Alleine und zusammen mit anderen Linguisten übte ich, so oft ich konnte, Heptapod B. Eine semasiografische Sprache zu lesen, war so neu, dass es mich mehr fesselte als Heptapod A. Zudem fand ich meine Fortschritte beim Schreiben aufregend. Mit der Zeit gerieten die Sätze, die ich schrieb, schöner und zusammenhängender. Schließlich war ich so weit, dass ich bessere Ergebnisse erzielte, wenn ich nicht allzu viel nachdachte. Statt einen Satz sorgfältig zu planen, bevor ich ihn schrieb, konnte ich einfach loslegen; die ersten Linien entsprachen fast immer einer eleganten Wiedergabe dessen, was ich ausdrücken wollte. Ich war dabei, ein Sprachvermögen zu entwickeln, das dem der Heptapoden glich.
Noch interessanter war, dass Heptapod B meine Denkweise veränderte. Zu denken bedeutete für mich normalerweise, mit einer inneren Stimme zu sprechen. Meine Gedanken waren phonologisch kodiert, wie es in der Sprache meines Berufes heißt. Meine innere Stimme redete meist Englisch, doch das musste nicht zwangsläufig so sein. Während des Sommers nach meinem letzten Jahr an der Highschool hatte ich an einem Russisch-Intensivkurs teilgenommen. Als der Sommer zu Ende ging, dachte ich nicht nur auf Russisch, sondern träumte auch in dieser Sprache. Es war aber immer gesprochenes Russisch. Andere Sprache, gleicher Modus: eine Stimme, die im Stillen redete.
Schon immer hat mich die Vorstellung fasziniert, in einem sprachlichen, aber nicht phonetischen Modus zu denken. Ein Freund von mir hatte taube Eltern und war mit der amerikanischen Zeichensprache aufgewachsen. Er erzählte mir, dass er oftmals in Zeichensprache und nicht auf Englisch dachte. Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn die eigenen Gedanken manuell kodiert wären – wenn man sich beim Denken ein Paar gestikulierender Hände vorstellen würde statt einer inneren Stimme.
Mit Heptapod B erlebte ich etwas, das genauso fremdartig war: Meine Gedanken wurden grafisch kodiert. In tranceartigen Zuständen formten sich meine Gedanken nicht mittels einer inneren Stimme, sondern ich sah vor meinem geistigen Auge Semagramme, die sich ausbreiteten wie Eisblumen auf einer Fensterscheibe.
Mit zunehmender Sicherheit erschienen voll ausgestaltete semagrafische Entwürfe vor meinem geistigen Auge, mit denen ich sogar komplexe Vorstellungen ausdrücken konnte. Das bedeutete allerdings nicht, dass sich mein Denken beschleunigte. Statt sich vorwärts zu bewegen, schwebte mein Geist im Gleichgewicht über der den Semagrammen zugrundeliegenden Symmetrie. Die Semagramme schienen mehr als nur eine Sprache zu sein – fast wirkten sie wie Mandalas. Ich merkte, wie ich in einen meditativen Zustand verfiel, in dem ich über die Art und Weise nachgrübelte, wie sich Prämissen und Schlussfolgerungen austauschen ließen. Es gab keine festgelegte Richtung, wie Aussagen miteinander verknüpft wurden, keinen »Gedankengang«, der einem bestimmten Pfad gefolgt wäre; die einzelnen Bestandteile einer Überlegung waren von gleicher Wichtigkeit, sie hatten alle die gleiche Priorität.
Ein Vertreter des Außenministeriums namens Hossner hatte die Aufgabe, die US-Wissenschaftler darüber zu informieren, wie wir mit den Heptapoden umzugehen hatten. Wir saßen im Videokonferenzraum und hörten seinem Vortrag zu. Unsere Mikrofone waren ausgeschaltet, und so konnten Gary und ich uns austauschen, ohne Hossner zu unterbrechen. Gary rollte beim Zuhören derart oft die Augen, dass ich mir schon Sorgen um sein Sehvermögen machte.
»Sie müssen einen Grund gehabt haben, den weiten Weg zu uns zurückzulegen«, sagte der Diplomat; seine Stimme klang blechern aus den Lautsprechern. »Gott sei Dank sieht es nicht so aus, als wollten sie uns überfallen. Was ist aber dann ihre Absicht? Sind sie auf der Suche nach Rohstoffen? Sind sie Anthropologen? Missionare? Was auch immer ihre Motive sein mögen, es muss etwas geben, was wir ihnen anbieten können. Vielleicht das Recht auf Erzabbau in unserem Sonnensystem. Vielleicht wollen sie Informationen über uns. Vielleicht wollen sie die Erlaubnis, zu unserer Bevölkerung predigen zu dürfen. Wir wissen es nicht genau, aber wir können sicher sein, irgendetwas wollen sie.
Was ich sagen will, ist Folgendes: Es mag nicht ihre Absicht sein, Handel zu treiben, aber das heißt nicht, dass wir nicht mit ihnen Handel treiben können. Alles, was wir wissen müssen, ist, warum sie hier sind und was wir ihnen anbieten können. Sobald wir das in Erfahrung gebracht haben, können wir anfangen zu verhandeln.
Ich möchte betonen, dass unsere Beziehung zu den Heptapoden keine feindliche sein muss. Schließlich muss nicht jeder Gewinn für sie ein Verlust für uns sein, und umgekehrt. Wenn wir es richtig anpacken, können wir ebenso als Gewinner aus dieser Sache hervorgehen wie die Heptapoden.«
»Du meinst, das ist ein Nullsummenspiel?«, sagte Gary mit gespielter Ungläubigkeit. »Ach du meine Güte!«
Ein Nullsummenspiel.«
»Was?« Du wirst dich auf dem Absatz umdrehen und aus deinem Zimmer zurückkommen.
»Wenn beide Parteien gewinnen können: Mir ist gerade wieder eingefallen, dass man das ein Nullsummenspiel nennt.«
»Genau!«, wirst du sagen und es in dein Notebook tippen. »Danke, Mom!«
»Anscheinend habe ich es doch gewusst«, werde ich sagen. »In all den Jahren mit deinem Vater musste ja irgendetwas hängen bleiben.«
»Ich wusste, dass du es weißt«, wirst du sagen. Du wirst mich kurz umarmen, und deine Haare werden nach Äpfeln riechen. »Du bist die Beste.«
Louise?«
»Hmm? Entschuldige, ich habe nicht aufgepasst. Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, was du von unserem Mr Hossner hältst.«
»Dazu sage ich besser nichts.«
»Damit habe ich es auch versucht: in der Hoffnung, dass die Regierung vielleicht verschwindet, wenn ich sie ignoriere. Klappt aber leider nicht.«
Wie um Garys Behauptung zu bestätigen, faselte Hossner weiter: »Ihre derzeitige Aufgabe ist es zusammenzutragen, was Sie bisher erfahren haben. Suchen Sie nach irgendetwas, das uns helfen könnte. Gab es irgendwelche Andeutungen darüber, was die Heptapoden möchten? Oder was für sie von Wert ist?«
»Na so was. Ist uns nie in den Sinn gekommen, die Sache so zu sehen«, sagte ich. »Werden wir gleich erledigen, Sir.«
»Das Traurige ist, dass das alles ist, was sie von uns erwarten«, sagte Gary.
»Hat jemand eine Frage?«, wollte Hossner wissen.
Burghart, der Linguist des Spiegelstandorts von Fort Worth, meldete sich: »Wir sind das viele Male mit den Heptapoden durchgegangen. Sie beharren weiterhin darauf, dass sie hier sind, um zu beobachten, und dass man mit Informationen nicht handeln kann.«
»Die möchten wohl, dass wir das glauben«, sagte Hossner. »Aber bedenken Sie: Wie kann das wahr sein? Mir ist bekannt, dass die Heptapoden immer wieder für kurze Zeit aufgehört haben, mit uns zu sprechen. Das könnte ein Hinweis auf taktisches Verhalten sein. Wenn wir nun ab morgen für einige Zeit aufhören mit ihnen zu sprechen ...«
»Weck mich, wenn er etwas Interessantes sagt«, brummte Gary.
»Darum wollte ich dich gerade bitten.«
An dem Tag, als Gary mir zum ersten Mal Fermats Prinzip erklärte, hatte er auch erwähnt, dass sich fast jedes physikalische Gesetz als Variationsprinzip formulieren lässt. Menschen bevorzugen es allerdings bei ihrer Arbeit mit physikalischen Gesetzen, diese als Ausdruck einer Beziehung zwischen Ursache und Wirkung aufzufassen. Das konnte ich nachvollziehen: Alle physikalischen Eigenschaften, die Menschen intuitiv verstehen, beispielsweise kinetische Energie oder Beschleunigung, sind Eigenschaften eines Objektes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und diese lassen sich von der chronologischen, kausalen Auslegung von Ereignissen ableiten: ein Moment, der auf einen vorhergehenden folgt, Ursache und Wirkung, die eine Kettenreaktion bilden, die von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft.
Im Gegensatz dazu haben die physikalischen Eigenschaften, welche die Heptapoden intuitiv auffassen, wie zum Beispiel »Wirkung« oder andere durch Integrale dargestellte Zusammenhänge, nur dann eine Bedeutung, wenn man einen Zeitabschnitt ins Auge fasst. Diese Eigenschaften lassen sich von einer teleologischen Betrachtung der Ereignisse ableiten: Wenn man Ereignisse über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet, erkennt man Anforderungen, die erfüllt werden müssen, eine Zielvorgabe geringster oder maximaler Werte. Die Ausgangs- und Endzustände dieser Ereignisse mussten bekannt sein, um dieses Ziel zu erfüllen. Bevor die Ursachen in Kraft treten konnten, musste man die Wirkungen kennen.