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Ein anderer Wächter sagte mir dann, dass tatsächlich erst gestern im Karkh-Viertel eine Moschee eingestürzt sei. Seine Worte trafen mich mit der Wucht eines Henkersbeils. So weit war ich gereist, nur um die schlimmste Nachricht meines Lebens ein zweites Mal zu hören!

Ich ging zu der Moschee und sah den Steinhaufen, wo einst eine Mauer gestanden hatte. Es war ein Anblick, der meine Träume seit zwanzig Jahren heimsuchte, doch dieses Mal verging das Bild auch dann nicht, als ich meine Augen aufschlug, sondern bot sich mir deutlicher dar, als ich zu ertragen vermochte. Ich wandte mich ab und irrte ziellos umher, bis ich mich vor meinem alten Haus wiederfand, dem Haus, in dem Najya und ich einst gelebt hatten. Verzweifelt und von Erinnerungen erfüllt stand ich auf der Straße.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als eine junge Frau zu mir trat und mich ansprach. »Mein Herr«, sagte sie, »ich suche nach dem Haus von Fuwaad ibn Abbas.«

»Ihr habt es gefunden«, sagte ich.

»Seid Ihr Fuwaad ibn Abbas, mein Herr?«

»Der bin ich, und ich bitte Euch, lasst mich allein.«

»Verzeiht mir, mein Herr. Mein Name ist Maimuna, und ich bin die Gehilfin eines Arztes im Bimaristan. Ich habe mich um Eure Frau gekümmert, bevor sie starb.«

Ich wandte mich ihr zu und sah sie an. »Ich habt Najya behandelt?«

»Das tat ich, mein Herr. Ich habe geschworen, Euch eine Mitteilung von ihr zu überbringen.«

»Was für eine Mitteilung?«

»Sie sagte, ich solle Euch wissen lassen, dass ihre letzten Gedanken bei Euch waren. Sie wollte, dass ich Euch ausrichte, dass ihr Leben zwar nur kurz gewesen sei, sie in der Zeit mit Euch jedoch glücklich war.«

Sie sah, wie mir Tränen über die Wangen rannen, und sagte: »Vergebt mir bitte, wenn meine Worte Euch Kummer bereiten, mein Herr.«

»Da gibt es nichts zu vergeben, mein Kind. Hätte ich nur die Mittel, Euch für diese Nachricht das zu geben, was sie mir wert ist. Ich könnte Euch ein ganzes Leben lang danken und stünde immer noch in Eurer Schuld.«

»Für Trauer schuldet man niemandem etwas«, sagte sie. »Friede sei mit Euch, mein Herr.«

»Friede sei mit Euch.«

Sie verließ mich, und ich irrte stundenlang durch die Straßen und weinte Tränen der Erlösung. Dabei dachte ich die ganze Zeit daran, wie wahr Bashaarats Worte doch gewesen waren: Die Vergangenheit und die Zukunft gleichen einander, und beides können wir nicht ändern, nur besser verstehen. Meine Reise in die Vergangenheit hatte nichts verändert, doch was ich erfahren hatte, veränderte alles, und nun begriff ich, dass es nicht anders hatte sein können. Wenn unsere Leben Geschichten sind, die Allah erzählt, dann sind wir gleichzeitig Zuhörer und Figuren, und indem wir diese Geschichten leben, werden wir belehrt.

Die Nacht brach herein, und die Stadtwache fand mich, wie ich in staubiger Kleidung nach der Sperrstunde durch die Straßen irrte, und sie fragte mich, wer ich sei. Ich sagte ihnen meinen Namen und wo ich wohnte, und die Wachleute brachten mich zu meinen Nachbarn, um zu prüfen, ob diese meinen Namen kannten, doch sie erkannten mich nicht, und so wurde ich ins Gefängnis gebracht.

Ich erzählte dem Hauptmann der Wache meine Geschichte, und er fand sie kurzweilig, auch wenn er mir keinen Glauben schenkte. Wer würde das schon? Dann erinnerte ich mich an etwas aus der Zeit meiner Trauer vor zwanzig Jahren und erzählte dem Hauptmann, dass der Sohn Eurer Majestät als Albino auf die Welt kommen würde. Als den Hauptmann einige Tage später die Kunde vom Zustand des Kindes erreichte, brachte er mich zum Statthalter des Viertels. Als der Statthalter wiederum meine Geschichte hörte, brachte er mich hierher in den Palast, und als der Colonele Kammerherr meine Geschichte vernahm, brachte er mich wiederum hier in den Thronsaal, damit mir die unermessliche Ehre zuteil werde, sie Eurer Majestät zu erzählen.

Meine Geschichte und mein Leben sind nun, ineinander verschlungen, am selben Punkt angelangt, und wie sie beide weitergehen, hängt von der Entscheidung Eurer Majestät ab. Ich weiß von vielen Dingen, die in den nächsten zwanzig Jahren hier in Bagdad geschehen werden, aber nichts über das, was vor mir liegt. Ich habe kein Geld mehr, um zurück nach Kairo und dem ›Tor der Jahre‹ dort zu reisen, und doch schätze ich mich grenzenlos glücklich, denn mir wurde die Gnade zuteil, mich den Fehlern meiner Vergangenheit zu stellen, und ich habe erfahren, welchen Trost Allah gewährt. Es wäre mir eine Ehre, alles mitzuteilen, was ich von der Zukunft weiß, falls Eure Majestät geneigt ist, danach zu fragen, doch für mich ist das kostbarste Wissen dieses:

Nichts kann die Vergangenheit auslöschen. Wir kennen Reue, wir kennen Sühne, und wir kennen Vergebung. Das ist alles. Aber es ist genug.

Ausatmung

Seit Langem herrscht die Meinung vor, dass die Luft (von manchen auch Argon genannt) der Quell des Lebens sei. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, und so graviere ich diese Worte, um zu berichten, wie ich herausfand, was der wahre Quell des Lebens ist und – was damit zusammenhängt – auf welche Weise das Leben eines Tages enden wird.

Die Ansicht, dass die Luft unser Leben ermöglicht, galt im Laufe der Geschichte als so selbstverständlich, dass es nicht einmal nötig war, sie zu erklären. Jeden Tag verbrauchen wir zwei mit Luft gefüllte Lungen; jeden Tag entfernen wir die leeren Lungen aus unserer Brust und ersetzen sie durch volle. Jemand, der so unbedacht ist, seinen Luftpegel zu weit absinken zu lassen, spürt, wie seine Glieder allmählich schwer werden und sich der Drang verstärkt, die Lungen wieder aufzufüllen. Äußerst selten kommt es vor, dass jemand nicht wenigstens eine Lunge rechtzeitig auswechseln kann, bevor das ihm eingesetzte Paar völlig leer ist. Geschieht so ein Unglück einmal – wenn jemand irgendwo feststeckt, sich nicht bewegen kann und niemand in der Nähe ist, der ihm hilft –, stirbt er, sobald sein Luftvorrat zur Neige gegangen ist.

Im normalen Verlauf des Lebens verschwenden wir kaum einen Gedanken darauf, dass wir Luft benötigen, und viele würden sogar sagen, dass dieses Bedürfnis der unerheblichste Grund dafür ist, warum wir die Füllstationen aufsuchen. Diese Füllstationen sind der wichtigste Treffpunkt für den tagtäglichen gesellschaftlichen Austausch – hier stillen wir sowohl unsere emotionalen, als auch unsere körperlichen Bedürfnisse. Jeder hat Ersatzlungen zu Hause, doch alleine die eigene Brust zu öffnen und seine Lungen auszuwechseln, wird schnell zur lästigen Pflicht. Im Beisein anderer wird aus dieser Notwendigkeit allerdings eine gemeinschaftsstiftende Aktivität, eine geteilte Freude.

Ist man gerade sehr beschäftigt oder ungesellig, kann man einfach ein volles Paar Lungen mitnehmen, sie einsetzen und die leeren Lungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes abstellen. Hat man jedoch ein wenig Zeit übrig, gebietet es die Höflichkeit, die leeren Lungen an den Luftspender anzuschließen, um sie für den nächsten aufzufüllen. Für gewöhnlich bleibt man aber eine Weile, erfreut sich der Gesellschaft anderer, tauscht Neuigkeiten mit Freunden und Bekannten aus und reicht seinen Gesprächspartnern beiläufig frisch gefüllte Lungen. Auch wenn diese Praxis keine Luftgemeinschaft im strengen Sinn des Wortes darstellt, stiftet sie eine gewisse Kameradschaft, die auf dem Wissen aller beruht, dass die Luft aus derselben Quelle stammt, denn die Luftspender sind nur die sichtbaren Endpunkte der Leitungen, die zum Vorratsspeicher tief unter der Erde führen, der großen Lunge der Welt, dem Quell all unserer Nahrung.