«Was hast du, um Gottes willen, mon ami? Sag es mir!»
Wort für Wort erzählte ich ihm alles, während ein Schauer nach dem anderen mich überlief. Poirot stieß einen Ausruf der Empörung aus. «Mein Freund, mein lieber Freund! Was musst du ausgestanden haben! Und ich, ich ahnte nichts von all dem! Aber beruhige dich, es ist alles in Ordnung!»
«Du meinst, dass du meine Frau finden wirst, sie ist doch aber in Südamerika? Und bis wir dorthin kommen – wird sie schon lange nicht mehr am Leben sein – und, Gott allein weiß, unter welchen fürchterlichen Umständen sie ihr Leben lassen muss.»
«Nein, nein, du verstehst mich nicht recht, sie ist gesund und wohlbehalten; keinen Augenblick hat sie sich in den Händen der Bande befunden.»
«Ich habe aber doch ein Telegramm von Bronsen erhalten!»
«Auch das stimmt nicht; du magst vielleicht ein Telegramm erhalten haben, das mit ‹Bronsen› unterzeichnet war. Sage einmal, ist es dir nie eingefallen, dass eine Organisation dieser Art mit Verbindungen über die ganze Welt sehr leicht zu einem Schlag gegen uns hätte ausholen können durch deine kleine Frau, die dir so sehr am Herzen liegt?»
«Nein, daran habe ich nie gedacht», erwiderte ich.
«Nun, aber ich habe es immer ins Auge gefasst. Ich habe dir gegenüber zwar nichts davon erwähnt, um dich nicht unnötig aufzuregen, doch hatte ich bereits von mir aus Vorkehrungen getroffen. Sämtliche Briefe deiner Frau schienen von deiner Farm zu kommen; in Wirklichkeit befand sie sich an einem sicheren Ort, den ich vor drei Monaten für sie ausgesucht hatte.»
«Bist du dessen auch ganz sicher?»
«Parbleu, natürlich. Sie quälten dich, indem sie dir nur Lügen auftischten.»
Ich drehte den Kopf zur Seite, und Poirot legte mir die Hand auf die Schulter.
Es lag etwas in seiner Stimme, das ich nie vorher bemerkt hatte.
«Ich weiß nur zu genau, dass du keine Sentimentalitäten vertragen kannst, und deshalb will ich dir auch nicht meine innere Bewegtheit zum Ausdruck bringen. Ich will mich hierin auch ganz der Eigenart deiner Landsleute anpassen und keine weiteren Worte verlieren. Nur das eine musst du wissen, nämlich, dass bei diesem letzten Erlebnis alle Ehre nur dir gebührt und dass ich mich glücklich schätze, einen so treuen Freund wie dich zu besitzen.»
14
Ich war bitter enttäuscht über den Ausgang unserer Erlebnisse in Chinatown. Um gleich damit zu beginnen: Der Führer der Bande war entkommen. Als Japps Beamte auf Poirots Signal am Tatort erschienen, fanden sie vier bewusstlose Chinesen im Treppenhaus, jedoch der Mann, der mich mit dem Tod bedroht hatte, war nicht unter ihnen. Ich erinnerte mich später, dass dieser Mann sich im Hintergrund gehalten hatte, als man mich zwang, auf die Schwelle hinauszugehen, um Poirot ins Haus zu locken. Er hatte sich also wohl außerhalb der Gefahrenzone der Gasbombe befunden und mochte durch einen der vielen Ausgänge entwichen sein, die wir erst später entdeckten.
Von den vier Chinesen, die in unserer Hand waren, erfuhren wir gar nichts. Eine gründliche Untersuchung durch die Polizei erbrachte keinen Hinweis auf irgendeine Verbindung mit den Großen Vier. Die Gefangenen erwiesen sich als gänzlich harmlose Einwohner des Stadtteils und versicherten, niemand mit dem Namen Li Chang Yen zu kennen. Ein wohlhabender Chinese hatte sie in seinen Dienst genommen im Haus, das am Wasser gelegen war, und alle beteuerten, auch nicht das Geringste über seine Privatangelegenheiten berichten zu können. Im Verlauf des nächsten Tages hatte ich mich, abgesehen von leichten Kopfschmerzen, vollkommen von den Auswirkungen meiner Abenteuer erholt. Wir begaben uns zusammen nach Chinatown und untersuchten das Haus. Die Liegenschaft bestand aus zwei Häusern, die durch einen Tunnel miteinander verbunden waren. Die Erdgeschosse sowie die oberen Räume waren leer und unbewohnt, die zerbrochenen Scheiben verdeckt durch die Sonnenblenden. Japp hatte in den Kellerräumen herumgeschnüffelt und bereits das Geheimnis des Zutritts zu der unterirdischen Kammer, mit welcher mich so schreckliche Erinnerungen verbanden, ergründet. Eine nähere Untersuchung bestätigte den Eindruck, den der Raum zuvor auf mich gemacht hatte. Die Seidenbehänge der Wände sowie die Diwane und die Teppiche auf dem Boden waren von auserlesener Qualität. Obwohl ich nicht viel von chinesischer Kunst verstehe, konnte man unschwer erkennen, dass jeder Gegenstand von großem Wert war.
Mit Hilfe von Japp und seinen Leuten führten wir eine mehr als gründliche Untersuchung durch. Ich hatte zuerst große Hoffnungen darauf gesetzt, Dokumente von Wichtigkeit auffinden zu können, vielleicht sogar eine Liste der wichtigsten Agenten der Großen Vier, oder chiffrierte Nachrichten über deren Pläne, jedoch blieben unsere Bemühungen in dieser Richtung ohne Erfolg. Die einzigen schriftlichen Aufzeichnungen, die wir dort ermitteln konnten, waren jene, deren sich der Chinese bei der Abfassung des Schreibens an Poirot bedient hatte. Sie bestanden aus einigen sehr ausführlichen Notizen über jede Phase unseres Werdeganges, Betrachtungen über unsere Charaktereigenschaften und Hinweise auf schwache Punkte, die als beste Angriffspunkte erachtet wurden.
Poirot freute sich wie ein Kind über diese Entdeckung. Mir persönlich schien das gänzlich wertlos, besonders da derjenige, der die Bemerkungen zu Papier gebracht hatte, in einigen Punkten völlig danebengegriffen hatte. Ich wies auch meinen Freund auf diesen Mangel hin, als wir wieder in unserer Wohnung saßen.
«Mein lieber Poirot», bemerkte ich, «nun bist du im Bilde, wie unsere Gegner über uns denken. Es scheint so, als wenn man eine reichlich übertriebene Vorstellung von deinen geistigen Fähigkeiten hätte und die meinigen völlig unterschätzte, aber ich kann nicht einsehen, welchen Wert dies alles für uns hat.»
Poirot lachte in sich hinein, als ob er nicht ganz meine Meinung teilte.
«Für dich wohl etwas undurchsichtig, nicht wahr? Doch soviel steht fest, wir können unsere Vorkehrungen gegen ihre Angriffspläne besser treffen, wenn wir unsere eigenen Fehler besser kennen. Beispielsweise wissen wir jetzt, mein Freund, dass du jede deiner Handlungen sorgfältig überlegen musst, und ferner, sollte dir wieder einmal eine rothaarige Dame begegnen, die deiner Hilfe bedarf, so solltest du dabei äußerste Vorsicht nicht außer Acht lassen, nicht wahr?»
Die Aufzeichnungen hatten ebenfalls einige unzutreffende Betrachtungen über meine vermeintliche Unbeherrschtheit enthalten, und nebenbei war bemerkt, dass ich nicht ganz unempfindlich in Bezug auf die Reize junger Damen mit einer bestimmten Haarfarbe sei. Ich betrachtete Poirots diesbezügliche Anspielungen als recht geschmacklos, war aber glücklicherweise in der Lage, ihnen zu begegnen.
«Und was dich nun selbst betrifft», fragte ich ihn, «wirst du dich endlich befleißigen, deine anmaßende Eitelkeit abzulegen? Dazu deinen übertriebenen Ordnungssinn?»
Ich zitierte wörtlich die in den gefundenen Aufzeichnungen enthaltenen Bemerkungen und konnte feststellen, dass er von meinem Gegenhieb sehr wenig erbaut war.
«Zweifellos, Hastings, täuscht man sich in einzelnen Feststellungen – mehr oder weniger, doch man wird schon noch dahinter kommen. Inzwischen haben wir auch wieder dazugelernt und – bereit sein bedeutet alles.»
Dies war in letzter Zeit ständig sein Schlagwort, und er wandte es so häufig an, dass ich dessen überdrüssig wurde.
«Wir sammeln immer neue Erfahrungen, Hastings», fuhr Poirot fort, «und durchschauen ihre Pläne, was uns sehr zugute kommt, aber wir wissen noch lange nicht genug. Wir müssen noch viel mehr herausfinden.»
«Wie willst du das anstellen?»
Poirot lehnte sich in seinen Sessel zurück, legte eine Schachtel Zündhölzer, die ich achtlos auf den Tisch geworfen hatte, ordentlich hin und setzte sich in Positur. Ich erkannte, dass er im Begriff stand, sich in längere Betrachtungen einzulassen. «Sieh einmal, Hastings, wir haben gegen vier Widersacher zu kämpfen, das bedeutet, gegen vier verschiedene Charaktere. Mit Nummer eins sind wir noch nie in persönlichen Kontakt gekommen, wir kennen ihn nur hinsichtlich seiner Bestrebungen – und nach allem, was bisher geschehen ist, Hastings, will ich dir verraten, dass ich beginne, seine Pläne zu erkennen –, er verfügt über den großen Scharfsinn, der den Orientalen eigen ist – jeder Anschlag, dem wir uns gegenübersahen, entstammt dem Gehirn Li Chang Yens. Nummer zwei und Nummer drei sind hochgestellte Persönlichkeiten und so mächtig, dass sie im Augenblick gegen unsere Angriffe immun sind. Nichtsdestoweniger, was sie schützt, schützt uns ebenfalls in umgekehrtem Sinne. Sie stehen so sehr im Blickpunkt des öffentlichen Lebens, dass sie gezwungen sind, mit äußerster Vorsicht zu operieren. Und so kommen wir zum letzten Glied der Bande – nämlich zu dem Mann, der uns als Nummer vier bekannt ist.»