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Auch das verstand ich allmählich.

Warum?«, wirst du fragen. Du wirst drei Jahre alt sein.

»Weil nun Zeit ist, ins Bett zu gehen«, werde ich noch einmal sagen. Wir haben es bereits geschafft, dich zu baden und dir deinen Schlafanzug anzuziehen, aber weiter sind wir noch nicht gekommen.

»Aber ich bin nicht müde«, wirst du jammern. Du wirst vor dem Bücherregal stehen und eine Videokassette, die du anschauen willst, herausziehen: dein neuestes Ablenkungsmanöver, um deinem Bett fernzubleiben.

»Das spielt keine Rolle: Du musst jetzt trotzdem ins Bett.«

»Aber warum?«

»Weil ich die Mama bin und es so will.«

Das werde ich tatsächlich sagen, nicht wahr? Allmächtiger, jemand möge mich bitte erschießen.

Ich werde dich hochheben, mir unter den Arm klemmen und dich, während du die ganze Zeit kläglich heulst, zu deinem Bett tragen. Meine Gedanken werden sich aber nur um meine eigene Hilflosigkeit drehen. All die Schwüre, die ich in meiner Kindheit abgelegt habe, dass ich als Mutter nur vernünftige Antworten geben werde, dass ich mein eigenes Kind wie eine intelligente, denkende Person behandeln werde, sind zum Teufeclass="underline" Ich werde mich in meine eigene Mutter verwandeln. Ich kann dagegen ankämpfen, so viel ich will, aber nichts wird meinen Abstieg auf diesem langen, furchtbaren Pfad aufhalten können.

War es möglich, die Zukunft nicht einfach nur zu erraten, sondern mit absoluter Gewissheit und bis ins kleinste Detail zu wissen, was sich tatsächlich ereignen würde? Gary hat mir einmal gesagt, dass die fundamentalen Gesetze der Physik zeitsymmetrisch sind und es aus ihrer Sicht keinen physikalischen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. So gesehen, könnte man die Frage mit »Ja, in der Theorie« beantworten. Aber pragmatischer gesehen, unter Berücksichtigung des freien Willens, müsste man »Nein« antworten.

Ich malte mir die Erwiderung gerne in Form einer Fabel aus, die von Borges stammen könnte: Man stelle sich eine Person vor, die das Buch der Zeit konsultiert, eine Chronik, in der jedes Ereignis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verzeichnet ist. Selbst wenn man die Originalausgabe stark verkleinern würde, wäre die Chronik unfassbar groß. Mit einem Vergrößerungsapparat würde die Person die hauchdünnen Seiten durchblättern, bis sie die Geschichte ihres Lebens findet. Sie gelangt zu der Stelle im Text, die beschreibt, wie sie das Buch der Zeit liest, und sie blättert weiter zu der Stelle, an der bis ins Kleinste ausgeführt wird, was diese Person später an diesem Tag macht: mit Hilfe der Informationen des Buches wird diese Person 100 Dollar auf das Rennpferd Devil May Care setzen und das Zwanzigfache gewinnen.

Der Person war zwar genau das durch den Kopf gegangen, aber weil sie gerne das Gegenteil von dem tut, was von ihr erwartet wird, beschließt sie nun, das Pferdewetten überhaupt sein zu lassen.

Das ist die Crux. Das Buch der Zeit kann keine falschen Informationen enthalten. Das Gedankenspiel geht davon aus, dass eine Person Wissen über die tatsächliche Zukunft erhält, nicht über eine mögliche Zukunft. Bei einem griechischen Mythos würden die Umstände dazu führen, dass die Person ihr Schicksal erfüllen muss, egal wie sehr sie dagegen ankämpft. Doch mythische Prophezeiungen sind berüchtigterweise ziemlich vage; das Buch der Zeit aber ist sehr konkret, und es gibt keine Möglichkeit, jemanden dazu zu zwingen, auf die beschriebene Weise auf ein Rennpferd zu wetten. Daraus ergibt sich ein Widerspruch: Laut Definition muss das Buch der Zeit recht haben, doch was auch immer das Buch darüber aussagt, was eine Person tun wird, sie kann sich anders entscheiden. Wie lassen sich diese beiden Aussagen miteinander in Einklang bringen?

Gar nicht, lautet die geläufige Antwort. Ein Werk wie das Buch der Zeit ist eine logische Unmöglichkeit, genau deshalb, weil seine Existenz zu den angeführten Widersprüchen führen würde. Man könnte auch etwas nachsichtiger argumentieren, dass das Buch der Zeit durchaus existieren könnte, aber nur, wenn es niemand lesen kann: Das Werk wird in einer besonderen Abteilung aufbewahrt, und niemand ist berechtigt, es einzusehen.

Das Vorhandensein des freien Willens bedeutet also, dass wir die Zukunft nicht kennen können. Und dass es einen freien Willen gibt, wissen wir, weil wir ihn unmittelbar erleben. Willensentscheidungen sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Bewusstseins.

Stimmt das wirklich? Was wäre, wenn das Wissen um die Zukunft eine Person von Grund auf verändern würde? Was wäre, wenn dieses Wissen ein dringliches Verlangen zur Folge hätte, ein Gefühl der Verpflichtung, genau so zu handeln, wie die Person wusste, dass sie handeln würde?

Am Ende des Arbeitstages schaute ich in Garys Büro vorbei. »Ich mache Schluss für heute. Hast du Lust, etwas essen zu gehen?«

»Klar, warte noch einen Augenblick«, sagte er. Er schaltete seinen Computer aus und sortierte seine Unterlagen. Dann sah er zu mir auf. »Willst du heute Abend mit zu mir kommen? Ich koche.«

Argwöhnisch sah ich ihn an. »Du kannst kochen?«

»Nur ein Gericht«, gab er zu. »Aber das kann ich gut.«

»Warum nicht?«, erwiderte ich. »Ich bin dabei.«

»Toll. Wir müssen nur noch kurz ein paar Zutaten einkaufen.«

»Mach dir keine Umstände ...«

»Auf dem Weg zu meiner Wohnung gibt es einen Laden. Es dauert nicht lange.«

Wir fuhren in zwei Autos; ich folgte ihm. Fast hätte ich ihn aus den Augen verloren, als er plötzlich auf einen Parkplatz einbog. Es war ein Feinkostladen, nicht groß, aber nobel; neben den Regalen mit dem besonderen Edelstahlgeschirr und den Küchenutensilien befanden sich große Glasgefäße voller importierter Lebensmittel.

Ich begleitete Gary, während er Basilikum, Tomaten, Knoblauch und Linguini kaufte. »Nebenan ist ein Fischmarkt, dort bekommen wir frische Muscheln«, sagte er.

»Hört sich gut an.« Wir gingen an den Regalen mit den Küchenutensilien vorbei. Mein Blick schweifte über die Regale – Pfeffermühlen, Knoblauchpressen, Salatzangen – und blieb an einer hölzernen Salatschüssel hängen.

Wenn du drei Jahre alt bist, wirst du ein Geschirrtuch vom Küchentisch ziehen, und ebendiese Salatschüssel wird auf dich hinabfallen. Ich werde nach der Schüssel greifen, sie aber nicht erwischen. Der Rand der Schüssel wird dir einen Schnitt auf der Stirn beibringen, der mit einem Stich genäht werden muss. Dein Vater und ich werden dich, bekleckert mit Caesar-Salatsoße und schluchzend, auf dem Arm halten, während wir stundenlang in der Notaufnahme warten.

Ich streckte den Arm aus und nahm die Schüssel aus dem Regal. Die Bewegung fühlte sich nicht wie etwas an, zu dem ich gezwungen wurde. Vielmehr scheint die Bewegung genau so dringlich zu sein wie mein Versuch, die Schüssel aufzufangen, als sie auf dich fällt: ein Instinkt, dem nachzugeben sich richtig anfühlt.

»So eine Salatschüssel könnte ich brauchen.«

Gary sah sich die Schüssel an und nickte zustimmend. »War doch gut, dass wir in diesem Laden vorbeigeschaut haben, oder?«

»Das war es.« Wir stellten uns an, um unsere Einkäufe zu bezahlen.