«Ist er bei Bewusstsein?», fragte ich. «Kann er sprechen? Mr Ingles war ein alter Freund von uns, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser arme Kerl uns eine Nachricht überbringen sollte. Es besteht die Annahme, dass Mr Ingles einem Unglücksfall zum Opfer gefallen ist.»
«Er ist zwar bei Bewusstsein, jedoch zweifle ich, dass er die Kraft zum Sprechen hat, denn er hat eine Unmenge Blut verloren. Ich kann ihm allerdings noch eine Spritze zur Herzbelebung verabfolgen, aber wir haben schon das Äußerste in dieser Richtung getan.»
Dem Sterbenden wurde noch eine weitere Injektion verabreicht, während ich am Bett verblieb in der vagen Hoffnung auf ein Wort oder Zeichen, das für mich und meine Arbeit so unendlich wertvoll war. Doch die Minuten vergingen, und nichts ereignete sich.
Als ich so untätig wartend dastand, gingen mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. War ich nicht bereits wieder im Begriffe, in eine Falle zu gehen? Angenommen, dieser Chinese hatte nur die Rolle eines Dieners von Mr Ingles zu spielen und war in Wirklichkeit ein Werkzeug der Großen Vier? Hatte man nicht schon verschiedentlich davon gelesen, dass gewisse chinesische Fanatiker in der Lage waren, ihren Tod vorzutäuschen? Oder, um noch weiter zu gehen, konnte Li Chang Yen nicht so viel Macht auf diesen Mann ausgeübt haben, dass dieser sogar bereit war, den Tod auf sich zu nehmen, um seinem Herrn dienstbar zu sein? Ich musste mit allem rechnen. Gerade als mir diese Gedanken im Kopf herumgingen, bewegte sich der Mann in seinem Bett, und er öffnete die Augen. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes, dann blieb sein Blick auf meinem Gesicht haften. Er gab zwar kein Zeichen des Erkennens, aber ich wusste sofort, dass er versuchte, mir etwas zu sagen. Mochte er Freund oder Feind sein, ich musste hören, was er mir mitzuteilen hatte. Ich beugte mich über ihn, jedoch ließen seine undeutlich gestammelten Worte keinen Sinn erkennen. Ich glaubte das Wort «Hand» herauszuhören, aber in welchem Sinn es gemeint war, war nicht festzustellen. Dann wieder kam ein Laut über seine Lippen, diesmal vermeinte ich das Wort «Largo» zu hören. Mit Mühe versuchte ich die beiden Worte miteinander in Verbindung zu bringen.
«Händeln ‹Largo›?», forschte ich.
Des Chinesen Augenlider flackerten in schneller Folge, wie zustimmend, und er fügte ein weiteres italienisches Wort hinzu, das etwa wie «Carrozza» klang. Zwei oder drei weitere italienisch klingende Worte waren vernehmbar, doch dann fiel er ganz plötzlich zurück. Der Doktor bat mich, zur Seite zu treten; es war vorüber, der Mann war tot.
Ich ging hinaus an die frische Luft und war vollkommen verwirrt. Händels «Largo» und dann wieder Carrozza. Ich erinnerte mich daran, dass Carrozza so viel wie ein Gefährt bedeutete: Welcher Sinn war wohl in jenen Worten enthalten? Der Mann war ein Chinese und kein Italiener, wie kam es, dass er italienische Worte hervorgebracht hatte? Wenn er tatsächlich der Diener von Mr Ingles gewesen wäre, dann hätte er doch englisch sprechen können. Die ganze Sache erschien mir in höchstem Grade geheimnisvoll. Auf meinem Heimweg versuchte ich die ganze Zeit über, zu einer plausiblen Erklärung zu gelangen. Ach, wenn doch Poirot hätte bei mir sein können. Er mit seiner Genialität wäre bestimmt in der Lage gewesen, das Problem zu lösen.
Ganz mit meinen Gedanken beschäftigt, öffnete ich die Haustür und stieg langsam zu meiner Wohnung empor. Auf dem Tisch lag ein Brief, ich riss ihn achtlos auf und erstarrte plötzlich. Es war eine Mitteilung von einem Anwaltsbüro und lautete:
«Sehr geehrter Herr, gemäß den Anweisungen unseres verstorbenen Klienten, Monsieur Hercule Poirot, lassen wir Ihnen den beigefügten Brief zugehen. Dieser Brief gelangte eine Woche vor seinem Tode in unsere Hände mit der Anordnung ihn im Falle seines Ablebens an einem bestimmten Tage an Sie zur Absendung zu bringen. Ihr sehr ergebener…»
Ich wendete den inliegenden Brief zunächst nach allen Seiten, zweifellos stammte er von Poirot, denn ich erkannte sofort seine Handschrift. Schweren Herzens und voller Neugier öffnete ich ihn.
«Mein lieber Freund», begann er, «wenn du dies erhältst, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Weine mir keine Träne nach, sondern befolge das, was ich dir sage. Gleich nach Erhalt dieses Schreibens reise nach Südamerika ab. Sei nicht dickköpfig denn meine Bitte entspringt keinesfalls sentimentalen Regungen. Deine Abreise ist unbedingt notwendig und gehört mit zu den Plänen von Hercule Poirot! Mehr zu sagen halte ich nicht für notwendig zumal mein Freund Hastings über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt. Mit dem Rufe: ‹Nieder mit den Großen Vier› begrüße ich dich, mein Freund, aus dem Jenseits. Immer der deine
Hercule Poirot.»
Immer und immer wieder studierte ich diese merkwürdige Mitteilung. Eines stand fest: Dieser bewundernswerte Mann hatte jede Eventualität im Voraus in seine Rechnung einbezogen, so dass nicht einmal der Tod den Lauf der Dinge aufhalten konnte. Mir sollte die Initiative überlassen bleiben, während er der leitende Genius blieb. Zweifellos würden in Übersee ausführliche Instruktionen auf mich warten. In der Zwischenzeit würden meine Widersacher, in der Überzeugung, ich wäre ihrer Warnung gefolgt und hätte resigniert, keinen Grund mehr haben, sich die Köpfe zu zerbrechen. Ohne Verdacht zu erregen, könnte ich abreisen und würde doch weiterhin in der Lage sein, ihre Pläne zu durchkreuzen.
Gerade als das Schiff vom Kai ablegte, brachte mir der Steward einen Brief und erklärte mir, ein großer Herr im Pelzmantel, der das Schiff kurz vor dem Einschwenken des Fallreeps verlassen habe, hätte ihn gebeten, mir den Brief zu übergeben. Ich öffnete das Kuvert, die Zeilen waren kurz und vielsagend:
«Diesmal hat bei Ihnen die Klugheit gesiegt», lautete die Nachricht und war unterzeichnet mit «4».
Ich konnte mich nicht enthalten, still in mich hineinzulächeln. Die See war mäßig bewegt, und nachdem ich ein umfangreiches Dinner zu mir genommen hatte, entschloss ich mich, wie die Mehrzahl der Passagiere, an einer Bridgepartie teilzunehmen. In den späten Nachtstunden begab ich mich in meine Kabine und schlief wie ein Holzklotz. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht mehr. Ich erwachte mit dem unbestimmten Gefühl, dass mich jemand ständig schüttelte. Schlaftrunken und noch völlig benommen erblickte ich vor mir einen Schiffsoffizier, der sich über mich beugte. Als ich mich aufsetzte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.
«Dem Himmel sei Dank, dass ich Sie noch einmal zum Leben erwecken konnte. Es hat schier endlos gedauert, schlafen Sie immer so fest?»
«Was ist denn los?», fragte ich, noch völlig durcheinander und im Halbschlaf. «Ist etwas mit dem Schiff nicht in Ordnung?»
«Ich nehme an, Sie wissen besser Bescheid als ich», antwortete er trocken. «Wir haben besondere Anweisungen von der Admiralität. Ein Zerstörer ist längsseits gekommen, um Sie an Bord zu nehmen.»
«Ja, wie…», rief ich aus, «mitten auf See?»
«Uns allen erschien es gleichfalls als eine sehr mysteriöse Angelegenheit, jedoch ist das nicht unsere Sache. Wir übernehmen an Ihrer Stelle einen anderen Herrn, den der Zerstörer mitgebracht hat, alle Beteiligten wurden verpflichtet, strengstes Stillschweigen zu bewahren. Wollen Sie nun bitte aufstehen und sich ankleiden.»
Unfähig, meine Verwunderung zu verbergen, folgte ich seinen Anweisungen. Ein Boot wurde zu Wasser gelassen, um mich an Bord des Zerstörers zu bringen. Dort wurde ich höflich begrüßt, erhielt jedoch keine weiteren Erklärungen. Des Kapitäns Instruktionen lauteten, mich an einem bestimmten Punkt der belgischen Küste an Land zu setzen, dort würde sein Auftrag und seine Verantwortlichkeit enden. Die ganze Sache erschien wie ein Traum. Feststehend war, dass alles nach Poirots ausgearbeiteten Plänen durchgeführt wurde. Ich hatte nur blindlings zu folgen, im Vertrauen auf meinen toten Freund. Auftragsgemäß wurde ich an der vereinbarten Stelle gelandet, wo ein Wagen auf mich wartete und mich in rascher Fahrt durch das flämische Flachland brachte. Die folgende Nacht verbrachte ich in einem kleinen Hotel in Brüssel. Am nächsten Tag wurde die Reise fortgesetzt, die Landschaft nahm einen bewaldeten und hügeligen Charakter an. Ich befand mich anscheinend in den Ardennen, und plötzlich kam mir der Gedanke an Poirots Bruder, der in der Nähe von Spa wohnen sollte.