«Ich finde es nur zu natürlich, dass er darüber etwas aufgebracht ist», entgegnete ich.
«Nein, nein, du begreifst nicht, was ich meine. Denk doch bitte an die Worte Mayerlings, des Mannes, der hier bei uns Zuflucht suchte – und trotzdem in die Hände seiner Widersacher fieclass="underline" Nummer zwei wird bezeichnet durch ein S mit zwei Strichen, sagte er damals – das Dollarzeichen, ebenso durch zwei Striche durch einen Stern. Es spricht alles dafür, dass er ein amerikanischer Bürger ist und dass hinter ihm die Macht des Geldes steht. Erinnerst du dich daran, dass Ryland mir eine Riesensumme bot, um mich zu bewegen, England zu verlassen? Was sagst du nun dazu, Hastings?»
«Willst du damit andeuten», erwiderte ich, ihn groß anblickend, «dass Abe Ryland, der Multimillionär, im Verdacht steht, Nummer zwei der Großen Vier zu sein?»
«Dein klarer Verstand hat das Richtige getroffen, Hastings. Ja, ich bin dieser Ansicht. Deine Betonung des Wortes ‹Multimillionär› ist vielsagend – doch lasse dich von mir noch ganz besonders auf folgende Tatsache hinweisen: Diese Angelegenheit wird von Leuten geleitet, die zur Spitzenklasse gehören – und Mr Ryland steht dazu noch in dem Rufe, in geschäftlichen Dingen keinen Spaß zu verstehen. Er ist ein durchaus fähiger und dazu skrupelloser Mann, dem unbegrenzte Mittel für seine Zwecke zur Verfügung stehen.»
Zweifellos bedurfte die Betrachtung Poirots noch einer weiteren Erklärung, und so fragte ich ihn, wann er zu dieser Überzeugung gekommen sei.
«Das ist ja gerade der wunde Punkt; ich bin meiner Sache noch nicht ganz sicher und kann es auch noch gar nicht sein. Mon ami, ich würde viel darum geben, untrügliche Beweise zu haben. Vorerst wollen wir annehmen, dass Mr Ryland tatsächlich Nummer zwei ist, so nähern wir uns etwas mehr unserem Ziel.»
«Hieraus ersehe ich», sagte ich und deutete auf den Brief, «dass er gerade in London eingetroffen ist. Willst du ihn persönlich aufsuchen, um dich zu entschuldigen?»
«Das könnte ich immerhin tun.»
Zwei Tage später betrat Poirot unsere Wohnung in einem Zustand äußerster Erregung. Er begrüßte mich stürmisch und ergriff mich an beiden Händen.
«Mein Freund, eine einzigartige Gelegenheit, beispiellos und einmalig, hat sich uns geboten. Es handelt sich um ein gefährliches, ein sehr gefährliches Unternehmen. Ich wage es kaum, dich zu fragen, ob du darauf eingehen willst.»
Wenn Poirot versuchte, mir irgendwie bange zu machen, so täuschte er sich, und das ließ ich auch durchblicken. Nach einigem Zögern entwickelte er mir seinen Plan.
Er hatte erfahren, dass Ryland nach einem englischen Sekretär suchte, der sowohl gute Umgangsformen wie auch eine repräsentative Erscheinung in sich vereinigte. Poirot schlug mir vor, mich um diesen Posten zu bewerben.
«Ich würde es selbst tun, mon ami», erklärte er mir, sich beinahe entschuldigend. «Aber du wirst einsehen, dass es mir kaum gelingen würde, mein Aussehen genügend zu verändern. Ich spreche zwar ganz gut Englisch – ausgenommen dann, wenn ich erregt bin –, aber doch nicht so gut, um das Ohr eines Amerikaners zu täuschen; ich bin sogar bereit, meinen Schnurrbart zu opfern, ich befürchte jedoch, trotzdem als Hercule Poirot erkannt zu werden.»
Ich teilte seine Befürchtungen und erklärte mich bedingungslos bereit, die Rolle des Sekretärs zu übernehmen, um mich in Rylands Haus einzuschmuggeln.
«Ich wette aber zehn zu eins, dass er mich gleichwohl nicht engagiert», bemerkte ich.
«O doch, er wird es tun. Ich werde für dich so glänzende Empfehlungen besorgen, dass er sich sämtliche Finger lecken wird. Der Staatssekretär persönlich wird dir seine Empfehlung geben.»
Das schien mir doch reichlich übertrieben zu sein, aber Poirot beseitigte meine Einwände.
«Mais oui, er wird dir sogar eine erstklassige Empfehlung geben. Ich habe ihm nämlich seinerzeit in einer Angelegenheit einen Gefallen getan, wo ein Riesenskandal vermieden werden konnte. Die Sache wurde diskret und sorgfältig beigelegt, und nun ist er mir verpflichtet und frisst mir – um mit seinen eigenen Worten zu sprechen – wie ein Vogel aus der Hand.»
Unsere erste Aufgabe war es, die Dienste eines Maskenbildners zu gewinnen. Es war ein kleiner Mann mit einem wunderlichen Vogelgesicht, nicht unähnlich dem meines Freundes Poirot. Erst betrachtete er mich eine Weile schweigend und machte sich sodann an die Arbeit. Als ich etwa eine halbe Stunde später in den Spiegel sah, war ich begeistert. Ein Paar Schuhe spezieller Machart ließen mich fast fünf Zentimeter größer erscheinen, und der Anzug, den ich trug, war so gearbeitet, dass ich darin hochaufgeschossen und hager aussah.
Meine Augenbrauen waren so geschickt hergerichtet, dass sie meinem Gesicht ein völlig anderes Aussehen gaben, meine Wangen waren durch einen Backenbart verdeckt, und die tiefe Bräune meines Gesichts war verschwunden. Meine Oberlippe war glatt rasiert, und ein Goldzahn trat auffällig im Mundwinkel in Erscheinung.
«Dein Name ist Arthur Neville», sagte Poirot. «Und nun behüt dich Gott, mein Freund, denn wie ich dir schon sagte, ist die Sache keinesfalls ungefährlich.»
Mit Herzklopfen begab ich mich zu der von Ryland festgesetzten Zeit zum «Savoy-Hotel» und bat, vorgelassen zu werden. Nachdem ich einige Minuten gewartet hatte, wurde ich in seine Suite geführt.
Ryland saß an einem Schreibtisch und hielt einen Brief in der Hand, dessen Handschrift ich mit einem verstohlenen Blick als die des Staatssekretärs erkennen konnte. Ich sah den amerikanischen Millionär zum ersten Male, und ich war wider Willen beeindruckt. Er war groß und schlank, mit hervorspringendem Kinn und leicht gebogener Nase. Seine Augen blitzten kalt und grau hinter buschigen Augenbrauen. Er hatte dichtes, angegrautes Haar und rauchte eine dicke, schwarze Zigarre – ohne die er, wie ich später erfuhr, niemals zu sehen war –, die ihm lässig aus dem Mundwinkel herabhing.
«Setzen Sie sich», grunzte er.
Während ich Platz nahm, klopfte er auf den vor ihm liegenden Brief.
«Nach diesem Schreiben hier sind Sie der richtige Mann für mich, und ich brauche mich nicht weiter umzusehen. Sagen Sie, sind Sie mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut?»
Ich erwiderte, dass ich glaubte, seinen diesbezüglichen Anforderungen entsprechen zu können.
«Sagen Sie mir zum Beispiel, falls ich eine Party für Herzöge, Grafen, Barone und dergleichen auf meinem Landsitz veranstalten würde, wären Sie in der Lage, diese nach der Rangordnung beim Dinner zu platzieren?»
«Selbstverständlich, ohne irgendwelche Schwierigkeiten», antwortete ich lächelnd.
Wir erörterten noch einige Formalitäten, und dann konnte ich mich als engagiert betrachten. Was Mr Ryland wünschte, war ein Privatsekretär, der vertraut sein musste mit den Gepflogenheiten der englischen Gesellschaft, außerdem hatte er noch einen Sekretär und eine Korrespondentin. Zwei Tage später fuhr ich hinaus nach «Hatton Chase», dem Landsitz des Herzogs von Loamshire, den der amerikanische Millionär für die Dauer von sechs Monaten gemietet hatte.
Meine Obliegenheiten verursachten mir keinerlei Schwierigkeiten, und da ich bereits früher in meinem Leben Privatsekretär eines aktiven Parlamentsmitgliedes gewesen war, fühlte ich mich jeder Situation gewachsen. Mr Ryland veranstaltete gewöhnlich an jedem Wochenende eine große Party, jedoch verlief der Rest der Woche vollkommen ruhig. Ich sah sehr wenig von Mr Appleby, dem amerikanischen Sekretär, doch schien er mir ein angenehmer, typischer Amerikaner und sehr gewissenhaft in seiner Arbeit zu sein. Miss Martin, die Korrespondentin, sah ich ziemlich oft. Sie war ein hübsches Mädchen von etwa drei- bis vierundzwanzig Jahren, mit rotbraunem Haar und braunen Augen, die ab und zu sehr schelmisch dreinblicken konnten, doch für gewöhnlich hielt sie sie züchtig gesenkt. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihren Arbeitgeber weder schätzte noch ihm vertraute, obschon sie natürlich sorgfältig darauf bedacht war, sich nichts anmerken zu lassen. Es kam jedoch die Zeit, als ich unerwartet in ihr Vertrauen gezogen wurde. Ich hatte alle Mitglieder des Haushaltes genau überprüft. Einige der Bediensteten waren neu engagiert worden, nämlich ein Diener und ein Hausmädchen. Der Butler, die Wirtschafterin und die Köchin gehörten zum Stammpersonal des Herzogs und hatten sich bereit erklärt, im Hause zu bleiben. Die Hausmädchen erschienen mir unwichtig. Mit James, dem zweiten Diener, befasste ich mich zuerst sehr eingehend, jedoch wurde mir bald klar, dass er nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Er war durch den Butler eingestellt worden. Eine Person, der ich weitaus mehr Beachtung schenkte, war Deaves, Rylands Kammerdiener, den er von New York mitgebracht hatte. Ein gebürtiger Engländer, unnahbar, der auf mich einen verdächtigen Eindruck machte. Drei Wochen war ich bereits in «Hatton Chase», doch kein auch noch so geringer Vorfall hatte sich ereignet, der Anlass gegeben hätte, unsere Theorie zu bestärken. Auch nicht eine Spur von der Tätigkeit der Großen Vier war zu entdecken. Mr Ryland verkörperte einen Mann von überwältigender Macht und Persönlichkeit, so dass ich bereits glaubte, Poirot habe einen Irrtum begangen, als er ihn mit dieser gefürchteten Organisation in Verbindung brachte. Ich hörte sogar, dass er den Namen von Poirot während eines Dinners erwähnte. «Ein wundervoller kleiner Herr, sagt man, aber er ist etwas unzuverlässig. Wie konnte man das ahnen? Ich übertrug ihm einen Auftrag, und er ließ mich im letzten Augenblick im Stich. Ich halte seit dieser Zeit nicht mehr sehr viel von dem beliebten Monsieur Hercule Poirot!»