«Monsieur Poirot ist zweifelsohne ein sehr bedeutender Mann», bemerkte er, «aber auch solch ein bedeutender Mann kann manchmal an Wahnvorstellungen leiden und sucht in seiner Einbildung selbst bei hochgestellten Persönlichkeiten nach Verrätern; so was kommt vor. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Mr Crowther?»
Der Staatssekretär blieb ihm die Antwort hierauf schuldig. Dann sprach er langsam und mit Überzeugung.
«Bei meiner Seele, ich kann Ihnen darauf nichts entgegnen», sagte er schließlich, «ich hatte stets und habe auch jetzt noch ein unerschütterliches Vertrauen zu Monsieur Poirot, aber nun – es klingt trotzdem zu unglaublich.»
«Was diesen Li Chang Yen betrifft», fuhr Monsieur Desjardeaux fort, «wer hat jemals etwas über ihn gehört?»
«Ich», ließ sich unerwartet die Stimme von Mr Ingles vernehmen.
Der Franzose starrte ihn an, während Mr Ingles das Gleiche tat und dabei einer chinesischen Götzenfigur ähnlich sah.
«Mr Ingles», erklärte der Staatssekretär, «ist unsere größte Kapazität in allen Fragen, die den Fernen Osten betreffen.»
«Und Sie haben bereits von diesem Li Chang Yen gehört?»
«Bis zu dem Zeitpunkt, da Monsieur Poirot mich aufsuchte, war ich der Meinung, dass ich der einzige Mensch in England sei, der etwas über ihn weiß. Sie müssen es als feststehende Tatsache hinnehmen, Monsieur Desjardeaux: es gibt heute in China nur einen einzigen Mann, der tonangebend ist – und das ist Li Chang Yen. Vielleicht, ich betone: vielleicht ist er gegenwärtig der klügste Kopf, den es gibt.»
Monsieur Desjardeaux saß wie versteinert da, erlangte jedoch bald seine Fassung wieder.
«Es mag etwas Wahres an dem sein, was Sie berichten, Monsieur Poirot», sagte er kühl, «aber hinsichtlich Madame Olivier sind Sie sicherlich im Irrtum. Sie ist eine wahre Tochter Frankreichs und widmet sich einzig und allein ihrer Wissenschaft.»
Poirot zuckte mit den Achseln und antwortete nicht.
Nach einer angemessenen Pause erhob sich mein Freund mit einer Würde, die nicht recht zu seiner rundlichen Gestalt passen wollte.
«Das wäre alles, was ich zu sagen hätte, meine Herren; ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Ich habe damit gerechnet, dass man mir keinen Glauben schenkt, jedoch werden Sie immerhin auf der Hut sein. Meine Worte werden nicht ungehört verhallen, und jedes neue Ereignis, das in Erscheinung tritt, wird Sie eines Besseren belehren. Es war notwendig, dass ich Ihnen meine Erklärungen jetzt gab – später werde ich vielleicht nicht mehr dazu in der Lage sein.»
«Meinen Sie damit…?», entgegnete Crowther, selbst beeindruckt von dem Ernst in Poirots Ton.
«Es ist meine feste Überzeugung, Monsieur, dass mein Leben kaum mehr einen Penny wert ist, nachdem ich die Identität von Nummer vier festgestellt habe. Er wird mich mit allen Mitteln zu beseitigen suchen – nicht umsonst wird er der ‹Zerstörer› genannt. Meine Herren, für mich scheint unsere Unterredung beendet; Ihnen, Mr Crowther, erlaube ich mir diesen Schlüssel sowie diesen versiegelten Umschlag auszuhändigen. Ich habe alles Wissenswerte über diesen Fall aufgezeichnet und gleichzeitig meine Vorschläge, wie man irgendwelchen Bedrohungen, die eines Tages über die Welt hereinbrechen, begegnen könnte. Alles habe ich sicher in einem Safe deponiert. Im Falle meines Ablebens, Mr Crowther, ermächtige ich Sie, diese Papiere an sich zu nehmen, und stelle Ihnen anheim, zu verfahren, wie Sie es für richtig halten. Und nun, meine Herren, wünsche ich Ihnen einen guten Tag!»
Desjardeaux verbeugte sich nur förmlich, während Crowther aufsprang und seine Hand ausstreckte.
«Sie haben mich bekehrt, Monsieur Poirot. So fantastisch auch alles klingen mag, ich bin völlig von der Wahrheit dessen, was Sie uns erklärt haben, überzeugt.»
Ingles verabschiedete sich gleichzeitig mit uns.
«Ich bin keinesfalls von der Unterredung enttäuscht», bemerkte Poirot, als wir die Straße erreichten. «Ich erwartete gar nicht, Monsieur Desjardeaux überzeugen zu können, aber jedenfalls bin ich beruhigt, dass, im Falle mir etwas zustoßen sollte, ich mein Wissen nicht mit ins Grab zu nehmen brauche. Einen habe ich auf jeden Fall bekehrt. Pas si mal.»
«Ich bin ebenfalls auf Ihrer Seite, wie Sie wissen», sagte Mr Ingles. «Übrigens werde ich nach China abreisen, sobald ich abkommen kann.»
«Ist das ratsam?»
«Nein», sagte Ingles trocken, «aber es ist notwendig, man muss tun, was man kann.»
«Sie sind ein sehr tapferer Mann!», rief Poirot bewegt. «Wenn wir uns nicht auf der Straße befänden, würde ich Sie umarmen.»
«Ich glaube nicht, dass ich mich in China in eine größere Gefahr begebe, als Sie es hier in London tun», brummte er verlegen.
«Das ist durchaus möglich», gab Poirot zu, «indessen hoffe ich nicht, dass man so weit gehen wird, meinen guten Hastings zu massakrieren, das würde mir zu nahe gehen.»
Ich unterbrach diese unerquickliche Unterhaltung mit der Bemerkung, dass ich selbst auch nicht die Absicht hätte, mich ohne weiteres massakrieren zu lassen, und kurz darauf verabschiedete sich Mr Ingles von uns.
Einige Zeit gingen wir schweigend nebeneinander her, bis Poirot plötzlich eine völlig unerwartete Bemerkung fallen ließ.
«Ich trage mich allen Ernstes mit der Absicht, meinen Bruder in die Geschichte einzuweihen.»
«Deinen Bruder?», rief ich erstaunt aus. «Ich habe bisher nicht gewusst, dass du noch einen Bruder hast.»
«Das konntest du auch nicht wissen, lieber Hastings, aber du weißt doch sicher, dass alle gefeierten Detektive Brüder haben, die sogar noch berühmter als sie selbst sein können, und wenn auch nur bezüglich ihrer angeborenen Faulheit.»
Zuweilen zeigte sich Poirot von einer Seite, die es nahezu unmöglich machte, zu erkennen, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.
«Wie heißt denn dein Bruder?», fragte ich, diese Neuigkeit aufgreifend.
«Achille Poirot», antwortete er in tiefstem Ernst. «Er lebt in der Nähe von Spa in Belgien.»
«Was tut er dort?», forschte ich voller Neugier, eine weitere Frage zurückhaltend, die sich auf den Charakter und die Vorliebe der verstorbenen Madame Poirot bezog, ihren Söhnen Namen aus der griechischen Mythologie zu geben.
«Er tut gar nichts. Er hat einen geradezu ungewöhnlichen Hang zum Nichtstun, jedoch sind seine Fähigkeiten keineswegs geringer einzuschätzen als die meinen – was schon allerhand sagen will.»
«Sieht er dir ähnlich?»
«Ziemlich, jedoch ist er lange nicht so gut aussehend und trägt auch keinen Schnurrbart.»
«Ist er älter oder jünger als du?»
«Wir sind zufällig an ein und demselben Tage geboren.»
«Also Zwillinge!», rief ich aus.
«Genau das, Hastings. Du kommst mit unfehlbarer Sicherheit zu den richtigen Feststellungen, aber nun sind wir wieder daheim angelangt. Lass uns gleich an die Arbeit gehen und versuchen, etwas Licht in das uns im Moment interessierende Problem des Halsbandes der Herzogin zu bringen.»
Jedoch das herzogliche Halsband musste sich noch eine Weile gedulden, denn ein Ereignis von weit größerer Bedeutung nahm uns in Anspruch.
Unsere Haushälterin, Mrs Pearson, teilte uns sogleich mit, dass eine Krankenschwester auf uns warte und Monsieur Poirot zu sprechen wünsche. Wir fanden sie beim Fenster im großen Lehnstuhl sitzend, eine sympathische Frau in mittleren Jahren in dunkelblauer Tracht. Zuerst verhielt sie sich sehr zurückhaltend, doch nachdem Poirot ihr gut zugeredet hatte, kam sie mit der Sprache heraus.
«Sehen Sie, Monsieur Poirot, mir ist noch nie etwas Derartiges vorgekommen. Ich war von der Schwesternschaft in Lask geschickt worden, um einen Krankheitsfall in Hertfordshire zu übernehmen. Es handelte sich dabei um einen älteren Herrn namens Templeton, im Übrigen um ein sehr gepflegtes Haus und recht angenehme Leute. Die Frau, Mrs Templeton, ist bedeutend jünger als ihr Gatte, er hat aus erster Ehe einen Sohn mitgebracht, der ebenfalls im Hause wohnt. Ich kann mir nicht erklären, warum der junge Mann und seine Stiefmutter ständig miteinander im Streit leben. Er scheint, wie man zu sagen pflegt, nicht ganz normal, auf jeden Fall aber geistig stark beeinträchtigt. Nun, zuerst kam mir die Erkrankung von Mr Templeton zumindest eigenartig vor. Zeitweise schienen bei ihm überhaupt keine Anzeichen von Krankheit vorzuliegen, und dann wiederum hatte er plötzlich sehr schmerzhafte Magenkrämpfe mit Erbrechen. Jedoch hatte es den Anschein, als wenn der behandelnde Arzt mit dem Allgemeinbefinden des Patienten im Ganzen zufrieden war. Ich stellte keine Fragen, weil mir dies nicht zustand. Aber etwas gab mir doch zu denken…»