«Gibt es jemand, der persönliche Vorteile durch Savaronoffs Tod gehabt hätte?»
«Nun, ich nehme an, seine Nichte. Er ist kürzlich zu großem Vermögen gelangt, es wurde ihm durch Madame Gospoja hinterlassen, deren Gatte ein Zuckerindustrieller während des alten Regimes war. Sie standen früher in engsten Beziehungen zueinander, soviel ich weiß, und sie weigerte sich seinerzeit hartnäckig, an die Berichte über seinen angeblichen Tod zu glauben.»
«Wo fand das Schachturnier statt?»
«In Savaronoffs eigenem Hause. Er ist Invalide, wie ich Ihnen bereits sagte.»
«Waren viele Zuschauer dort?»
«Mindestens ein Dutzend, vielleicht auch mehr.» Poirot machte ein enttäuschtes Gesicht.
«Mein armer Japp, Sie haben keine leichte Aufgabe.»
«Wenn ich erst einmal endgültige Beweise habe, dass Wilson vergiftet wurde, komme ich schon wieder ein Stück weiter.»
«Haben Sie inzwischen daran gedacht, falls Ihre Annahme, Savaronoff sei das vorgesehene Opfer, zu Recht besteht, dass der Mörder seinen Versuch wiederholen könnte?»
«Selbstverständlich habe ich diesen Faktor in meine Rechnung einbezogen. Zwei von meinen Leuten bewachen ständig Savaronoffs Haus.»
«Das wird auch sehr zweckmäßig sein, falls jemand mit einer Bombe unter dem Arm erscheinen würde», sagte Poirot trocken.
«Nun haben Sie beinahe Geschmack an der Sache gefunden», bemerkte Japp und zwinkerte mit den Augen. «Haben Sie vielleicht Lust, zu dem Leichenschauhaus mitzukommen und sich Wilson anzusehen, bevor die Ärzte mit ihrer Untersuchung beginnen? Seine Krawattennadel könnte doch schief sitzen und uns so einen Anhaltspunkt zur Lösung des Falles geben.»
«Mein lieber Japp, schon während des ganzen Essens hat es mich gereizt, Ihre eigene Krawattennadel zurechtzustecken. Sie erlauben wohl? So, nun sieht es bedeutend besser aus. Doch ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass wir zur Leichenhalle aufbrechen.»
Ich hatte schon bemerkt, dass Poirots ganze Aufmerksamkeit durch dieses Problem voll in Anspruch genommen war. Es war schon geraume Zeit verstrichen, seit er sich für etwas anderes als die Großen Vier interessiert hatte, und so war ich froh, ihn wieder in alter Form zu sehen.
Beim Anblick der bewegungslosen Gestalt und des krampfhaft verzogenen Gesichtes des unglücklichen jungen Amerikaners überkam mich ein tiefes Bedauern. Poirot untersuchte die Leiche mit gespannter Aufmerksamkeit, es zeigten sich jedoch keine besonderen Merkmale, mit Ausnahme einer kleinen Verletzung an der linken Hand.
«Der Arzt sagte, es handle sich um eine Brandwunde, keinesfalls um einen Schnitt», erklärte Japp.
Poirots Aufmerksamkeit wandte sich dem Inhalt der Taschen des Toten zu, den ein Polizeibeamter vor uns ausbreitete. Es war nicht viel – ein Taschentuch, ein Schlüssel, seine Brieftasche, gefüllt mit Banknoten, und einige Briefe ohne Bedeutung. Jedoch ein Gegenstand fand Poirots besondere Aufmerksamkeit.
«Eine Schachfigur!», rief er aus. «Ein weißer Läufer! War dieser in seiner Tasche?»
«Nein, er hielt ihn krampfhaft in der Hand, und es kostete ziemliche Mühe, ihm diesen zu entwinden. Man muss ihn gelegentlich Savaronoff zurückgeben. Er gehört zu einem sehr schönen Satz von Elfenbeinfiguren.»
«Gestatten Sie, dass ich ihm diese Figur persönlich übergebe? So habe ich dann wenigstens einen Anlass, ihn aufzusuchen.»
«Ah», rief Japp, «so wollen Sie also diesen Fall weiterverfolgen?»
«Ich denke, ja, denn Sie haben tatsächlich verstanden, meine Neugier zu wecken.»
«Das ist ausgezeichnet. Endlich habe ich Sie aus Ihrer Lethargie herausgerissen. Hauptmann Hastings scheint gleichfalls erfreut zu sein, wie ich sehe.»
«Das ist vollkommen richtig», erwiderte ich lachend.
Poirot wandte sich wieder dem Toten zu.
«Keine weiteren Einzelheiten, die erwähnenswert wären in Bezug auf – ihn?», fragte er.
«Nicht dass ich wüsste.»
«Auch nicht, dass er Linkshänder war?»
«Sie sind doch ein Hexenmeister, Monsieur Poirot. Wie konnten Sie das wissen? Ja, er war tatsächlich Linkshänder, obgleich es für die weitere Verfolgung der Angelegenheit völlig unwesentlich ist.»
«Selbstverständlich», stimmte Poirot zu, als er sah, dass Japp etwas durcheinander gekommen zu sein schien. «Es ist auch nur ein kleiner Scherz meinerseits, nichts weiter; wie Sie wissen, tue ich dies manchmal ganz gern.»
In ungetrübter Stimmung verließen wir alsdann den Ort. Am nächsten Morgen gingen wir zu Savaronoffs Wohnung in Westminster.
«Sonja Daviloff», sagte ich nachdenklich, «eigentlich ein ganz hübscher Name.»
Poirot hielt inne und warf mir einen verzweifelten Blick zu. «Immer auf der Suche nach Liebesabenteuern, du bist nun einmal unverbesserlich. Es würde dir ganz recht geschehen, wenn Sonja Daviloff sich als unsere Freundin und Widersacherin Gräfin Vera Rossakoff herausstellen würde.»
Bei der Erwähnung dieses Namens verdüsterte sich mein Blick.
«Das kann doch nicht dein Ernst sein, Poirot…»
«Aber durchaus nicht, ich mache nur einen Scherz. So beschäftigen mich die Großen Vier denn doch nicht, wie Japp es immer annimmt.»
Die Haustür wurde uns von einem Diener mit unbewegtem Gesicht geöffnet. Es schien unmöglich, dass seine Gemütsverfassung durch irgendetwas erschüttert werden könnte. Poirot übergab seine Karte, auf die Japp einige Worte zur Einführung geschrieben hatte, dann wurden wir in einen niedrigen, lang gestreckten Raum geleitet; an den Fenstern hingen kostbare Vorhänge, einige wundervolle Ikonen zierten die Wände und auserlesene Perserteppiche bedeckten den Boden. Auf dem Tisch stand ein Samowar.
Ich besah mir die Ikonen eingehend und stellte fest, dass sie einen beträchtlichen Wert repräsentierten. Als ich mich dann wieder Poirot zuwandte, sah ich ihn auf dem Boden knien. So schön auch der Teppich sein mochte, so erschien mir eine derart gründliche Betrachtung doch etwas ungewöhnlich.
«Handelt es sich um ein solch auserlesenes Stück?», fragte ich.
«Wie bitte? Oh, du meinst den Teppich, das war es nicht, was mir auffiel. Aber es ist tatsächlich ein schönes Exemplar, fast zu schade, einen so großen Nagel gerade in der Mitte hindurchzutreiben. Nein, Hastings», fuhr er fort, als ich mir die Sache näher ansehen wollte, «jetzt ist er nicht mehr da, aber das Loch ist geblieben.»
Ein Geräusch hinter mir veranlasste mich, mich umzuwenden, während Poirot sich schnell erhob. Ein junges Mädchen stand im Türrahmen. Ihre Augen, die fest auf uns gerichtet waren, drückten Befremden aus. Sie war von mittlerer Größe und zeigte uns ein zwar schönes, aber ziemlich misstrauisches Gesicht. Sie hatte dunkelblaue Augen und tiefschwarzes, kurz geschnittenes Haar. Ihre Stimme war voll und wohlklingend, hatte jedoch einen fremden Akzent.
«Ich fürchte, mein Onkel wird nicht in der Lage sein, Sie zu empfangen. Er ist stark behindert.»