Poirots Stimme veränderte sich schlagartig, wie es stets der Fall war, wenn er von diesem Manne sprach.
«Nummer zwei und Nummer drei sind dank ihrer Berühmtheit und ihrer gesicherten Position in der Lage, Erfolge zu erzielen und ihren Weg unangefochten fortzusetzen. Nummer vier dagegen verzeichnet seine Fortschritte unter einem anderen Vorzeichen – er geht dunkle Wege. Wer sich hinter der Maske verbirgt, weiß niemand. Wie er in Wirklichkeit aussieht, ist auch nicht bekannt. Wie oft haben wir ihn gemeinsam gesehen, bereits fünfmal, wenn ich nicht irre. Und keiner von uns kann mit Bestimmtheit behaupten, dass er ihn wiedererkennen würde, oder bist du anderer Meinung?»
Ich musste verneinen, wenn ich meine Gedanken zu jenen fünf ganz verschiedenen Personen zurückschweifen ließ, die – so unglaublich es auch erscheinen mochte – von ein und demselben Mann verkörpert wurden. Der stämmige Aufseher der Heilanstalt, der Mann in dem hochgeschlossenen Mantel in Paris, der Diener James, der Mediziner im Fall Paynter und zuletzt der russische Professor. Bei keinem Anlass hatte einer dieser Leute mit dem anderen die geringste Ähnlichkeit.
«Nein», sagte ich ziemlich entmutigt, «auch nicht die kleinsten Anhaltspunkte sind uns gegeben.»
Poirot lächelte.
«Nun bitte ich dich, betrachte die Angelegenheit nicht gar zu aussichtslos, denn einige Feststellungen haben wir doch gemacht.»
«Und welcher Art sind diese?»
«Es ist uns bekannt, dass es sich um einen Mann mittlerer Statur handelt und dass er dunkelblondes oder blondes Haar hat. Wenn er von großer Statur und dunkler Hautfarbe wäre, hätte er sich nie für den blonden, ernsten Arzt ausgeben können. Es dürfte kaum schwierig sein, drei Zentimeter größer zu erscheinen, wie im Falle des Dieners James oder des Professors. Ferner muss er eine kurze gerade Nase haben. Veränderungen sind durch ein entsprechendes Make-up leicht zu bewerkstelligen, aber eine große Nase lässt sich nicht so leicht zu einer kleineren umgestalten. Dazu muss er ziemlich jung sein, kaum über fünfunddreißig. Du siehst also, wir kommen der Sache schon etwas näher. Es handelt sich also um einen Mann zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren, mittlerer Statur und Haarfarbe, einen Experten in der Kunst, sich zu schminken, und mit wenigen oder gar keinen eigenen Zähnen.»
«Wie kommst du zu dieser Annahme?»
«Ganz einfach, Hastings; bei dem Aufseher waren die Zähne abgebrochen und missfarbig, in Paris waren sie ebenmäßig und weiß, beim Doktor standen sie etwas nach vorn, und bei Savaronoff waren sie ungewöhnlich lang. Nichts verändert ein Gesicht derart wie verschiedene Prothesen, du siehst also, wohin das führt.»
«Nicht ganz», erwiderte ich vorsichtig.
«Nun, man sagt, dass der Beruf einem Manne im Gesicht geschrieben steht.»
«Hier handelt es sich aber um einen Verbrecher!», rief ich aus.
«Auf jeden Fall ist er ein Experte in der Kunst des Schminkens.»
«Das dürfte dasselbe sein.»
«Eine ziemlich gewagte Behauptung, lieber Hastings; in der Theaterwelt würde man wenig erbaut über eine derartige Unterstellung sein. Erkennst du denn nicht, dass der Mann ein Schauspieler ist oder wenigstens gewesen ist – vielleicht vor ein paar Jahren einmal?»
«Ein Schauspieler?»
«Na selbstverständlich. Denn die ganze Technik ist ihm geläufig. Es gibt nun zwei Klassen von Schauspielern: den einen, der sich in seine Rolle vertieft, und den anderen, der versucht, eine Rolle seiner Persönlichkeit entsprechend anzupassen. Aus der letzten Kategorie gehen gewöhnlich die Darsteller berühmter Persönlichkeiten hervor.
Diese übernehmen eine Rolle, die ihrer Art am besten entspricht. Die erstgenannte Kategorie Schauspieler hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich in die darzustellende Persönlichkeit gleichsam zu verwandeln. Zu dieser Klasse gehört auch Nummer vier. Er ist ein hervorragender Künstler und wächst in seine Rolle, die er zu spielen hat, hinein.»
Die Ausführungen meines Freundes waren für mich von größtem Interesse.
«So versuchst du also, seiner Identität durch Vermittlung der Bühne auf die Spur zu kommen?»
«Deine Kombinationsgabe ist sehr beachtlich, Hastings!»
«Es wäre besser gewesen», bemerkte ich kühl, «wenn du bereits früher zu dieser Erkenntnis gekommen wärest. So haben wir sehr viel Zeit nutzlos vergeudet.»
«Da bist du sehr im Irrtum, mon ami, wir haben nicht mehr Zeit vertan als unvermeidlich war. Seit einigen Monaten sind meine Agenten sehr aktiv. Einer davon ist Joseph Aarons, erinnerst du dich an ihn? Er hat für mich eine Liste von Männern zusammengestellt, die die notwendigen Eigenschaften besitzen – junge Männer im Alter von ungefähr dreißig Jahren, von mehr oder weniger zutreffender Erscheinung und mit der Eignung, Charakterrollen zu spielen. Dazu solche, die mit Bestimmtheit während der letzten drei Jahre nicht mehr aufgetreten sind.»
«Ja, und weiter?», fragte ich, äußerst gespannt.
«Die Liste war natürlich ziemlich umfangreich, und es hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis wir schließlich vier Darsteller in die engere Wahl ziehen konnten. Hier haben wir sie, mein Freund.» Er reichte mir einen Bogen Papier herüber, dessen Inhalt ich laut vorlas.
«Ernest Luttrell, Sohn eines Pfarrers aus Nordengland. Hatte stets besondere Einfälle in der Charakterdarstellung. Wurde von der Schule ausgeschlossen, ging im Alter von fünfundzwanzig Jahren zum Theater.» (Es folgte eine Aufstellung über gespielte Rollen.) «Später dem Rauschgift verfallen, vermutlich vor vier Jahren nach Australien ausgewandert. Unauffindbar, seit er England verlassen hat. Alter zweiunddreißig Jahre, Größe einsfünfundsiebzig glatt rasiert, Haare braun, gerade Nase, Gesichtsfarbe hell, Augen grau.
– John St. Maur. Künstlername, richtiger Name unbekannt, vermutlich gebürtiger Londoner, seit der Kindheit beim Theater. Stellte Personen der Gesellschaft dar, seit drei Jahren verschollen, Alter zirka dreiunddreißig Jahre, Größe einsfünfundsiebzig schlanke Erscheinung, blaue Augen, Haarfarbe blond.
– Austen Lee. Künstlername, Familienname Austen Foly, angesehene Familie, hatte stets Vorliebe für Darstellungskunst und zeichnete sich diesbezüglich in Oxford aus. Ausgezeichnete Kriegsdienst-Beurteilung. Spielte in…» (Es folgte die übliche Zusammenstellung der Rollen.) «Bewährte sich hauptsächlich als Darsteller von Kriminalrollen, hatte vor dreieinhalb Jahren infolge eines Autounfalles einen schweren Nervenschock und ist seitdem nicht mehr auf der Bühne aufgetreten. Anhaltspunkte über jetzigen Aufenthalt fehlen. Alter fünfunddreißig Größe einsdreiundsiebzig Gesichtsfarbe blass, Augen blau, Haare braun.
– Claude Darrell. Vermutlich richtiger Name, Abstammung unbekannt, spielte hauptsächlich Charakterrollen, scheint keine intimen Freunde gehabt zu haben, lebte im Jahre 1939 in China, kam nach Amerika und spielte dort einige Rollen in New York. Erschien eines Abends nicht mehr zur Vorstellung man spricht von geheimnisvollem Verschwinden. Alter zirka dreiunddreißig Jahre, Haare blond, blasse Gesichtsfarbe, graue Augen, Größe einsfünfundsiebzig.»