«Madame, ich schwöre Ihnen bei dem allmächtigen Himmel, dass ich Ihnen Ihr Kind wiederbringen werde.»
«Ich stellte bereits früher an Sie die Frage, Monsieur Poirot, ob Sie die Toten wieder zum Leben erwecken können.»
«Dann ist dieses Kind also tot?»
«Ja, so ist es leider.»
Er ging auf sie zu und ergriff ihr Handgelenk.
«Madame, ich, der ich zu Ihnen spreche, schwöre Ihnen nochmals, ich werde das scheinbar Unmögliche möglich machen.»
Sie starrte ihn ungläubig und fasziniert an.
«Sie wollen es mir nicht glauben, so will ich denn meine Worte unter Beweis stellen. Sehen Sie in mein Taschenbuch, welches man mir fortgenommen hat.»
Sie verließ den Raum und kam mit dem besagten Taschenbuch zurück. In der anderen Hand hielt sie unausgesetzt den Revolver drohend auf uns gerichtet, und ich fühlte, dass die Chancen von Achille, sie zu bluffen, auf sehr schwachen Füßen standen. Die Komtesse war bestimmt keine Närrin.
«Öffnen Sie das Taschenbuch, Madame, und zwar die linksseitige Klappe, ja, so ist es recht. Nun entnehmen Sie das Foto und schauen es sich bitte genau an.»
Verwundert entnahm sie dem Fach etwas, das ein kleines Foto zu sein schien, skeptisch betrachtete sie es, stieß einen Schrei aus, und ich dachte, sie würde in Ohnmacht fallen. Dann eilte sie auf meinen Gefährten zu.
«Wo ist er, sagen Sie mir um Himmels willen, wo befindet er sich?»
«Erinnern Sie sich meines Vorschlages, Madame!»
«Ja, selbstverständlich, ich will Ihnen nun glauben, wir müssen uns beeilen, bevor man zurückkommt.»
Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn schnell, jedes laute Geräusch vermeidend, aus der Kammer. Ich folgte ihnen unmittelbar. Von dem Vorraum gelangten wir zu dem Tunnel, den wir zuvor passiert hatten und der sich nach kurzer Zeit gabelte. Sie bog nach rechts ein. Wieder und immer wieder gelangten wir an Abzweigungen, doch sie führte uns mit unfehlbarer Sicherheit und stets wachsender Eile weiter.
«Wenn wir nur noch zur Zeit kommen», keuchte sie außer Atem. «Wir müssen uns im Freien befinden, bevor die Explosion erfolgt.»
Und weiter hasteten wir, keine Sekunde verlierend. Ich berechnete, dass dieser Tunnel rechts durch den Berg führen musste und wir an der entgegengesetzten Seite ins Freie gelangen müssten. Der Schweiß rann mir vom Gesicht, doch die Angst trieb uns immer weiter vorwärts.
Dann erblickte ich endlich, ganz weit entfernt, einen Schimmer von Tageslicht. Als wir uns diesem Punkte näherten, sah ich grünes Buschwerk durchschimmern. Dort angekommen, bogen wir es beiseite und suchten uns einen Durchgang. Endlich atmeten wir auf, wir befanden uns im Freien und im Lichte der bereits einsetzenden Morgendämmerung. Poirots Belagerungsring bestand wirklich und funktionierte tadellos. Als wir aus dem Dickicht hervorbrachen, stürzten sich drei Männer auf uns, ließen uns jedoch mit einem Ausruf der Verwunderung gleich wieder frei. «Schnell fort», rief Poirot uns allen zu, «wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren!»
Aber noch hatte er diese Worte kaum beendet, da erzitterte der Erdboden unter unseren Füßen, ein furchtbares Rollen ertönte, und der ganze Berg schien in sich zusammenzustürzen. Kopfüber flogen wir durch die Luft.
Als ich endlich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem fremden Bett und einem fremden Raum. Jemand saß am Fenster, drehte sich nach mir um und kam zu meinem Bett. Es war – Achille Poirot – oder konnte es jemand anders sein? Eine mir wohl bekannte ironische Stimme verjagte alle Zweifel, die ich noch hätte haben können.
«Ja, du täuschst dich nicht, mein Freund, ich bin es wirklich. Bruder Achille ist wieder heimgegangen – in das Land des Mythos. Während der ganzen Zeit bist du ausschließlich nur in meiner Gesellschaft gewesen. Nicht nur Nummer vier ist in der Lage, sich zu maskieren. Ich hatte meine Augen mit Belladonna behandelt und meinen Schnurrbart geopfert. Ferner besitze ich eine richtige Narbe, deren Beibringung mir vor zwei Monaten beträchtliche Schmerzen verursacht hat, denn ich konnte mir doch keinen Betrug unter den Adleraugen von Nummer vier leisten. Und endlich, dein Wissen und Glauben an die Existenz meines Bruders Achille… unbezahlbar war die Hilfe, die du mir unbewusst hast zuteil werden lassen, der halbe Erfolg des ganzen Coups ist auf dein Konto zu setzen! Die größte Schwierigkeit lag darin, die Anwesenden glauben zu machen, dass Hercule Poirot die Leitung der Operationen außerhalb des Labyrinths in Händen hätte. Meine Angaben, das Anisöl sowie den Kordon betreffend, stimmten jedoch genau.»
«Aber sage mir doch um Himmels willen, warum hast du nicht in Wirklichkeit einen Doppelgänger eingesetzt?»
«Und dich damit einer solch drohenden Gefahr auszusetzen, ohne persönlich an deiner Seite stehen zu dürfen? Da hast du aber eine schöne Auffassung von den Grundsätzen deines Freundes. Beiläufig erwähnt, hatte ich zu jeder Zeit die Gewissheit auf einen Ausweg mit Hilfe der Komtesse.»
«Wie in aller Welt hast du es fertig bekommen, sie auf unsere Seite zu bringen? Du hast doch da einen ziemlich plumpen Schwindel angewandt… in Bezug auf das tote Kind.»
«Da verfügt die Komtesse aber über einen weit größeren Scharfblick als du, mein lieber Hastings, das muss ich schon sagen. Im ersten Augenblick wurde sie getäuscht durch meine Maske, doch das währte nicht lange. Als sie bemerkte: ‹Sie scheinen Ihrem Bruder in nichts nachzustehen, Monsieur Achille Poirot›, da wusste ich bereits, dass sie meine Tarnung durchschaut hatte. Dann war die Zeit gekommen, meine letzte Trumpfkarte auszuspielen.»
«Etwa das Märchen, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken?»
«Genau das – aber du konntest ja nicht wissen, dass ich das Kind seit langem schon in Sicherheit hatte.»
«Was meinst du damit? Ich verstehe nicht ganz…»
«Du kennst ja meinen Wahlspruch – bereit sein ist alles. Sobald ich wusste, dass die Komtesse Rossakoff mit den Großen Vier in Verbindung stand, hatte ich alle möglichen Nachforschungen in Bezug auf ihr Vorleben angestellt. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass sie ein Kind gehabt hatte, welches als tot registriert war. Alsbald stellte ich Unstimmigkeiten fest, die mich in der Annahme bestärkten, dass es doch noch am Leben sei. Schließlich waren meine Bemühungen von Erfolg gekrönt, ich fand den Jungen, und er wurde mir übergeben, nachdem ich ein erhebliches Lösegeld bezahlt hatte. Der arme kleine Kerl war beinahe verhungert. Ich gab ihn zu freundlichen Leuten in sichere Obhut und machte ein Foto von ihm in seiner neuen Umgebung. So hatte ich denn, als die Zeit gekommen war, meinen kleinen Theatercoup bereit.»
«Du bist unvergleichlich, Poirot, ganz wundervoll!»
«Ich war selbst froh und glücklich, dass es mir gelungen war, den Kleinen zu retten, denn ich hatte immer eine gewisse Bewunderung für die Komtesse empfunden, und es wäre mir sehr nahe gegangen, wenn sie bei der Explosion hätte ihr Leben lassen müssen.»
«Ich habe noch gar nicht gewagt, danach zu fragen, was aus den Großen Vier geworden ist.»
«Alle Leichen wurden bereits identifiziert, diejenige von Nummer vier war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, der Kopf in tausend Stücke gerissen. Ich wünschte – ja, ich wünschte sehnlichst, es wäre anders ausgegangen. Bedeutend lieber wäre es mir gewesen, seines Todes ganz sicher zu sein – aber genug davon. Sieh dir einmal dies an.»
Er gab mir eine Zeitung, in welcher eine Meldung dick unterstrichen war. Sie enthielt den Bericht über den Selbstmord von Li Chang Yen, der kürzlich eine Revolution vorbereitet hatte, die aber gänzlich zusammengebrochen war.
«Mein großer Gegenspieler», sagte Poirot mit tiefem Ernst. «Es war bestimmt, dass er und ich uns nie von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen durften. Als er von dem Fehlschlagen seiner Pläne auf dem Kontinent hörte, wählte er den einfacheren Ausweg. Er war ein großes Genie, mon ami, ein wahres Genie. Doch zu gern hätte ich das wahre Gesicht gesehen von dem Manne, den wir als Nummer vier gekannt haben; da er nun tot ist, habe ich nur eine unklare Vorstellung von ihm. Oui, mon cher Hastings, wir haben nun drei der Großen Vier mit eigenen Augen gesehen und zur Strecke gebracht, nun wirst du zu deiner charmanten Frau zurückkehren, und ich – nun, ich werde mich von meinen Geschäften zurückziehen. Der größte Fall meines Lebens liegt hinter mir. Alles, was noch nachkommen kann, dürfte äußerst uninteressant sein im Vergleich zu diesem Erlebnis.