Kaum angekommen, tat Neil das, was auch alle anderen Lichtsucher machten: Er fuhr mit seinem Fahrzeug in der Gegend umher, um ein Gespür für die Beschaffenheit des Geländes zu bekommen. Bei einer seiner Rundfahrten traf er auf Ethan, der ihm signalisierte anzuhalten, weil sein eigener Wagen auf dem Rückweg vom achtzig Meilen entfernten nächsten Lebensmittelladen liegen geblieben war. Neil half ihm, seinen Wagen wieder zum Laufen zu bringen, und Ethan bestand darauf, dass Neil ihm anschließend zu seinem Lager folgte, und lud ihn zum Abendessen ein. Als sie eintrafen, war Janice gerade nicht da – sie besuchte andere Wallfahrer, die ein paar Zelte weiter weg wohnten. Während Ethan auf einem Propangaskocher Fertiggerichte aufwärmte, lauschte Neil höflich, wie Ethan erzählte, was ihn zu der heiligen Stätte geführt hatte.
Neil konnte seine Überraschung nicht verbergen, als Ethan Janice Reilly erwähnte. Neil war nicht danach, ihr noch einmal zu begegnen, und er wollte unverzüglich wieder aufbrechen. Gerade, als er dem verwunderten Ethan erklärte, dass er noch eine andere Verabredung hatte, kehrte Janice zurück.
Sie war überrascht, Neil hier anzutreffen, bat ihn jedoch zu bleiben. Ethan erzählte ihr, warum er Neil eingeladen hatte, und sie schilderte Neil, wie sie und Ethan einander begegnet waren. Dann fragte sie Neil, was ihn zur heiligen Stätte geführt hatte. Als er ihnen erklärte, dass er ein Lichtsucher war, versuchten sie sofort, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ethan hielt Neils Plan für Selbstmord und war der Meinung, dass es immer Besseres gab, als Selbstmord zu begehen. Und Janice meinte, dass die Lösung des Problems nicht darin lag, das himmlische Licht zu sehen, denn das konnte nicht Gottes Wille sein. Neil bedankte sich steif für ihre Anteilnahme und ging.
Während des wochenlangen Wartens fuhr Neil jeden Tag in der Gegend umher. Zwar gab es Karten, die nach jeder Erscheinung aktualisiert wurden, aber sie waren kein wirklicher Ersatz dafür, sich selbst ein Bild zu machen. Ab und zu begegnete er einem Lichtsucher – die meisten Lichtsucher waren Männer –, der offensichtlich mehr Erfahrung hatte, und er bat ihn um Rat, wie man in einem bestimmten Gelände am besten vorankam. Manche waren bereits seit mehreren Erscheinungen vor Ort, und ihre Versuche waren bisher weder von Erfolg gekrönt worden, noch waren sie gescheitert. Gerne teilten sie ihre Erfahrungen, wie man einem Engel am besten auf der Spur blieb; niemals aber erzählten sie etwas Persönliches. Neil fand die Art und Weise, wie sie sprachen, sonderbar, zugleich hoffnungsvoll und hoffnungslos, und fragte sich, ob er selbst auch so klang.
Ethan und Janice verbrachten die Zeit damit, andere Pilger kennenzulernen. Die Reaktionen auf das, was Janice vorhatte, waren geteilt: Einige hielten sie für undankbar, andere für selbstlos. Die meisten fanden Ethans Geschichte interessant, denn er gehörte zu den seltenen Wallfahrern, die nicht auf der Suche nach einer Wunderheilung hier waren. In erster Linie einte sie alle jedoch ein Gefühl der Kameradschaft, das ihnen während der langen Wartezeit Kraft verlieh.
Neil war gerade mit seinem Pickup unterwegs, als sich im Südosten Wolken zusammenzuziehen begannen, und über den CB-Funk verbreitete sich die Nachricht, dies sei der Beginn einer Erscheinung. Er hielt an, um Ohrstöpsel ein- und einen Helm aufzusetzen. Als er damit fertig war, waren bereits Blitze zu sehen, und ein Lichtsucher, der sich in der Nähe des Engels aufhielt, meldete, dass es sich um Barakiel handelte, der sich offenbar in Richtung Norden bewegte. Neil lenkte seinen Wagen in Richtung Osten, um den Engel einzuholen, und gab Vollgas.
Es war windstill und regnete auch nicht, nur dunkle Wolken, aus denen Blitze hervorzuckten, hingen am Himmel. Andere Lichtsucher tauschten via Funk ihre Vermutungen über Richtung und Geschwindigkeit des Engels aus, und Neil fuhr nach Nordosten, um ihn abzufangen. Anfangs konnte er seine Entfernung zu dem Gewitter noch abschätzen, indem er den Zeitraum zwischen Blitz und Donner abzählte, aber schon bald blitzte es zu oft und zu regelmäßig, um den Donner noch irgendeinem Blitz zuzuordnen.
Er sah, wie sich die Fahrzeuge zweier weiterer Lichtsucher näherten. Sie schwenkten auf einen gemeinsamen Kurs nach Norden ein, der über eine kraterzerfurchte Strecke führte. Die Fahrzeuge wurden von den kleineren Kratern heftig durchgeschüttelt, und den größeren wichen sie in Schlangenlinien aus. Blitze gingen jetzt überall nieder, aber ihr Ursprung schien sich südlich von Neils Standort zu befinden. Der Engel war unmittelbar hinter ihm und kam immer näher.
Obwohl er Ohrstöpsel trug, war das Getöse ohrenbetäubend. Neil spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten, je stärker die elektrische Spannung in seiner Umgebung wurde. Er behielt den Rückspiegel im Blick, um zu sehen, wo genau der Engel war, und versuchte abzuschätzen, wie nahe er ihm kommen musste.
Vor seinen Augen flimmerten inzwischen so viele Nachbilder von Blitzen, dass er kaum noch die eigentlichen Blitze erkennen konnte. Als er mit zusammengekniffenen Augen in das blendende Geflacker seines Spiegels blickte, erkannte er, dass sich hinter ihm ein Blitzstrahl befand, der Himmel und Erde ohne Unterbrechung miteinander verband. Er kippte den Rückspiegel nach oben, um einen besseren Blick auf ihn erhaschen zu können, und sah den Ursprung dieses Blitzes, einen brodelnden, sich windenden Flammenkörper, der sich silbern vor den dunklen Wolken abzeichnete: der Engel Barakiel.
Neil war von diesem Anblick so gelähmt, dass sein Pickup einen steilen Felsvorsprung hinaufraste und in die Luft geschleudert wurde. Der Wagen krachte gegen einen Felsen, wobei sich die Wucht des Aufpralls auf die vordere linke Seite des Fahrzeugs konzentrierte und diese wie Aluminiumfolie zusammenknüllte. Die Deformation der Fahrgastzelle brach ihm beide Beine und ritzte seine linke Oberschenkelschlagader. Langsam, aber unausweichlich verblutete er.
Er versuchte nicht, sich zu bewegen. Noch hatte er keine körperlichen Schmerzen, ahnte jedoch, dass die geringste Bewegung schreckliche Folgen haben würde. Er war in dem Pickup eingeklemmt, so viel stand fest, und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte Neil Barakiel unmöglich folgen können. Hilflos sah er zu, wie sich das Blitzgetöse immer weiter von ihm entfernte.
Neil begann zu weinen. Reue und Selbstverachtung drohten ihn zu überwältigen, und er verfluchte sich dafür, geglaubt zu haben, dass so ein Plan jemals Erfolg haben könnte. Wenn ihm nicht klar gewesen wäre, dass es zu spät war, Gott anzuflehen, und er sich nur selbst die Schuld geben konnte, hätte er alles dafür getan, sich anders entschieden zu haben, und sein restliches Leben dem Versuch gewidmet, seine Liebe zu Gott zu finden. Er bat Sarah um Verzeihung, dass er sein Leben vertan hatte, dass er alles auf eine Karte gesetzt hatte, anstatt einem sichereren Pfad zu folgen, und jetzt keine Möglichkeit mehr hatte, je wieder mit ihr zusammenzukommen. Er betete, sie möge ihm vergeben und verstehen, dass es seine Liebe zu ihr war, die ihn geleitet hatte.
Durch seine Tränen sah er, dass eine Frau auf ihn zulief, und er erkannte, dass es Janice Reilly war. Ihm wurde klar, dass sein Wagen keine hundert Meter von Janices und Ethans Lager entfernt verunglückt war. Trotzdem gab es nichts, was Janice unternehmen konnte. Neil spürte, wie das Blut aus ihm herausrann – er würde nicht mehr lange genug am Leben bleiben, bis ein Rettungsfahrzeug bei ihm eintraf. Er meinte zu hören, wie Janice nach ihm rief, aber in seinen Ohren rauschte und pfiff es zu heftig, als dass er irgendetwas verstanden hätte. Hinter Janice bemerkte er Ethan, der ebenfalls in seine Richtung rannte.