«Wenn Poirot, der unvergleichliche Poirot, in diesem Kampf unterlegen war, wäre es dann denkbar, dass Sie irgendeinen Erfolg erringen könnten?»
Ich war jedoch hartnäckig. Jeder Zweifel, ob ich über die notwendige Eignung zur Lösung dieser Aufgabe verfügte, wurde von mir mit der Bemerkung abgetan, dass ich lange genug mit Poirot zusammengearbeitet hätte, um seine Methoden instinktmäßig anwenden zu können, und dass ich mich stark genug fühlte, die Arbeit dort aufzunehmen, wo er notgedrungen aufhören musste. Die Lösung des Problems bedeutete für mich eine reine Prestigefrage. Mein Freund war einem heimtückischen Mord zum Opfer gefallen, ich konnte nicht nach Südamerika zurückkehren, ohne seine Mörder der irdischen Gerechtigkeit übergeben zu haben. Dies alles und noch viel mehr brachte ich Dr. Ridgeway gegenüber zum Ausdruck, der mir aufmerksam zuhörte.
«Ihnen ist nicht zu raten», sagte er, als ich geendet hatte, «wir sind darin verschiedener Ansicht. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Poirot selbst, sofern er noch am Leben wäre, darauf bestehen würde, dass Sie abreisen. In seinem Namen, lieber Hastings, bitte ich Sie, geben Sie Ihre kühnen Pläne auf, und begeben Sie sich auf Ihre Ranch zurück.»
Ich schüttelte traurig den Kopf und hielt es für überflüssig, weitere Worte zu verlieren. Bis zur völligen Wiederherstellung meiner Gesundheit verging ein ganzer Monat. Gegen Ende April erbat ich eine Unterredung mit dem Staatssekretär, die mir auch gewährt wurde. Mr Crowthers Art erinnerte mich an die von Dr. Ridgeway. Die Unterredung bewegte sich auf derselben Linie und endete wie vorauszusehen war. Obwohl er mein Anerbieten, meine Dienste zur Lösung des Problems zur Verfügung zu stellen, sehr schätzte, so lehnte er sie doch ruhig, aber bestimmt ab. Die Papiere, die Poirot hinterlassen hatte, waren in seine Obhut übergegangen, und er versicherte mir, dass alle erdenklichen Schritte getan würden, um jeder Eventualität zu begegnen.
Auf Grund seiner kühlen Erwägungen sah ich mich gezwungen zu resignieren. Mr Crowther beendete die Unterredung mit dem dringenden Wunsche, ich solle nach Südamerika zurückkehren. Ich empfand diese Lösung als höchst unbefriedigend und konnte meinen Unmut darüber nicht verbergen. So schwer es mir auch fällt und so schmerzlich es auch für mich ist, so muss ich doch an dieser Stelle über Poirots Begräbnis berichten. Es war eine ergreifende und feierliche Zeremonie, und die außerordentlich große Zahl von Blumenspenden legte davon Zeugnis ab, wie viele Freunde er sich in seiner Wahlheimat erworben hatte. Arm und Reich folgte dem Sarge, um dem unvergesslichen Toten die letzte Ehrung zu erweisen.
Ich selbst, ich muss es offen gestehen, war zutiefst bewegt, als ich an der Gruft an die vielen glücklichen Tage und die verschiedenen Episoden zurückdachte, die wir gemeinsam erlebt hatten. Der Abschied von meinem Freunde ging mir sehr zu Herzen.
Anfang Mai entschloss ich mich zu folgendem Plan. Ich fühlte, dass es notwendig sei, nach den früheren Plänen von Poirot weitere Inserate in der Presse zu veröffentlichen, die sich mit der Person von Claude Darrell befassten. Zu diesem Zweck hatte ich eine Anzahl von Annoncen für die Morgenzeitungen zusammengestellt und befand mich gerade in einem kleinen Restaurant in Soho. Gerade war ich im Begriffe, über die Zweckmäßigkeit dieser Veröffentlichungen Erwägungen anzustellen, als ich in einem anderen Teil der Zeitung eine kleine Notiz entdeckte, die mir einen ganz gehörigen Schrecken versetzte.
In kurzen Worten wurde über das geheimnisvolle Verschwinden des Mr Ingles von Bord der «Shanghai» berichtet, kurz nachdem das Schiff den Hafen von Marseille verlassen hatte. Obgleich das Wetter ausgesprochen gut gewesen sei, so sei doch zu befürchten, dass der unglückliche Passagier über Bord gefallen sei. Der Bericht endete mit einem Hinweis auf Mr Ingles’ langes und erfolgreiches Wirken im Fernen Osten.
Diese Neuigkeit war für mich niederschmetternd, und Mr Ingles’ Verschwinden bedeutete für mich ein schlimmes Vorzeichen. Nicht einen Moment glaubte ich an einen Unfall. Ingles war ermordet worden, und sein Tod war offensichtlich auf das Konto der Großen Vier zu buchen. Ich saß wie zu Stein erstarrt und beschäftigte mich mit dieser neuen Wendung, als ich durch das merkwürdige Verhalten eines Gastes irritiert wurde, der mir gegenüber Platz genommen hatte. Bis dahin hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Es war ein schlanker, dunkelhaariger Mann mittleren Alters von gelblicher Gesichtsfarbe, der einen kleinen gestutzten Bart trug. Er hatte so unbemerkt mir gegenüber Platz genommen, dass ich sein Kommen gar nicht wahrgenommen hatte. Sein Benehmen war höchst sonderbar. Er beugte sich über den Tisch, ergriff den vor mir stehenden Salzstreuer und machte damit auf den Rand meines Tellers herum vier kleine Häufchen.
«Sie werden verzeihen», sagte er mit tiefer Stimme, «das, was ich gerade tue, hat symbolische Bedeutung und entspricht bei den Orientalen dem Wunsche, mit einem Fremden seine Sorgen zu teilen. Manchmal mag es zutreffen, in diesem Falle möchte ich nicht hoffen, dass Sie Sorgen haben…»
Mit einer gewissen Bedächtigkeit wiederholte er sodann dieselbe Manipulation auf seinem eigenen Teller. Es war zu offensichtlich und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er mich auf die Zahl Vier unmissverständlich hinweisen wollte. Ich sah ihn durchdringend an, konnte ihn jedoch in keiner Weise mit einer der zahlreichen Personen identifizieren, die uns in diesem Zusammenhang begegnet waren. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass ich es mit keinem Geringeren als der berüchtigten Nummer vier persönlich zu tun hatte. Seine Stimme erinnerte mich undeutlich an den bis zum Halse zugeknöpften Fremden, dem wir in Paris begegnet waren.
Ich sah mich um, unschlüssig, was ich tun sollte. Meine Gedanken lesend, lächelte er und schüttelte langsam den Kopf. «Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun», bemerkte er, «erinnern Sie sich bitte an Ihre übereilten Handlungen in Paris, und lassen Sie mich Ihnen versichern, dass mein Rückzug auch jetzt wieder sehr gut gedeckt ist. Stets neigen Sie zu unüberlegten Handlungen, Hauptmann Hastings, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.»
«Sie Teufel», zischte ich, mich vor Wut nicht mehr kennend. «Sie sind ein Teufel in Menschengestalt!»
«Sie sind sehr voreilig, ein wenig zu voreilig. Ihr verstorbener Freund würde Ihnen bei dieser Gelegenheit gesagt haben, dass ein Mann, der seine Ruhe bewahrt, stets im Vorteil ist.»
«Sie wagen es, von ihm zu reden», rief ich aus, «von dem Manne, den Sie auf dem Gewissen haben. Und Sie wagen es ferner, hierher zu kommen…»
«Ich bin hierher gekommen mit einem besonderen und äußerst friedlichen Vorsatz, nämlich, Ihnen den Rat zu geben, sofort nach Südamerika zurückzukehren. Wenn Sie dies tun, so soll es damit sein Bewenden haben, was die Großen Vier betrifft. Sie und die Ihrigen werden dann in keiner Weise mehr belästigt werden. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.»
Ich lachte zornig auf.
«Und wenn ich mich weigere, Ihren selbstherrlichen Befehlen Folge zu leisten?»
«Um einen Befehl dürfte es sich kaum handeln, wir wollen es lieber als eine Empfehlung bezeichnen.»
Eine kalte Drohung lag in seinen Worten.
«Man kann es auch als eine Warnung ansehen», sagte er leise, «es erscheint ratsam, diese nicht unbeachtet zu lassen!»
Sodann, ohne dass ich vorher seine Absicht erkannte, erhob er sich und entschlüpfte schnell zur Tür. Ich sprang auf und war in derselben Sekunde hinter ihm, unglücklicherweise kollidierte ich mit einem unförmig dicken Herrn, der mir den Weg zwischen den Tischen versperrte. Kaum hatte ich mich von diesem freigemacht – meine Jagdbeute stand schon beim Ausgang –, prallte ich mit einem Kellner zusammen, der ein großes Tablett mit Tellern trug und ganz unvermutet aufgetaucht war. Als ich schließlich zur Tür gelangte, sah ich keine Spur mehr von dem hageren Manne mit dem gestutzten Bart. Der Kellner erging sich in tausend Entschuldigungen, während der dicke Herr es sich an seinem Tisch bequem machte und seine Mahlzeit bestellte. Nichts deutete darauf hin, dass beide Zwischenfälle nicht rein zufällig gewesen waren, jedoch war ich mir darüber im Klaren, dass die Agenten der Großen Vier auch hier ihre Hand im Spiel hatten.