Als er zu Ende gesprochen hatte, stand der Herr vom Nebentisch auf und verließ den Raum.
«Jetzt ist er gegangen, um seine diesbezüglichen Vorkehrungen zu treffen», bemerkte Poirot ruhig. «Wollen wir unseren Kaffee auf der Terrasse trinken, mein Freund? Ich denke, es sitzt sich dort besser, ich will nur auf mein Zimmer gehen, um mir meinen Mantel zu holen.» – Ich ging hinaus auf die Terrasse und war innerlich stark beunruhigt. Poirots Ausführungen hatten nicht meine Zustimmung gefunden. Immerhin konnte uns nichts geschehen, solange wir die Augen offen hielten. Ich beschloss, dies nicht zu unterlassen.
Es vergingen ungefähr fünf Minuten, bis Poirot wieder erschien; unter Wahrung seiner bekannten Vorsichtsmaßnahmen gegen Erkältung war er bis an die Ohren zugeknöpft. An meiner Seite Platz nehmend, trank er genießerisch seinen Kaffee. «Nur in England trinkt man einen unmöglichen Kaffee», bemerkte er, «auf dem Kontinent dagegen hat man längst begriffen, wie wichtig seine Zubereitung für die Gesundheit ist.»
Als er geendet hatte, erschien unvermutet der Mann vom Nebentisch auf der Terrasse. Ohne zu zögern, näherte er sich unserem Tisch und zog einen Stuhl für sich heran.
«Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen geselle», sagte er in englischer Sprache.
«Nicht im Geringsten, Monsieur», erwiderte Poirot.
Ich fühlte mich höchst unbehaglich. Wir befanden uns zwar auf einer Hotelterrasse, von zahlreichen Gästen umgeben, aber trotzdem erfüllte mich Unruhe, denn ich fühlte instinktiv die Nähe der Gefahr.
Inzwischen plauderte Nummer vier in völlig unbefangenem Ton, man konnte ihn unmöglich für etwas anderes als einen gänzlich harmlosen Touristen halten. Er beschrieb uns Spaziergänge, Autoausflüge und zeigte, dass er mit der Umgebung durchaus vertraut war. Dann zog er seine Tabakspfeife aus der Tasche und begann diese umständlich zu stopfen und dann anzuzünden. Poirot zog gleichfalls sein kleines Zigarettenetui hervor. Als er eine Zigarette zwischen die Lippen nahm, beugte sich der Fremde mit einem Zündholz herüber.
«Darf ich Ihnen behilflich sein?»
In diesem Moment setzte unvermutet die Beleuchtung aus. Ein Zerbrechen von Glas wurde hörbar, und etwas wurde unter meine Nase gehalten, das mich fast zum Ersticken brachte.
18
Ich konnte kaum länger als eine Minute ohne Bewusstsein gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich, dass ich zwischen zwei Männern vorwärts geschleppt wurde. Sie hatten mich jeder unter einem Arm gepackt, mich dabei leicht angehoben und mir einen Knebel in den Mund gesteckt. Es war stockdunkel, doch konnte ich feststellen, dass wir uns noch nicht im Freien, sondern noch innerhalb des Hotels befanden. Überall hörte ich durcheinander laufende Leute, die in allen erdenklichen Sprachen wissen wollten, was mit dem Licht passiert sei. Jetzt wurde ich eine Treppe hinuntergeschleppt. Wir passierten einen ebenerdigen langen Gang und schließlich eine Glastür, anscheinend den hinteren Ausgang des Hotels; nun befanden wir uns im Freien. Nicht viel später erreichten wir den Tannenwald. Ich nahm eine weitere Gestalt wahr, die sich in der gleichen Verfassung wie ich befand, und erkannte sogleich Poirot, der ebenfalls ein Opfer dieses kühnen Unternehmens geworden war. Diesmal hatte kühne Frechheit gesiegt. Nummer vier hatte, wie ich annahm, ein stark wirkendes Betäubungsmittel, wahrscheinlich Äthylchlorid verwendet – offenbar hatte er eine kleine Ampulle davon direkt unter unserer Nase zerbrochen. In dem allgemeinen Durcheinander während der Panne hatten alsdann seine Komplizen, die vermutlich als Gäste an den Nebentischen gesessen hatten, sich auf uns gestürzt, uns geknebelt und durch den hinteren Ausgang des Hotels geschleppt, so entgingen sie in der allgemeinen Verwirrung einer Verfolgung.
Die Stunde, die nun folgte, ist kaum zu beschreiben; in größter Eile wurden wir auf halsbrecherischen Wegen durch den Wald geführt, es ging stetig bergan. Als wir endlich aus dem Walde herauskamen, befanden wir uns an einem Bergabhang, und ich erblickte vor mir eine Anhäufung von fantastischen Felsen und Gesteinsbrocken. Dies musste das Felsenlabyrinth sein, von dem Harvey gesprochen hatte. Kreuz und quer wanden wir uns durch die zahllosen Schluchten hindurch, der Ort glich einem Irrgarten, der von einem Teufel erdacht zu sein schien.
Plötzlich hielten wir an. Ein riesengroßer Felsblock versperrte den Weg, einer der Leute bückte sich und schien etwas in Bewegung zu setzen. Völlig geräuschlos drehte sich die gewaltige Steinmasse und gab einen kleinen, tunnelartigen Eingang in das Felsmassiv frei. Hier hinein wurden wir geführt. Eine kurze Strecke war der Tunnel sehr schmal, verbreiterte sich jedoch, und nach nicht allzu langer Zeit gelangten wir in eine große Felsenkammer, die elektrisch erleuchtet war. Dort befreite man uns von den Knebeln. Auf ein Zeichen von Nummer vier, der uns gegenüberstand und uns spöttisch betrachtete, wurden wir durchsucht und sämtliche Taschen entleert. Auch Poirots kleiner Selbstlader entging nicht ihrer Aufmerksamkeit. Ein Schmerz durchzuckte mich, als er auf den Tisch geworfen wurde. Nun waren wir völlig wehrlos – hoffnungslos überwältigt und geschlagen, mit einem Wort – es war das Ende.
«Willkommen im Hauptquartier der Großen Vier, Monsieur Hercule Poirot», begrüßte uns Nummer vier mit triumphierendem Lächeln. «Es ist ein unerwartetes Vergnügen, Sie wiederzusehen. Aber war es wirklich der Mühe wert, aus dem Jenseits aufzutauchen, um dies zu erleben?»
Poirot antwortete nicht, während ich nicht wagte, ihn anzusehen.
«Folgen Sie mir», fuhr Nummer vier fort. «Ihre Ankunft wird einige Überraschung bei meinen Kollegen auslösen.»
Er zeigte auf einen engen Durchgang in der Wand. Wir folgten und befanden uns in einer anderen Kammer, an deren äußerstem Ende ein Tisch mit vier Stühlen aufgestellt war. Der Stuhl zur Linken stand leer, doch war er drapiert mit dem Mantel eines chinesischen Würdenträgers. Auf dem zweiten, eine Zigarre rauchend, saß Mr Abe Ryland. Zurückgelehnt in den dritten Stuhl, mit feurigen Augen und ihrem nonnenhaften Gesicht, sah ich Madame Olivier.
Nummer vier nahm seinen Platz auf dem vierten Sessel ein. Wir befanden uns in der Gesellschaft der Großen Vier. Nie zuvor war ich mir der Existenz und Gegenwärtigkeit von Li Chang Yen so sehr bewusst wie in diesem Augenblick, da ich seinem leeren Stuhl gegenüberstand. Obgleich weitab im Fernen Osten, kontrollierte und leitete er doch seine Verderben bringende Organisation.
Madame Olivier stieß einen Ausruf der Überraschung aus, als sie uns erkannte. Ryland jedoch schien seine Selbstbeherrschung zu bewahren, er schob nur seine Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen und hob seine grau melierten Augenbrauen.
«Monsieur Hercule Poirot», sagte er bedächtig, «das ist eine tolle Überraschung, die Ihnen glänzend gelungen ist. Wir wähnten Sie unter der Erde wohl geborgen, aber das tut nun nichts mehr zur Sache, seit das Endspiel begonnen hat.»
Es lag ein Klang von Stahl in seiner Stimme. Madame Olivier hüllte sich in Schweigen, nur ihre Augen leuchteten, und ich hasste die Art, wie sie uns anlächelte.
«Madame et messieurs, ich wünsche Ihnen einen recht guten Abend», sagte Poirot mit äußerster Ruhe.
Etwas Ungewöhnliches, etwas in seiner Stimme, auf das ich nicht vorbereitet war, ließ mich zu ihm hinüberblicken. Er erschien durchaus gefasst, doch lag etwas in seiner ganzen Haltung, das ich nicht an ihm kannte.
Alsdann vernahmen wir das Rauschen eines Vorhangs hinter uns, und die Komtesse Rossakoff erschien auf der Bildfläche.
«Ah, sieh da», bemerkte Nummer vier, «unser allgemein geschätzter und getreuer Verbündeter. Ein alter Freund von Ihnen hat sich eingefunden, meine teure Lady.»