«Sehr richtig», bestätigte Miss Monro. «Da fällt mir übrigens auch etwas ein. Ich erinnere mich, jetzt komme ich darauf: Claudie hat bei Tisch immer mit dem Brot gespielt. Er nahm ein kleines Stück zwischen die Finger und betupfte damit die herumliegenden Brotkrumen. Ich habe ihn dabei hundertmal beobachtet und würde ihn überall und in jeder Maske daran erkennen.»
«Ist es nicht gerade das, was ich bereits sagte? Die ausgezeichnete Beobachtungsgabe einer Frau! Und haben Sie ihn jemals auf diese Angewohnheit aufmerksam gemacht, Mademoiselle?»
«Nein, das habe ich nicht getan, Monsieur Poirot. Sie wissen ja, wie die Männer sind, sie haben es nicht gern, beobachtet zu werden, speziell wenn sie merken, dass man sie damit necken möchte. Nie sagte ich darüber auch nur ein Wort – aber oft habe ich darüber innerlich gelächelt. Gott behüte, er war sich dieser Eigenart nie bewusst.»
Poirot nickte nachdenklich, und ich bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte, als er zum Glas griff.
«Ferner gibt es noch charakteristische Merkmale in der Handschrift, um eine Identität festzustellen», fuhr er fort. «Sie haben ohne Zweifel noch einen Brief von Mr Darrell in Ihrem Besitz?»
Flossie Monro schüttelte bedauernd den Kopf. «Er hatte eine Abneigung gegen das Schreiben, niemals hat er mir auch nur eine Zeile geschrieben.»
«Das ist sehr bedauerlich», sagte Poirot.
«Doch will ich Ihnen etwas sagen», erwiderte Miss Monro plötzlich. «Ich habe noch eine Fotografie, wenn Ihnen die etwas nützen kann?»
«Sie haben ein Foto?» Poirot sprang vor Aufregung beinahe von seinem Sitz hoch.
«Es ist ein ziemlich altes Bild…»
«Das macht gar nichts – es spielt gar keine Rolle, wie alt und verblichen es auch sein mag! Ah, ma foi, welch erstaunliches Glück, Sie werden mir wohl erlauben, es anzusehen, Mademoiselle?»
«Warum nicht, selbstverständlich.»
«Vielleicht werden Sie mir sogar gestatten, eine Kopie davon anfertigen zu lassen? Es würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.»
«Sicher, wenn Sie darauf Wert legen.»
Miss Monro erhob sich.
«Nun, ich muss jetzt eilen», erklärte sie scherzhaft. «Sehr erfreut, Sie und Ihren Freund kennen gelernt zu haben, Monsieur Poirot.»
«Und das Foto? Wann können wir es haben?»
«Ich suche es noch heute Abend heraus. Ich glaube mich noch zu erinnern, wo ich es hingetan habe, und werde es Ihnen umgehend zusenden.»
«Tausend Dank, Mademoiselle. Sie sind die personifizierte Liebenswürdigkeit. Ich hoffe, dass wir bald wieder einmal ein kleines gemeinsames Essen arrangieren können.»
«Wann immer es Ihnen recht ist», erwiderte Miss Monro. «Ich bin stets mit von der Partie.»
«Ich werde mich bald melden, bin aber leider noch nicht im Besitze Ihrer Anschrift.»
Mit großer Geste entnahm Miss Monro ihrer Handtasche eine Karte und gab sie ihm. Sie war zwar etwas angeschmutzt, und die ursprüngliche Adresse war ausgestrichen und durch eine handgeschriebene ersetzt. Dann, mit übertrieben viel Verbeugungen und entsprechenden Handbewegungen seitens Poirots, verabschiedeten wir uns von der Dame und gingen heim.
«Bist du wirklich der Meinung, dieses Foto sei so wichtig?», fragte ich Poirot.
«Jawohl, mon ami, die Kamera lügt nicht. Man kann ein Foto vergrößern und ins Auge fallende Punkte erkennen, die andernfalls unbeachtet bleiben. Und dann gibt es noch tausend Einzelheiten – wie zum Beispiel die Stellung der Ohren, die niemand beschreiben kann. O ja, es ist eine große Chance, die sich uns da bietet, deshalb schlage ich vor, einige vorsorgliche Maßnahmen zu ergreifen.»
Er begab sich zur nächsten Telefonzelle und verlangte eine Nummer, von der ich wusste, dass sie einem privaten Detektivbüro gehörte, dessen Hilfe er gelegentlich in Anspruch nahm. Seine Instruktionen waren knapp und deutlich, zwei Mann sollten zu der angegebenen Adresse gehen und unablässig über die Sicherheit von Miss Monro wachen. Sie sollten ihr folgen, wohin sie auch immer gehen mochte. Poirot beendete seinen Anruf und kam befriedigt zu mir zurück.
«Hältst du das wirklich für notwendig, Poirot?», fragte ich.
«Unter Umständen ja. Zweifellos werden wir beobachtet, du sowohl wie ich, und da dem so ist, so wird man bald wissen, mit wem wir heute gemeinsam gespeist haben. Möglicherweise wittert Nummer vier dann Gefahr.»
Kaum waren wir zu Hause, läutete das Telefon, und ich ging an den Apparat. Eine höfliche Stimme sprach zu mir.
«Ist dort Monsieur Poirot? Hier spricht das St.-James-Hospital. Eine junge Frau wurde vor zehn Minuten hier eingeliefert: Verkehrsunfall. Miss Flossie Monro. Sie fragt dringend nach Monsieur Poirot. Aber er muss sofort kommen, denn es kann möglicherweise nicht mehr lange mit ihr dauern.»
Ich wiederholte Poirot das Gehörte. Sein Gesicht wurde kreideweiß.
«Schnell, Hastings, wir müssen hin wie der Wind.»
Ein Taxi brachte uns in weniger als zehn Minuten zum Hospital.
Wir fragten nach Miss Monro und wurden sofort zur Unfallabteilung geführt. Eine Schwester in weißer Haube empfing uns am Eingang.
Poirot las die Trauerbotschaft bereits aus ihrem Gesicht.
«Es ist zu spät, nicht wahr?»
«Ja, sie starb vor zehn Minuten.»
Poirot stand da wie zu Stein erstarrt.
Die Schwester, seine innere Bewegung missdeutend, begann mit sanfter Stimme zu sprechen.
«Sie hat nicht zu leiden brauchen, war halb bewusstlos bis zum letzten Moment – ist von einem Auto überfahren worden –; der Fahrer hat nicht einmal angehalten, unverantwortlich, nicht wahr? Ich hoffe, dass man wenigstens die Nummer notiert hat.»
«Das Schicksal ist gegen uns», sagte Poirot mit leiser Stimme.
«Würden Sie sie gern sehen?»
Die Schwester ging voran, und wir folgten ihr.
Arme Flossie Monro, mit ihrem Rouge und dem gefärbten Haar. Sie lag so friedlich da mit einem Lächeln auf den Lippen.
«Ja», murmelte Poirot, «die Gestirne sind uns nicht hold – aber sind es wirklich die Gestirne?»
Er hob seinen Kopf, als käme ihm eine plötzliche Idee.
«Sind es die Gestirne, Hastings? Andernfalls – wenn sie es nicht sind… Oh, dann schwöre ich dir, mein Freund, hier an der Leiche dieser armen Frau, dass ich keine Gnade kennen werde, wenn die Zeit kommt!»
«Was meinst du damit?» fragte ich.
Aber Poirot hatte sich bereits wieder der Schwester zugewandt und stellte eifrig Nachforschungen an. Eine Liste der Habseligkeiten, die man in der Handtasche der Toten gefunden hatte, wurde schließlich zusammengestellt. Poirot stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sie durchsah.
«Siehst du, Hastings, genau wie ich vermutete!»
«Was hast du entdeckt?»
«Es ist kein Hausschlüssel zu finden, doch sie muss einen solchen bei sich gehabt haben. Ja, nur so kann es gewesen sein, sie ist kaltblütig überfahren worden, und die erste Person, die sich über sie beugte, entnahm ihrer Handtasche den Hausschlüssel. Aber noch können wir zur rechten Zeit kommen, und er mag noch nicht das gefunden haben, wonach er suchte.»
Ein anderes Taxi brachte uns zu der uns von Flossie Monro angegebenen Adresse, einem vernachlässigten Block mit Mietwohnungen in einer ärmlichen Gegend. Es bedurfte einiger Zeit, bevor wir Zutritt zu Miss Monros Wohnung erhielten, jedoch hatten wir wenigstens die Gewissheit, dass sie niemand verlassen konnte, solange wir draußen warteten. Als wir schließlich eintraten, mussten wir erkennen, dass uns bereits jemand zuvorgekommen war. Der Inhalt der Schubladen und Schränke war über den Fußboden verstreut, Schlösser waren erbrochen und Tische und Stühle umgeworfen; der Suchende musste in fieberhafter Eile gehandelt haben. Poirot begann sofort das Durcheinander zu durchsuchen. Mit einem erstaunten Ausruf erhob er sich plötzlich und hielt etwas in der Hand. Es war ein altmodischer Bilderrahmen – und zwar leer. Auf der Rückseite klebte ein runder Zettel – offenbar ein Preiszettel.