«Das ist sehr bedauerlich, aber vielleicht können Sie uns helfen. Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie Mademoiselle Daviloff?»
«Ja, ich bin Sonja Daviloff. Was wünschen Sie zu wissen?»
«Ich bin gerade dabei, bezüglich der traurigen Affäre, die sich vorgestern hier ereignet hat, einige Erhebungen anzustellen – es betrifft den Tod von Gilmour Wilson. Was können Sie mir darüber berichten?»
Des Mädchens Augen weiteten sich.
«Er starb an einem Herzschlag – beim Schachspiel.»
«Die Polizei ist sich aber gar nicht so sicher, dass es sich um einen Herzschlag handelt, Mademoiselle.»
Sie machte einen äußerst erschrockenen Eindruck. «So ist es also doch wahr», rief sie, «und Iwan hatte Recht.»
«Wer ist Iwan, und warum sagten Sie, er hätte Recht?»
«Iwan ist der Diener, der Ihnen die Tür öffnete – und er hat mir gegenüber geäußert, dass Gilmour Wilson nach seiner Meinung keines natürlichen Todes gestorben ist – sondern dass er irrtümlicherweise vergiftet wurde.»
«Irrtümlich?»
«Ja, das Gift war für meinen Onkel bestimmt.»
Sie hatte ihre ursprüngliche Zurückhaltung aufgegeben und sprach jetzt völlig unbefangen.
«Wie kommen Sie zu solch einer Behauptung, Mademoiselle? Wer sollte den Wunsch gehabt haben, Dr. Savaronoff zu töten?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ich weiß es nicht, ich bin ganz im Unklaren. Dazu zieht mich mein Onkel gar nicht in sein Vertrauen, was vielleicht ganz verständlich ist. Sehen Sie, er kennt mich kaum, er hat mich als Kind gekannt und mich nicht mehr gesehen, bis ich nach London kam, um ihn zu betreuen. Aber eines weiß ich: er lebt in ständiger Angst. Es gibt in Russland so viele Geheimorganisationen, und eines Tages hörte ich zufällig etwas, was mich annehmen ließ, dass es eine solche Organisation ist, die er zu fürchten hat. Sagen Sie mir bitte, Monsieur» – sie kam näher heran und senkte ihre Stimme –, «haben Sie jemals von einer Verbindung gehört, die sich die Großen Vier nennt?»
Poirot schien wie von einer Tarantel gestochen. Seine Augen traten vor Erstaunen beinahe aus ihren Höhlen heraus.
«Wie – was wissen Sie über die Großen Vier, Mademoiselle?»
«Also gibt es eine solche Verbindung. Ich belauschte eine gelegentliche Unterhaltung und befragte meinen Onkel im Anschluss daran. Niemals habe ich jemand so erschrocken gesehen, er wurde weiß im Gesicht und begann an allen Gliedern zu zittern. Es war Furcht, eine ganz große Furcht. Ich bin meiner Sache jetzt ganz sicher, der Amerikaner Wilson wurde das Opfer eines Irrtums.»
«Die Großen Vier», murmelte Poirot, «überall sind sie am Werk.
Ein erstaunlicher Zufall, Mademoiselle, Ihr Onkel schwebt noch immer in großer Gefahr, und ich muss ihn davor retten. Nun wiederholen Sie mir noch einmal genau die Vorgänge des betreffenden Abends. Zeigen Sie mir das Schachbrett, den Tisch, und beschreiben Sie mir die Sitzordnung – kurzum, alles.»
Sie ging zu der gegenüberliegenden Seite des Raumes und brachte einen Tisch herbei. Die Platte war kostbar, mit Feldern von Silber und schwarzem Edelholz eingelegt, ein Schachbrett darstellend.
«Dieser Tisch wurde vor einigen Wochen meinem Onkel als Geschenk überbracht mit dem Wunsche, ihn bei dem nächsten Turnier zu verwenden. Er stand in der Mitte des Raumes – etwa so.»
Poirot betrachtete den Schachtisch mit einer, wie mir schien, übertriebenen Aufmerksamkeit. Er führte die Untersuchung ganz anders, als ich es für zweckmäßig hielt. Viele seiner Fragen erschienen mir völlig sinnlos, und andererseits behandelte er wirklich wichtige Punkte mit scheinbarer Gleichgültigkeit. Ich kam zu der Überzeugung, dass er bei der Erwähnung der Großen Vier gänzlich aus der Fassung geraten war.
Nachdem er eine Zeit lang den Tisch und dessen tatsächlichen Standort untersucht hatte, bat er, die Schachfiguren sehen zu dürfen. Nachdem Sonja Daviloff sie in einer Schachtel herbeigebracht hatte, betrachtete er einige davon recht flüchtig.
«Ein sehr schöner Spielsatz», murmelte er geistesabwesend.
Keine Frage bezüglich der gereichten Erfrischungen noch der Personen, die anwesend gewesen waren. Ich räusperte mich, um mich bemerkbar zu machen.
«Glaubst du nicht, Poirot, dass es –»
Er schnitt mir das Wort ab.
«Du darfst mich nicht unterbrechen, mein Freund, überlasse alles mir. Mademoiselle, wäre es nicht doch möglich, mit Ihrem Onkel zu sprechen?»
Ein leises Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
«Er wird Sie empfangen, gewiss. Sie müssen jedoch begreifen, ich habe die Aufgabe, zuerst mit den Besuchern zu sprechen, damit ich deren Anliegen erkenne.»
Nachdem sie sich entfernt hatte, hörte ich ein Stimmengemurmel in dem anliegenden Raum. Kurze Zeit darauf erschien sie wieder und führte uns in das angrenzende Zimmer. Der Mann, der auf der Couch lag, war eine imposante Erscheinung. Groß, hager, mit dichten, buschigen Augenbrauen, weißem Bart und einem Gesicht, das abgehärmt war infolge der Entbehrungen und ausgestandenen Leiden. Dr. Savaronoff war eine distinguierte Persönlichkeit, seine besondere Schädelbildung und ungewöhnliche Körpergröße waren bemerkenswert. Ein bedeutender Schachspieler muss auch ein entsprechendes Gehirn haben. Jetzt konnte ich durchaus verstehen, dass Dr. Savaronoff als zweitgrößter Schachspieler der Welt galt.
Poirot verbeugte sich.
«Herr Doktor, darf ich mit Ihnen allein sprechen?»
Savaronoff wandte sich seiner Nichte zu. «Lass uns allein, Sonja.»
«Nun, mein Herr, womit kann ich Ihnen dienen?»
«Dr. Savaronoff, Sie sind kürzlich in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens gelangt. Im Falle, dass Sie unerwartet sterben, wer wäre dann Ihr Erbe?»
«Ich habe ein Testament gemacht, in dem ich alles meiner Nichte, Sonja Daviloff, vermacht habe. Sie nehmen doch nicht etwa an…»
«Ich nehme nichts an, aber Sie haben Ihre Nichte seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Es hätte doch jemand die Möglichkeit, sich für sie auszugeben.»
Savaronoff schien wie vom Donner gerührt bei dieser Vermutung.
Poirot fuhr fort:
«Genug darüber, ich wollte Sie nur warnen, das ist alles. Was ich jedoch wissen möchte, ist, wie der Verlauf des Spieles an dem betreffenden Abend gewesen ist.»
«Wie soll ich das verstehen?»
«Nun, ich bin zwar kein routinierter Schachspieler, aber ich verstehe so viel davon, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, ein solches Spiel zu beginnen – das Gambit, sagt man nicht so?»
Dr. Savaronoff konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren.
«Ah, ich begreife, was Sie wissen möchten. Wilson eröffnete mit Ruy Lopez – einem der geschicktesten Züge, die es gibt. Man wendet ihn häufig bei Turnieren an.»
«Und wie lange spielten Sie schon, als das Ereignis eintrat?»
«Es muss etwa der dritte oder vierte Zug gewesen sein, als Wilson plötzlich wie vom Blitz getroffen vornüberfiel.»
Poirot erhob sich, um zu gehen. Er hatte seine letzte Frage gestellt als wenn sie von ganz untergeordneter Bedeutung gewesen wäre, jedoch kannte ich ihn zur Genüge.
«Hatte er irgendetwas gegessen oder getrunken?»
«Nur Whisky mit Soda, soweit ich mich erinnere.»
«Ich danke Ihnen, Dr. Savaronoff, nun möchte ich Sie nicht länger stören.»
Iwan befand sich in der Halle, um uns hinauszubegleiten. Unter der Tür zögerte Poirot.
«Wissen Sie zufällig, wer im unteren Stockwerk wohnt?»
«Sir Charles Kingwell, ein Mitglied des Parlaments, mein Herr. Es ist ihm kürzlich möbliert überlassen worden.»
«Ich danke Ihnen.»
Wir gingen wieder in die helle Wintersonne hinaus.
«Wirklich, Poirot», stieß ich hervor, «ich bezweifle, dass du dich diesmal richtig benommen hast. Deine Fragen waren jedenfalls höchst unzweckmäßig.»