Die Wirtschafterin beantwortete diese Fragen zwar bereitwillig, konnte sich jedoch deren Zweck nicht recht erklären.
Am folgenden Morgen wurde eine furchtbare Entdeckung gemacht. Eines der Hausmädchen bemerkte beim Herunterkommen einen beißenden Geruch von verbranntem Fleisch, der aus dem Arbeitszimmer ihres Herrn zu kommen schien. Sie versuchte die Tür zu öffnen, diese war jedoch von innen verschlossen. Mit Hilfe Gerald Paynters und des Chinesen hatte man die Tür aufgebrochen. Mr Paynter bot einen grauenhaften Anblick. Er war vorwärts in den Gaskamin gestürzt, Kopf und Gesicht waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt.
Im Moment fand sich natürlich keine andere Erklärung als die eines grässlichen Unfalls. Wenn irgendjemand eine Schuld treffen konnte, so war es Dr. Quentin, der seinem Patienten ein Narkotikum verabfolgt und ihn in einem solch bedenklichen Zustand unbeaufsichtigt gelassen hatte. Doch dann wurde eine sehr merkwürdige Entdeckung gemacht.
Man fand eine Zeitung, die offensichtlich von Mr Paynters Knien herabgefallen war. Bei näherer Betrachtung waren undeutlich mit Tinte gemalte Worte darauf zu erkennen. Ein Schreibtisch befand sich nahe dem Sessel, wo Paynter sich gewöhnlich ausruhte, und der Zeigefinger seiner rechten Hand war bis zum zweiten Glied mit Tinte befleckt. Es war klar, dass Mr Paynter, zu schwach, eine Feder zu halten, seinen Finger in ein Tintenfass getaucht und es fertig gebracht hatte, zwei Worte quer über die Zeitungsseite zu malen – aber die Worte selbst erschienen völlig sinnlos. Gelber Jasmin – nur diese beiden Worte.
Die Mauern von ‹Croftlands› waren dicht mit Jasmin bewachsen, und man glaubte, dass Mr Paynters Bewusstsein schon getrübt gewesen war, als er die Worte niederschrieb. Die sensationslüsternen Zeitungen griffen die Geschichte auf und nahmen sie zum Anlass, diesen Fall als das ‹Geheimnis des gelben Jasmins› zu bezeichnen, obgleich aller Wahrscheinlichkeit nach die Worte gänzlich unwichtig waren.»
«Du hältst sie für unwichtig?», warf Poirot ein. «Nun, wenn du es sagst, so muss es auch wohl stimmen.»
Ich sah ihn ungläubig an, konnte jedoch keinen Spott in seinen Augen wahrnehmen.
«Und dann», fuhr ich fort, «kamen die aufregenden Enthüllungen der Leichenschau. Nun ist der Moment gekommen, wo du wahrscheinlich die Lippen spitzt, nehme ich an.
Der Verdacht richtete sich zuerst gegen Dr. Quentin. Erstens war er nicht der Hausarzt, sondern nur der Vertreter des Hausarztes Dr. Bolitho. Es stellte sich heraus, dass der Unfall auf Unachtsamkeit zurückzuführen war. Mr Paynter war seit seiner Ankunft in ‹Croftlands› etwas kränklich gewesen. Dr. Bolitho hatte ihn einige Zeit behandelt, jedoch als Dr. Quentin seinen Patienten das erste Mal sah, fielen ihm gewisse Krankheitssymptome besonders auf. Er hatte ihn nur einmal gesehen, und zwar an dem Abend, als nach dem Dinner zu ihm geschickt wurde.
Sobald er mit Mr Paynter allein war, hatte dieser ihm eine überraschende Eröffnung gemacht. Er betonte gleich zu Anfang ausdrücklich, er fühle sich überhaupt nicht krank, doch erklärte er, der Geschmack des Currys, den er zum Dinner gegessen hatte, habe ihn befremdet. Er habe Ah Ling für einige Minuten zu entfernen gewusst und habe den Inhalt der Schüssel in einen anderen Behälter getan. Er hatte diesen dem Arzt mit der Bitte übergeben, Untersuchungen anzustellen, ob irgendetwas beigemischt worden sei. Trotz seiner Erklärung, er fühle sich nicht krank, bemerkte der Arzt, dass der Verdacht augenscheinlich eine Schockwirkung bei dem Patienten ausgelöst hatte und sein Herz davon in Mitleidenschaft gezogen war. Deshalb hielt er eine Injektion für angebracht. Keine von narkotisierender Wirkung, sondern nur eine Dosis Strychnin. Das, denke ich, wäre alles, was über diese Angelegenheit zu sagen wäre – abgesehen von der Tatsache, dass der analysierte Curry genug Opiumpulver enthalten hatte, um gleich zwei Menschen auf der Stelle zu töten.»
Eine Pause trat ein. «Und deine abschließende Meinung, Hastings?», fragte Poirot mit Gelassenheit.
«Das ist sehr schwer zu sagen. Es könnte sich immerhin um einen Unfall handeln; die Tatsache, dass jemand versucht hat, ihn an demselben Abend zu vergiften, könnte lediglich ein Zufall sein. Du glaubst zwar nicht daran und ziehst es vor, an einen Mord zu denken, oder etwa nicht?»
«Mon ami, deine Gedankengänge und die meinigen bewegen sich nicht in der gleichen Richtung. Ich versuche nicht, zwischen zwei gegensätzlichen Möglichkeiten zu entscheiden – Mord oder Unfall –, das wird sich ergeben, wenn wir das andere Problem gelöst haben, das Geheimnis des gelben Jasmins. Außerdem hast du etwas vergessen.»
«Du denkst wohl an die zwei Striche, die rechtwinklig zueinander undeutlich unter den zwei Worten erkennbar waren. Ich bin nicht der Meinung, dass sie von irgendwelcher Wichtigkeit sein könnten.»
«Es ist alles immer ganz unwichtig für dich, lieber Hastings. Doch lasse uns vom Geheimnis des gelben Jasmins zu dem des Currys übergehen.»
«Wer vergiftete Paynter und aus welchem Grunde? Es gibt hundert Fragen, die man stellen könnte. Ah Ling hat ihm das Essen zubereitet. Aber warum sollte er gewünscht haben, seinen Herrn zu töten? Ist er Mitglied eines Geheimbundes oder dergleichen? Man liest gelegentlich von diesen Dingen. Der Geheimbund vom gelben Jasmin vielleicht? Ferner haben wir noch nicht von Gerald Paynter gesprochen.»
Ich verstummte.
«Ganz recht», bekräftigte Poirot und nickte. «Wie du ganz richtig sagst, bleibt da noch Gerald Paynter. Er ist der alleinige Erbe seines Onkels, und er hat an dem betreffenden Abend auswärts gegessen.»
«Es ist ihm aber vielleicht gelungen, etwas unter die Zutaten des Currys zu mischen», warf ich ein. «In diesem Fall musste er abwesend sein, um nicht an der Mahlzeit teilnehmen zu müssen.»
Ich glaubte zu bemerken, dass Poirot durch meine Erwägungen ziemlich beeindruckt war. Er betrachtete mich mit weitaus größerer Aufmerksamkeit, als es sonst seine Art war.
«Er kommt spät zurück», fuhr ich mit der Schilderung nachdenklich fort, den vermutlichen Verlauf rekonstruierend, «sieht Licht in des Onkels Arbeitszimmer, tritt ein, und bei der Erkenntnis, dass sein Plan fehlgeschlagen ist, stößt er seinen Onkel in den Gaskamin.»
«Mr Paynter, ein ziemlich kräftiger Mann, hätte sich bestimmt gewehrt, Hastings; eine solche Annahme ist unglaubwürdig.»
«Well, Poirot», fuhr ich fort, «ich denke, wir sind nahe an der Lösung, nun lasse mich bitte deine Meinung hören!»
Poirot lächelte, warf sich in die Brust und begann mit geheimnisvoller Miene:
«Bei der Annahme, dass es ein Mord war, erhebt sich sogleich die Frage, warum diese sonderbare Methode gewählt wurde. Ich sehe hierfür nur eine Absicht, nämlich eine Identifizierung unmöglich zu machen und das Gesicht zur Unkenntlichkeit verbrennen zu lassen.»
«Wie», rief ich aus, «denkst du etwa –??»
«Einen Augenblick Geduld, Hastings. Ich bin gerade dabei, dir zu erklären, dass ich diese Möglichkeit untersuche. Gibt es irgendeinen Grund zur Annahme, dass der Tote nicht Mr Paynter ist? Besteht die Möglichkeit, dass es jemand anders sein könnte? Ich erwäge diese zwei Fragen und beantworte beide in negativem Sinn.»
Poirot zwinkerte mit seinen Augen und fuhr dann fort.
«Da ich mir nun selbst sage, dass hier noch etwas mitspricht, was ich noch nicht verstehen kann, tue ich gut daran, die ganze Sache noch einmal gründlich zu untersuchen. Ich kann es mir nicht erlauben, diesen Fall ohne weiteres in Verbindung mit den Großen Vier zu bringen. Doch wir sind gleich an Ort und Stelle. Wo ist meine Kleiderbürste, wo hat sie sich wieder versteckt? Ah, hier ist sie schon – bürste mich bitte etwas ab, mein Freund.»