»Okay, Mom, okay. Du kannst mich begleiten, aber bleib immer hinter mir, damit es nicht so aussieht, als ob wir zusammengehören. Wenn wir irgendwelchen Freunden von mir begegnen, werde ich stehen bleiben und mit ihnen plaudern, aber du wirst einfach weitergehen, okay? Ich komme dann nach.«
Ich werde stehen bleiben. »Wie bitte? Ich bin doch nicht dein Hausdiener oder irgendeine entfernte Verwandte, für die du dich schämen musst.«
»Aber Mom, ich kann mich nicht mit dir zusammen sehen lassen.«
»Wie meinst du das? Ich kenne deine Freunde doch alle. Sie waren schon bei uns zu Hause.«
»Das ist was anderes«, wirst du sagen, fassungslos darüber, dass du mir das erklären musst. »Ich möchte alleine einkaufen.«
»So ein Pech aber auch.«
Dann die Explosion: »Du tust nicht das Geringste dafür, um mich glücklich zu machen! Ich bin dir vollkommen egal!«
Es wird noch gar nicht so lange her sein, dass du gerne mit mir einkaufen gegangen bist. Es wird mich immer wieder verblüffen, wie schnell du aus einer Phase heraus- und in eine andere hineinwächst. Mit dir zusammenzuleben ist, als würde man ein bewegliches Ziel anvisieren. Du wirst immer schon ein Stückchen weiter sein, als ich erwarte.
Ich betrachtete einen Satz in Heptapod B, den ich gerade mit einem einfachen Stift auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Wie alle von mir selbst geschriebenen Sätze sah dieser unförmig aus, wie ein Satz, den ein Heptapode geschrieben hatte und den man dann mit einem Hammer zertrümmert und wieder ungeschickt zusammengeflickt hatte. Auf meinem Schreibtisch lagen viele Blätter mit solchen uneleganten Semagrammen herum – ab und zu wellten sie sich, wenn der Ventilator sich in ihre Richtung drehte.
Es war sonderbar, eine Sprache zu lernen, die keine gesprochene Form hatte. Statt die Aussprache zu üben, schloss ich die Augen und versuchte, Semagramme auf die Innenseite meiner Lider zu zeichnen.
Jemand klopfte an die Tür, und bevor ich reagieren konnte, trat Gary mit einem freudigen Gesichtsausdruck ins Zimmer. »Das Team in Illinois meldet eine Bestätigung in Physik.«
»Wirklich? Das ist großartig! Wann war das?«
»Vor ein paar Stunden. Ich war gerade bei der Videokonferenz. Komm, ich zeig es dir.« Er begann meine Schreibtafel zu löschen.
»Ach, macht nichts. Das brauche ich sowieso nicht mehr.«
»Gut.« Er griff nach einem Kreidestummel und zeichnete ein Diagramm:
»Also, das hier ist der Verlauf eines Lichtstrahls, wenn er von Luft in Wasser übergeht. Das Licht bewegt sich in gerader Linie fort, bis es auf die Wasseroberfläche trifft. Wasser hat einen anderen Brechungsindex als Luft, und so ändert das Licht seine Richtung. Das ist dir bekannt, oder?«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Der Verlauf, den das Licht nimmt, hat eine interessante Eigenschaft. Das hier ist der kürzeste Weg zwischen den beiden Punkten.«
»Wie bitte?«
»Nimm einfach mal an, dass das Licht diesen Verlauf nimmt.« Er zeichnete auf dem Diagramm eine gepunktete Linie ein:
»Dieser hypothetische Weg ist kürzer als der Verlauf, den das Licht tatsächlich nimmt. Allerdings ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht im Wasser geringer als in der Luft, und hier verläuft ein größerer Anteil des Weges im Wasser. Das Licht bräuchte daher entlang dieses Weges länger als entlang des tatsächlichen Weges.«
»Okay, das verstehe ich.«
»Stell dir nun vor, dass das Licht diesen Verlauf nimmt.« Er zeichnete eine zweite gepunktete Linie ein.
»Dieser Weg verkürzt die Strecke, die das Licht im Wasser zurücklegen muss, aber die Gesamtstrecke ist länger. Das Licht würde wiederum länger für die Strecke von A nach B benötigen als auf dem tatsächlichen Weg.«
Gary legte die Kreide weg und deutete mit weißen Fingerspitzen auf die Tafel. »Auf allen vorstellbaren Wegen würde das Licht länger für die Strecke brauchen. Anders gesagt: Der Weg, den das Licht einschlägt, ist immer der schnellstmögliche Weg zwischen zwei Punkten. Das ist das Fermatsche Prinzip der kürzesten Zeit.«
»Hm, interessant. Und darauf haben die Heptapoden reagiert?«
»Genau. Moorehead vom Spiegelteam in Illinois hat den Heptapoden eine Animation des Fermatschen Prinzips vorgeführt, und sie haben es wiederholt. Nun versucht er, es mit Symbolen zu beschreiben.« Er grinste breit. »Ist das nicht toll?«
»Ja, das ist wirklich toll, aber warum habe ich bis jetzt noch nie etwas von diesem Prinzip gehört?« Ich nahm einen Aktenordner – eine Richtliniensammlung, die vorgab, welche Bereiche der Physik wir mit den Heptapoden angehen sollten, und wedelte damit in Garys Richtung. »Hier drin steht alles Mögliche über die Planck-Masse und den Spin-Flip bei Wasserstoffatomen, aber nichts über die Brechung von Licht.«
»Wir haben uns geirrt, welches Wissen für euch am nützlichsten ist«, sagte er ohne jede Verlegenheit. »Es ist wirklich eigenartig, dass wir den ersten Durchbruch mit dem Fermatschen Prinzip erzielen konnten. Obwohl es sich leicht erklären lässt, braucht man die Differentialrechnung, um es mathematisch zu beschreiben – sogar die Variationsrechnung, um genau zu sein. Und wir dachten, dass uns mit einem einfachen geometrischen oder algebraischen Theorem der erste Durchbruch gelingen würde.«
»Wirklich sonderbar. Glaubst du denn, dass sich die Vorstellung der Heptapoden davon, was einfach ist, nicht mit der unsrigen deckt?«
»Genau. Deshalb bin ich schon sehr gespannt darauf herauszufinden, wie ihre mathematische Beschreibung des Fermatschen Prinzips aussieht.« Er begann beim Reden hin und her zu gehen. »Wenn sich herausstellt, dass ihre Version der Variationsrechnung für sie simpler ist als ihre Version der Algebra, erklärt das vielleicht, warum wir solche Schwierigkeiten hatten, uns mit ihnen über Physik zu verständigen. Kann gut sein, dass ihr ganzes mathematisches System, verglichen mit dem unsrigen, auf dem Kopf steht.« Er zeigte auf den Ordner mit den Richtlinien. »Auf alle Fälle werden wir das da überarbeiten müssen.«
»Könnt ihr auf dem Fermatschen Prinzip aufbauen und weitere Bereiche der Physik erschließen?«
»Wahrscheinlich. Es gibt viele physikalische Prinzipien wie das von Fermat.«
»Als da wären? Louises Prinzip des geringsten Platzes im Kleiderschrank? Seit wann ist Physik so minimalistisch?«
»Na ja, das Wort ›geringste‹ geht in die falsche Richtung. Das Fermatsche Prinzip der geringsten Zeitdauer ist nämlich unvollständig. In manchen Fällen folgt das Licht einem Verlauf, der eine längere Zeit benötigt als andere mögliche Wege. Richtiger wäre die Aussage, dass das Licht immer einen extremen Weg nimmt, einen, der die Zeitdauer entweder minimiert oder maximiert. Minimal- und Maximalwerte haben mathematisch gesehen bestimmte Eigenschaften gemeinsam, und so lassen sich beide mit derselben Gleichung beschreiben. Genau genommen ist das Fermatsche Prinzip also kein minimalistisches Prinzip, sondern etwas, das man ›Variationsprinzip‹ nennt.«
»Und es gibt noch mehr Variationsprinzipien?«
Er nickte. »In allen Bereichen der Physik. So gut wie jedes physikalische Gesetz lässt sich zu einem Variationsprinzip umformulieren. Der einzige Unterschied zwischen den verschiedenen Prinzipien besteht darin, welche Eigenschaften minimiert oder maximiert werden.« Er gestikulierte herum, als ob die verschiedenen Zweige der Physik vor ihm auf dem Tisch aufgereiht wären. »In der Optik, wo das Fermatsche Prinzip angewendet wird, ist es die Zeit, die einen Extremwert annehmen muss. In der Mechanik muss eine andere Eigenschaft extrem sein, und beim Elektromagnetismus ist es wieder etwas anderes. Aber all diese Prinzipien sind sich mathematisch ähnlich.«
»Wenn ihr also erst einmal die mathematische Beschreibung der Heptapoden für das Fermatsche Prinzip habt, solltet ihr auch die anderen Prinzipien entschlüsseln können.«