde das Laboratorium geöffnet, und wir wurden hineingetragen. Einer der Männer machte sich vor dem großen Safe zu schaffen, und die Tür sprang auf. Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte mich; wollten sie uns darin verbergen und langsam ersticken lassen? Jedoch zu meiner größten Überraschung bemerkte ich, dass innerhalb des Safes einige Stufen zu darunter liegenden Räumen führten. Wir wurden die enge Treppe hinuntergeworfen und befanden uns endlich in einer unterirdischen Kammer. Eine Frau stand vor uns, groß und imposant, mit einer schwarzen Samtmaske vor dem Gesicht. Sie war offenbar die Anführerin und ließ durch ihre Gesten ihre Autorität erkennen.