«So riskiere ich es eben», erklärte der Mann plötzlich. «Es war genauso, wie Sie sagten. Ich betrat das Haus und ging geradewegs zu meinem Herrn; ich fand ihn blutüberströmt am Boden liegen. Es galt, klar zu überlegen. Man würde sofort meine Vorstrafen feststellen und mich mit Sicherheit dieses Verbrechens beschuldigen. Mein einziger Gedanke war, mich unverzüglich aus dem Staub zu machen, bevor das Verbrechen entdeckt wurde.»
«Und die Jadefiguren?»
Der Mann zögerte.
«Sehen Sie –»
«Sagen Sie doch schon, Sie nahmen sie rein instinktiv an sich. Sie haben von Ihrem Herrn gehört, dass sie einen gewissen Wert hatten, und waren der Meinung, nicht halbe Arbeit machen zu wollen. Das kann ich begreifen. Nun beantworten Sie mir bitte Folgendes: Nahmen Sie die Figuren an sich, als Sie zum zweiten Male das Zimmer betraten?»
«Ich war nur einmal im Zimmer, das hat mir völlig gereicht.»
«Sind Sie ganz sicher?»
«Absolut sicher.»
«Gut; wann kamen Sie zuletzt aus dem Gefängnis?»
«Vor zwei Monaten.»
«Wie kamen Sie zu dieser Anstellung?»
«Durch eine Hilfsaktion für entlassene Strafgefangene. Ein Mann erwartete mich, als ich entlassen wurde.»
«Was war das für ein Mann?»
«So etwas wie ein Geistlicher; weicher schwarzer Hut und eine gewählte Sprache. Hatte einen zerbrochenen Vorderzahn und trug eine Brille. Saunders war sein Name. Er sagte, er hoffe, dass ich reumütig sei, und er wolle mir deshalb eine gute Stelle verschaffen. Ich trat meinen Posten beim alten Whalley auf seine Empfehlung an.»
«Ich danke Ihnen; ich glaube jetzt alles durchschauen zu können. Haben Sie noch etwas Geduld.»
Er blieb beim Ausgang stehen und sagte: «Saunders gab Ihnen ein Paar Schuhe, nicht wahr?»
Grant staunte nur.
Poirot erhob sich.
«Ja, freilich, doch wie können Sie das wissen?»
«Es gehört nun einmal zu meinem Beruf, über verschiedene Dinge unterrichtet zu sein», sagte Poirot mit großem Ernst.
Nach einigen Worten mit dem Inspektor gingen wir zum «Weißen Hirschen», um bei Schinken mit Ei, dazu Apfelwein aus Devonshire, die Angelegenheit zu besprechen.
«Können Sie uns schon irgendwelche Erklärungen geben?», fragte Ingles lächelnd.
«Ja, die Angelegenheit liegt für mich ziemlich klar, jedoch werden Sie verstehen, dass es nicht so ganz leicht sein wird, Beweise zu erbringen.
Whalley wurde auf Befehl der Großen Vier getötet – aber nicht von Grant. Ein durchtriebener Bursche besorgte Grant den Posten und plante mit großer Umsicht, ihn zum Sündenbock zu machen – eine nicht zu schwierige Aufgabe bei Grants Vorstrafen. Er gab ihm ein Paar Schuhe, eines von zwei vollständig gleichen Paaren. Das andere Paar behielt er selbst. Es war alles denkbar einfach. Zu dem Zeitpunkt, als Grant sich außerhalb des Hauses befand und Betsy zu einem Schwätzchen ausgegangen war (was sie wahrscheinlich jeden Tag zu tun pflegte), fuhr er bei dem Hause vor und trug bei dieser Gelegenheit die gleichen Schuhe. Er betrat die Küche, ging zum Wohnzimmer, streckte den alten Herrn mit einem Schlag nieder und schnitt ihm die Kehle durch. Dann begab er sich zurück in die Küche, zog die Schuhe aus, tauschte sie gegen die vor der Tür stehenden aus, verließ mit Grants Schuhen das Haus und fuhr mit seinem Wagen davon.»
Ingles betrachtete Poirot aufmerksam.
«Da taucht noch die Frage auf, wieso ihn niemand gesehen hat.»
«Ah, nach meiner Überzeugung kann man hier erkennen, mit welcher Schlauheit Nummer vier zu Werke ging. Ein jeder sah ihn – und wiederum sah ihn niemand, denn er benutzte zu seinem Vorhaben einen Metzgerwagen!»
Ich stieß einen Ruf der Überraschung aus.
«Die Hammelkeule?»
«Genau das, Hastings, die Hammelkeule. Jedermann konnte beschwören, dass kein Fremder an diesem Morgen ‹Granite Bungalow› betreten hatte, und doch fand ich in der Speisekammer die noch steifgefrorene Hammelkeule. Es ist Montag, so muss das Fleisch heute Morgen geliefert worden sein, denn wäre es bereits am Sonnabend geliefert worden, wäre es bei dem heißen Wetter nicht bis zum Montag in gefrorenem Zustand verblieben. Also ist tatsächlich jemand dort gewesen, und ein Mann als Metzger verkleidet, mit blutbefleckter Schürze, hat wahrscheinlich keine oder nur wenig Aufmerksamkeit erregt.»
«Verdammt genial zusammengereimt», sagte Ingles zustimmend.
«Ja, das hat unsere Nummer vier tatsächlich schlau eingefädelt», bekräftigte Poirot.
«Er ist ebenso schlau wie unser Hercule Poirot», bemerkte ich leise.
Mein Freund warf mir einen missbilligenden Blick zu. «Deine scherzhaften Bemerkungen sind an dieser Stelle durchaus nicht angebracht, Hastings», sagte er kurz angebunden. «Habe ich nicht einen Unschuldigen vor dem Galgen gerettet?»
5
Nachdem die Geschworenen Robert Grant alias Biggs von der Anklage des Mordes an Jonathan Whalley freigesprochen hatten, hatte ich persönlich den Eindruck, dass unser Freund Inspektor Meadows doch nicht so ganz von seiner Unschuld überzeugt war. Die Indizien, die gegen Grant sprachen, die Vorstrafen, die Jadefiguren, die er gestohlen hatte, die Fußabdrücke, die genau mit seinen Schuhen übereinstimmten, waren seiner Überzeugung nach so beweisführend, dass man sie nicht übersehen konnte. Jedoch Poirot, entgegen seiner sonstigen Abneigung, vor Gericht Aussagen zu machen, hatte die Geschworenen überzeugt. Zwei Zeugen hätten sich gemeldet, welche einen Metzgerwagen am Montagmorgen gesehen hatten, während der ortsansässige Metzger bezeugte, dass sein Wagen nur mittwochs und freitags Hauszustellungen durchführte. Ferner hatte sich eine Frau gemeldet, die sich erinnerte, einen Fleischerei-Angestellten beim Verlassen des Bungalows gesehen zu haben, jedoch konnte sie keine präzise Beschreibung des Mannes liefern. Die einzigen Wahrnehmungen, die ihr im Gedächtnis haften geblieben waren, waren die, dass er glatt rasiert und von mittlerer Statur war und dass er ganz das Aussehen eines Metzgers hatte. Bei dieser Beschreibung zuckte Poirot vielsagend mit den Achseln. «Es ist so, wie ich dir sage, Hastings», wandte er sich nach der Verhandlung an mich. «Der Mann ist ein Künstler in seinem Fach. Er verrät sich weder durch einen falschen Bart noch durch eine dunkle Brille. Er ändert stets seine äußere Erscheinung, aber das ist noch nicht alles. Für jeden besonderen Zweck passt er sich jeweils den besonderen Verhältnissen an. Er lebt sich völlig in seine Aufgabe hinein.»
Sicherlich musste ich zugeben, dass der Mann, der uns als Aufseher der Heilanstalt in Hanwell besuchte, ganz genau mit meiner Vorstellung eines Bediensteten der Anstalt übereinstimmte. Ich hätte niemals für einen Moment daran gezweifelt, dass er nicht echt gewesen wäre.
Es war alles ein wenig entmutigend, und unsere Erlebnisse in Dartmoor schienen uns kein Stück weitergebracht zu haben. Ich teilte diese Gedanken Poirot mit, aber er wollte nicht zugeben, dass wir nichts erreicht hatten.
«Wir kommen allmählich weiter», sagte er. «Fortschritte haben wir jedenfalls schon gemacht. Bei jedem Berührungspunkt mit diesem Manne lernen wir ein wenig mehr von seiner geistigen Einstellung und seinen Methoden kennen. Von uns und unseren Plänen weiß er nichts.»
«Und in dieser Beziehung, Poirot», protestierte ich, «geht es mir genauso wie ihm. Es hat nicht den Anschein, als hättest du irgendwelche neue Pläne, du sitzt da und wartest, bis von seiner Seite etwas Neues geschieht.»
Poirot lächelte.
«Mon ami, du bleibst dir immer gleich. Immer derselbe Hastings, der gleich impulsiv und stets bereit ist, jemandem an den Hals zu springen. Vielleicht», fügte er hinzu, als es an der Tür klopfte, «kommt jetzt deine Chance; es könnte vielleicht unser Freund sein, der jetzt eintritt.» Und er lachte über meine Enttäuschung, als Inspektor Japp, in Gesellschaft eines anderen Herrn, den Raum betrat.