In den schlechten Zeiten blieben ihre Eltern den ganzen Tag zu Hause. Ihre Mutter zog die Plastikhülle von der Nähmaschine, die im Kinderzimmer stand, und schickte Sara aus dem Zimmer. Sie schloß die Tür hinter sich ab, und Dad rief sie und trat dagegen, bis er es leid war und auf dem Sofa einschlief. Dave behauptete, daß er in die Schule ginge, er zog die Schuluniform an, die ihm zu kurz war, und grinste. — Little cat, paß auf dich auf, sagte er morgens, wenn er sich über Saras Bett beugte.
9
— Aber warum wollt ihr heiraten? fragte Alexa. Ein Buchhändler packte eilig seine Kisten zusammen und trug sie in den Laden. Eine Uhr schlug sieben.
— Es ist so passend, antwortete Isabelle zögernd. Rechts war das Milagro, aber sie wußte, daß sich Alexa nicht daran erinnern würde, an ihre erste Begegnung dort, nachdem Isabelle die Telefonnummer aus der Rubrik Mitwohngelegenheiten herausgesucht und angerufen hatte; Alexa war nicht sentimental, nichts weniger als das. — Hier, sagte sie ohne erkennbaren Zusammenhang. — Du schleppst jemanden den ganzen Tag durch die Stadt, und erst wenn es schon dunkel wird, weißt du, wo du ihn fotografieren solltest.
— Wer war es?
— Ein Saxophonist. Ich habe mir seine Musik angehört und mochte sie nicht. So ähnlich wie Garbarek, schrecklich. Morgen fahre ich mit ihm nach Brandenburg, an die Elbe. Wahrscheinlich Quatsch, ihn in der Stadt zu fotografieren.
Sie wandte sich Isabelle zu, die lächelnd neben ihr herging. — Ich finde Jakob aber sehr nett, sagte sie. Es klang wie ein Versprechen, dahingesagt, aber ein Versprechen, ein Stückchen des allgemeinen Wohlwollens, das gerade spürbar war, im lauwarmen Nieselregen, in der Bergmannstraße, mit ihren erleuchteten Läden, Cafe´s, so vertraut, und neben ihr Alexa. Seit sie mit Clara zusammengezogen war, hielt sie sich gerade, weil sie Yoga machte, täglich Kopfstand, täglich Dehn- und Streckübungen, langsam, tief ein- und ausatmend. Isabelle atmete langsam ein, hielt die Luft an. — Ich kann nicht so gerade gehen wie du, sagte sie.
Alexa antwortete nicht, zupfte nervös an ihrer Fototasche. — Sollen wir wirklich essen gehen? fragte sie. — Nein, stimmte Isabelle zu, wenn du willst, begleite ich dich wieder zurück.
— Gehen wir noch ein bißchen, sagte Alexa, ich habe bloß keinen Hunger, an solchen Tagen nie. Der Typ von Universal hat mich wahnsinnig gemacht. Ich dachte, ich kann das Foto im Monbijoupark machen oder auf dem Kreuzberg irgendwo. Wir sind mit dem Taxi herumgefahren, irgendwann kam Clara dazu, und der Saxophonist wollte für sie spielen, kannst du dir das vorstellen? Sie haßt Jazz. Sie hat mich hinter einen Baum gezogen und geküßt, der Typ wäre fast ausgetickt.
Clara, dachte Isabelle, und es war wie ein kleines Klopfen in der Schläfe, im Augenlid, eine Erinnerung an den Kummer, als Alexa auszog und Isabelle sagte, sie könne in der Wohnung bleiben, den Mietvertrag übernehmen, wenn sie wolle. Keine Fotos mehr, und in der Schublade ordentlich zusammengelegt die Frotteewäsche, die Alexa ihr gekauft hatte. — Komm schon, nur ein paar schnelle Fotos, glaub mir, es wird grandios aussehen. Isabelles Kinderkörper, abgeschnitten oberhalb des Mundes, die kleinen Brüste, der leicht hervorstehende Bauch und die kräftigen Mädchenbeine. Alexa hatte sie so oft fotografiert, daß sie, obwohl sie es obszön fand, die rote Frottee-Unterhose schließlich herunterzog, bis unter ihre Scham, die nur von einem weichen, unsichtbaren Flaum bedeckt war.
Zwei Jungs, etwa zehn Jahre alt, kamen auf sie zu. — Habt ihr Zigaretten? Der kleinere spielte mit einem Golfball, Alexa ging weiter, zog Isabelle mit sich. — Nein, rief Isabelle über die Schulter, keine Zigaretten. Im letzten Moment konnte sie dem Ball ausweichen. — He, ihr Arschlöcher! Wie eine Furie stürzte Alexa los, aber die Fototasche behinderte sie, die beiden rannten davon. — Was ist denn mit dir los, willst du ihnen noch Feuer anbieten? schnauzte sie Isabelle an, die verlegen lächelte. — Nichts, sagte Isabelle. Ich glaube, es geht mir gut. Sie suchte den Golfball, hob ihn auf. Schau doch, da ist ein Herz draufgemalt.
Sie hätte Jakob die Fotos gerne gezeigt und traute sich nicht. Mit Alexa konnte sie darüber nicht sprechen, für Alexa waren es Fotos, wie sie viele geschossen hatte. Alles war klar und unkompliziert und doch so, als wären Drähte gespannt, über die man stolpern könnte, in ein anderes Leben hinein, ein Leben, in dem Isabelle mit Alexa, nicht mit Jakob schlief. Sie war nicht verliebt in Alexa, nicht mehr. Die Fotos aber bewahrte Isabelle in einem Karton unter ihrem Bett auf wie einen Talisman.
— Und Andras? Alexa nestelte an dem Verschluß der Fototasche.
— Plakate für eine russische Tanztruppe, ein neues Literaturcafe´, ein Kaffeeladen irgendwo in Zehlendorf. Peter hat einen Auftrag von StattAuto, und eine Kanzlei hat Visitenkarten und Briefpapier bestellt.
— Du hörst aber nicht etwa auf zu arbeiten, wenn du verheiratet bist?
Sie hatte es Alexa beim Essen sagen wollen, wenn sie beim Essen säßen im Zagato und zum hundertsten Mal den Zettel lasen Füße runter von der Heizung, zaki-zaki!, an einem Ort, der zu ihrer Geschichte gehörte wie die Bergmannstraße, Penne all’Arabiata, Penne Paradiso, sie mußten nicht eigens bestellen, Vater und Sohn hinter der Theke, Fotos von Fahrradrennen und Autorennen an der Wand. Isabelle hatte es sagen wollen, wie man eine Neuigkeit verkündet, auch wenn es ihr selbst nicht wie eine Neuigkeit vorkam, sondern wie eine dieser Tatsachen, die Jahre darauf warten, zum Vorschein zu kommen, und dann selbstverständlich sind wie die Luft. So, wie sie eines Tages gewußt hatte, daß ihr Studium eine Farce war und daß sie ihre Eltern nur noch an Weihnachten besuchen würde. So wie sie eines Tages gesehen hatte, daß ihr Elternhaus eine Schuhschachtel war, eine graue und längst unmoderne Schuhschachtel, als Bühne für Dramen und Unglück lächerlich ungeeignet, und wenn sie sich ausmalte, wie ihre Mutter täglich am Klavier gesessen, stundenlang geübt hatte, dann schien es von vornherein zum Scheitern verurteilt, der Traum, Pianistin zu werden, ebenso wie ihre Krankheit, dieser angebliche Tumor, der nichts als ein kleiner, trauriger Klecks in einem tristen Kasten war, der ihre Eltern mit Stolz erfüllte. Ich mag Jakobs Gesicht, daß sie ihn mochte, hatte Isabell sagen wollen, aber Alexa war offensichtlich so beschäftigt gewesen mit dem Saxophonisten und mit Clara, daß Isabelle als erstes mit der Nachricht ihrer Hochzeit herausplatzte, die Alexa nicht allzusehr interessierte.
— Worüber brütest du? fragte Alexa und stieß Isabelle sachte in die Seite. Laß uns ins Zagato gehen. Sie blieb stehen, hielt Isabelle fest und küßte sie leicht auf den Mund, und Isabelle lächelte. Sie mochte Jakob, sie würde mit ihm glücklich sein, und Alexa fand ihn nett. — Wo sind deine neuen Schuhe? fragte Alexa grinsend und zeigte auf Isabelles alte Turnschuhe.