«Und Li Chang Yen?», forschte Poirot. «Alle Ermittlungen in dieser Richtung waren natürlich ergebnislos, aber es gab doch sicher Anhaltspunkte?»
Mr Ingles zuckte die Achseln.
«Oh, Anhaltspunkte – ja sicherlich. Ich habe einmal einen Chemiker getroffen, der mir etwas mitteilen wollte, einen intelligenten jungen Chinesen, der von Li Chang Yen protegiert wurde. Eines Tages kam dieser junge Chemiker zu mir, und ich war überzeugt, dass er am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Er sprach im Vertrauen von Experimenten an Kulis, bei welchen in Ekel erregender Geringschätzung von Leib und Leben Operationen durchgeführt wurden. Seine Nerven waren völlig zerrüttet, und er litt an Angstzuständen. Ich bettete ihn in das Giebelzimmer meines Hauses, in der Absicht, am nächsten Tage mehr aus ihm herauszuholen – und dies erwies sich als sehr unklug.»
«Wie haben sie ihn umgebracht?», wollte Poirot wissen.
«Das werde ich wohl nie erfahren. Als ich in der Nacht erwachte, stand mein Haus in Flammen, und dank einem guten Stern konnte ich noch das nackte Leben retten. Spätere Nachforschungen ergaben, dass ein Feuer von erstaunlicher Intensität in dem Giebelzimmer ausgebrochen war, und man fand die Überreste meines jungen Freundes zu Asche verkohlt.»
Ich konnte aus der Ernsthaftigkeit, mit der Mr Ingles gesprochen hatte, ersehen, dass es ihm richtig gut getan hatte, sich einmal alles vom Herzen zu reden, und auch er wurde sich dessen bewusst, denn er lächelte verlegen.
«Natürlich», meinte er, «ich habe keinerlei Beweise in Händen, und Sie, wie auch andere, werden nun sagen, all dieses hätte sich nur in meiner Fantasie zugetragen.»
«Im Gegenteil», wandte Poirot ein, «wir haben allen Grund, Ihren Ausführungen Glauben zu schenken. Wir sind selbst daran interessiert, alles über Li Chang Yen zu erfahren.»
«Sehr seltsam, dass Sie überhaupt von seiner Existenz wissen; ich bildete mir immer ein, dass außer mir keine Seele in England je etwas über ihn gehört hätte. Ich möchte zu gerne wissen, wie Sie darauf kamen, etwas über ihn erfahren zu wollen – wenn es nicht indiskret von mir ist.»
«Nicht im Geringsten, Monsieur. Ein Mann suchte Zuflucht bei mir. Er litt unter starken Schockeinwirkungen, konnte uns jedoch gerade noch so viel berichten, um unser Interesse an Li Chang Yen zu wecken. Er sprach von vier Leuten, den Großen Vier, einer Organisation, von der wir uns keine Vorstellung machen können. Nummer eins sei Li Chang Yen, Nummer zwei ein unbekannter Amerikaner, Nummer drei eine gleichfalls unbekannte Französin, Nummer vier, wenn man ihn so bezeichnen darf, das ausführende Glied der Organisation – ‹der Zerstörer›. Der Mann, der mir diese Informationen gab, ist tot. Sagen Sie, Monsieur, sind Sie einmal auf die Bezeichnung ‹die Großen Vier› gestoßen?»
«Nicht in Verbindung mit Li Chang Yen. Darüber ist mir nichts bekannt, aber gelesen habe ich davon, und zwar unlängst in einer ebenso ungewöhnlichen Verbindung. Ah, jetzt erinnere ich mich!»
Er erhob sich und ging zu einem lackierten Schränkchen, einem seltenen und kostbaren Möbelstück, und kam mit einem Brief in der Hand zurück. «Hier habe ich ihn. Ein Brief von einem alten Seemann, mit dem ich einst in Shanghai zusammengetroffen bin, einem alten, eisgrauen Globetrotter, unheilbar dem Trunke ergeben. Ich habe die Mitteilung nicht ernst genommen, dachte, dies sei ja nur das leere Gerede eines Alkoholikers.» Laut las er nun Folgendes vor:
«Mein lieber Freund,
Sie werden sich meiner wohl kaum erinnern, doch haben Sie mir seinerzeit in Shanghai einen Gefallen getan. Ich möchte Sie nochmals um Ihre Hilfe bitten: Ich muss Geld haben, um dieses Land verlassen zu können. Ich hoffe zwar, dass mein jetziges Versteck gut gewählt ist, aber eines Tages werden sie mich doch erwischen. Die Großen Vier, meine ich. Es geht um Leben und Tod. Ich habe zwar Geld genug nur wage ich nicht, es abzuheben, aus Furcht, mich damit zu verraten. Senden Sie mir einige hundert Pfund, ich werde sie Ihnen getreulich zurückzahlen – ich schwöre es Ihnen. Ihr sehr ergebener
Jonathan Whalley.
Abgesandt aus ‹Granite Bungalow›, Hoppaton, Dartmoor. Ich hatte es als einen ziemlich plumpen Versuch angesehen, mich um einige hundert Pfund leichter zu machen, die ich schwerlich entbehren konnte. Wenn Ihnen der Brief irgendwie von Nutzen sein kann…» Er überreichte uns das Schreiben.
«Ich bin Ihnen sehr verbunden, Monsieur, und werde mich noch in dieser Stunde auf den Weg nach Hoppaton machen.»
«Wirklich? Das scheint interessant zu werden. Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich mich Ihnen anschließe?»
«Ich würde es sehr begrüßen, in Ihrer Gesellschaft zu reisen, aber wir müssen uns unverzüglich auf den Weg machen. So erreichen wir Dartmoor am Spätnachmittag.»
John Ingles war bald reisefertig, und schon saßen wir in der Eisenbahn, die von Paddington nach dem Westen führt. Hoppaton ist ein kleines Dorf am Rande des Moores, fünfzehn Kilometer von Moreton-Hampstead entfernt, und wir erreichten es nach kurzer Fahrt. Es war bereits zwanzig Uhr, jedoch war es ein heller Juliabend. In den engen Straßen des Dorfes sprachen wir einen alten Bauern an, um uns nach dem rechten Weg zu erkundigen.
«‹Granite Bungalow›», wiederholte der alte Mann nachdenklich, «wollen Sie wirklich dorthin?»
Als wir bejahten, wies der Alte auf ein kleines graues Haus am Ende der Straße.
«Das dort ist der Bungalow. Wollen Sie den Inspektor sprechen?»
«Welchen Inspektor?», fragte Poirot kurz. «Was meinen Sie damit?»
«Haben Sie denn nichts von der Bluttat gehört? Es soll furchtbar gewesen sein, man spricht von Strömen von Blut.»
«Mon Dieu!», murmelte Poirot. «Wir müssen unverzüglich diesen Inspektor sprechen.»
Kurz darauf lernten wir Inspektor Meadows kennen. Er verhielt sich zuerst ziemlich abweisend, doch als Poirot sich auf Inspektor Japp von Scotland Yard bezog, wurde er zugänglicher.
«Ja, mein Herr, heute Morgen wurde der Mord entdeckt. Eine bestialische Tat. Man verständigte die Polizei in Moreton, und ich fuhr sogleich hierher. Zuerst sah die Sache sehr geheimnisvoll aus. Der alte Herr war ungefähr siebzig und liebte einen guten Tropfen. Er lag am Boden seines Wohnzimmers, hatte eine Beule am Kopf, und seine Kehle war von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten. Überall floss Blut, wie Sie sich wohl denken können. Die Frau, welche für ihn kochte, Betsy Andrews, sagte aus, dass ihr Herr im Besitze mehrerer kleiner Jadefiguren war, von denen er behauptete, dass sie sehr wertvoll seien, und diese waren verschwunden. Es sah also nach Raubmord aus, und doch hatten wir Bedenken. Außer Mrs Andrews, die aus Hoppaton stammt, hatte Mr Whalley noch einen Diener, einen groben, unzugänglichen Kerl namens Robert Grant. Dieser war eben zu einem benachbarten Bauernhof gegangen, wie jeden Tag, um Milch zu holen, während Betsy gerade vor dem Haus mit einer Nachbarin plauderte. Sie war nicht länger als zwanzig Minuten draußen – zwischen zehn Uhr und zehn Uhr zwanzig, und in dieser Zeit muss das Verbrechen geschehen sein. Grant kam als Erster zum Haus zurück. Er ging wie gewöhnlich durch die Hintertür, die offen stand – denn niemand hält hier in der Gegend seine Tür verschlossen, schon gar nicht am hellen Tage –, stellte die Milch in die Speisekammer und ging in sein Zimmer, um die Zeitung zu lesen und zu rauchen. Er hatte gar keine Ahnung davon, dass etwas vorgefallen war, wenigstens behauptete er es. Dann kam Betsy zurück, ging in das Wohnzimmer, sah, was geschehen war, und stieß einen Schrei aus, der Tote hätte erwecken können. Das ist alles völlig klar und einleuchtend. Jemand hatte das Haus betreten, während die zwei abwesend waren, und erledigte den alten Herrn. Aber hierbei kam mir der Gedanke, dass es sich doch wohl um einen ziemlich dreisten Burschen gehandelt haben musste. Er musste von der Dorfstraße her gekommen oder durch einen der Hintergärten geschlichen sein. ‹Granite Bungalow› ist, wie Sie sehen, von vielen Häusern umgeben. Wie ist es möglich, dass niemand ihn gesehen hat?»