Als Poirot seine Kleiderbürste verstaut hatte, bemerkte er gedankenvolclass="underline" «Man darf nicht immer von ein und derselben Idee besessen sein; ich war gerade wieder dabei, in diesen alten Fehler zu verfallen. Stell dir vor, mein Freund, ich komme sogar in diesem Fall in Versuchung, geheime Fäden zu sehen. Jene beiden Striche, die du erwähntest, einen Abstrich und dazu einen Strich im rechten Winkel – beginnt man nicht so, eine Vier zu schreiben?»
«Du meine Güte, Poirot», rief ich lachend.
«Ja, ist das nicht geradezu absurd? Überall sehe ich die Hand der Großen Vier. Es wäre gut, deine Gedanken einmal in eine ganz andere Richtung schweifen zu lassen. Ah, da kommt ja unser Freund Japp.»
10
Der Inspektor von Scotland Yard, der uns auf dem Bahnhof erwartete, begrüßte uns freundschaftlich.
«Nun, Monsieur Poirot, gut, dass Sie kommen. Ich habe mir schon gedacht, Sie würden gern dabei sein. Eine mysteriöse Angelegenheit, nicht wahr?»
Es war offensichtlich, dass Japp vollkommen im Dunkeln tappte und von Poirot einen Fingerzeig erwartete.
Japps Wagen stand vor dem Bahnhof, und wir fuhren sofort nach «Croftlands». Es war ein quadratisches weißes Haus, ziemlich bescheiden und mit wildem Wein und Jasmin bewachsen. Japp betrachtete es mit gleichem Interesse, wie wir es taten. «Der arme Kerl muss durch den Duft berauscht gewesen sein, als er seine letzten Worte schrieb», bemerkte er. «Hatte vielleicht Halluzinationen und war der Annahme, sich außerhalb des Hauses zu befinden.»
Poirot schien ziemlich belustigt durch seine Worte.
«Was war es nun, mein guter Japp», fragte er, «Unfall oder Mord?»
Der Inspektor schien etwas verlegen bei dieser Frage.
«Well, wenn nicht die Curry-Angelegenheit mitspielen würde, hätte ich einen Unfall angenommen. Es klingt nun einmal unglaubwürdig, einen lebendigen Menschen mit dem Kopf ins Feuer zu stoßen; das ganze Haus wäre doch bei seinem Geschrei zusammengelaufen.»
«Ah», sagte Poirot mit leiser Stimme, «was bin ich doch für ein Narr. Ein dreifacher Idiot. Sie sind doch bedeutend klüger als ich, Japp!»
Der Inspektor war sichtlich erstaunt über dieses Kompliment, denn er kannte Poirot nicht von dieser Seite. Er wurde rot und murmelte verlegen, dass noch eine Menge Unklarheiten bestünden.
Er führte uns sodann durch das Haus zu dem Raum, in dem sich die Tragödie abgespielt hatte – Mr Paynters Arbeitszimmer. Es war ein breiter, niedriger Raum mit Bücherregalen an den Wänden und großen ledernen Armsesseln.
Poirot interessierte sich sogleich für das Fenster, welches Aussicht auf eine mit Kies bestreute Terrasse bot.
«War das Fenster unverschlossen?», fragte er.
«Das ist natürlich von wesentlicher Bedeutung. Als der Arzt den Raum verließ, zog er nur die Tür hinter sich zu. Am nächsten Morgen wurde sie jedoch verschlossen vorgefunden. Wer hat sie abgeschlossen, vielleicht Mr Paynter selbst? Ah Ling erklärt, dass das Fenster geschlossen und verriegelt war. Dr. Quentin andererseits meint, dass es geschlossen, jedoch nicht verriegelt war, aber er kann es keinesfalls beschwören. Wenn er hierzu in der Lage wäre, würden wir um ein gutes Stück weiterkommen. Wenn der Mann tatsächlich getötet wurde, hat jemand den Raum entweder durch die Tür oder das Fenster betreten – falls durch die Tür, dürfte es sich um Täter handeln, die zum Haus gehören, falls durch das Fenster, könnte es auch ein Fremder gewesen sein. Als die Tür aufgebrochen war, öffnete das Mädchen zuerst das Fenster; jedoch ist sie ein ganz unzuverlässiger Zeuge – will sich beim Verhör an nichts erinnern können!»
«Wie verhält es sich mit dem Schlüssel?», wollte Poirot wissen.
«Das ist auch wieder so eine Sache; er befand sich unter den Trümmern der zerbrochenen Tür. Er könnte aus dem Schlüsselloch gefallen sein, ebenso gut durch einen der Eintretenden fallen gelassen oder von draußen unter der Tür hereingeschoben worden sein.»
«So sind also tatsächlich alle Möglichkeiten vorhanden?»
«Sie haben es erraten, Monsieur Poirot, gerade so ist es.»
Poirot schaute sich mit finsteren Blicken um. «Ich bin noch völlig im Unklaren», murmelte er, «eben noch glaubte ich einen Lichtschimmer zu sehen, doch schon ist alles wieder in Dunkel gehüllt. Ich habe überhaupt keine Anhaltspunkte – und gar kein Motiv.»
«Der junge Paynter hat ein gutes Motiv», bemerkte Japp ernst. «Ich kann Ihnen verraten, dass er ein ziemlich leichtfertiges Leben geführt hat, dazu war er sehr extravagant. Im Übrigen wissen Sie selbst, dass man bei Künstlern nach Moral geradezu suchen muss.»
Poirot schenkte Japps Betrachtungen über die Eigenart von Künstlern wenig Beachtung, stattdessen lächelte er vielsagend.
«Mein guter Japp, ist es möglich, dass Sie mir Sand in die Augen streuen wollen? Ich weiß nur zu gut, dass es der Chinese ist, den Sie verdächtigen. Aber Sie beschreiten seltsame Wege. Sie wünschen, dass ich Ihnen helfen soll, und gleichzeitig versuchen Sie die Fährte zu verwischen.»
Japp brach in schallendes Gelächter aus.
«Das sind wieder einmal unverkennbar Sie selbst, Monsieur Poirot. Jawohl, ich tippe auf den Chinesen, ich gebe es zu. Es besteht kein Zweifel darüber, dass er es war, der den Curry anrichtete, und wenn er an jenem Abend versuchte, seinen Herrn zu beseitigen, so dürfte er es zum zweiten Male ebenfalls getan haben.»
«Ich möchte gern ergründen, ob er das beabsichtigte», sagte Poirot leise.
«Aber es ist das Motiv, das noch fehlt. Könnte man heidnische Rachgier oder dergleichen annehmen?»
«Und dann noch etwas», fuhr Poirot fort. «Bestehen irgendwelche Anzeichen von Raub? Ist nichts abhanden gekommen, wie Juwelen, Geld oder Wertpapiere?»
«Nein, das nicht gerade, aber –»
Ich spitzte die Ohren.
«Es ist zwar kein Raub festgestellt worden», erklärte Japp, «nur war Mr Paynter gerade im Begriff, ein Buch zu schreiben. Wir erhielten heute Morgen durch den Brief eines Verlegers davon Kenntnis, der darin ein Manuskript erwähnte. Es hat den Anschein, als wenn das Werk gerade fertig gestellt war. Der junge Paynter und ich haben gemeinsam den Raum von oben bis unten durchsucht, aber keine Spur davon entdeckt – er muss es irgendwo anders versteckt haben.»
Poirots Augen bekamen den grünen Schimmer, den ich so gut kannte.
«Wie war der Titel des Werkes?», fragte er.
«Die geheime Hand in China, soweit ich mich erinnern kann.»
«Aha», rief Poirot, tief Luft holend. Dann sagte er schnelclass="underline" «Rufen Sie mir bitte den Chinesen Ah Ling!»
Der Chinese wurde gerufen und erschien mit der den Chinesen eigenen Gangart niedergeschlagenen Blickes und mit baumelndem Zopf. Sein unbewegliches Gesicht verriet keine Spur innerer Erregung.
«Ah Ling», sagte Poirot, «bist du traurig, dass dein Herr tot ist?»
«Ich sehr traurig, er guter master.»
«Weißt du, wer ihn getötet hat?»
«Ich nicht wissen, ich erzählen policeman, wenn ich wissen.»
Fragen und Antworten gingen hin und her. Mit demselben unbewegten Gesichtsausdruck schilderte Ah Ling, wie er den Curry zubereitet hatte. Der Koch hatte nichts damit zu schaffen gehabt, erklärte er, keine anderen Hände als die seinen hätten die Speise berührt. Ich wunderte mich, dass er nicht sah, wohin seine Erklärungen führten. Er blieb auch dabei, das Fenster zur Terrasse an jenem Abend verriegelt zu haben. Wenn es am Morgen geöffnet gewesen war, so musste sein Herr es selbst geöffnet haben. Schließlich wurde er von Poirot entlassen.
«Das war es, was wir von dir wissen wollten, Ah Ling!»
Gerade als der Chinese an der Tür war, rief Poirot ihn nochmals zurück.