Erst im letzten Augenblick, bevor sie mit ihm zusammenstieß, bemerkte sie den Mann, der sich von der Brüstung löste und ebenso wie sie über die Gleise, den Sand geschaut hatte, den grauen, der aus dem Boden kam, und den hellgelben, der eigens antransportiert wurde, auf die riesige, zerfledderte Wolke, die sich vor den Abendhimmel schob, und es begann zu nieseln, aus beinahe klarem Himmel. Der Mann heftete seinen Blick auf sie, unerschrocken, während sie etwas stammelte, eine Entschuldigung, eine Begrüßung, ihr war, als wäre sie ihm schon einmal begegnet, sein Gesicht war blaß, und trotz der Kälte trug er unter dem dunkelblauen, nicht sehr sauberen Anorak nur ein T-Shirt, abgetragen, verwaschen, er sah verwahrlost aus, doch sein Blick traf sie mit solcher Schärfe, daß sie stehenblieb. Sie streckte die Hand aus, wollte ihn abwehren, aber er lachte nur, fing diese Hand, die zu leicht, zu kindlich war, im Flug und schob sie beiseite, Isabelle fürchtete, daß er sie schlagen würde, seine blauen, hellen Augen blickten sie unbeirrt an, er schien sich an ihrem Schrecken zu weiden, doch dann duckte er sich plötzlich, bewegte sich geschmeidig rückwärts und tauchte aus ihrem Sichtfeld, sie hörte ihn noch, wartete auf einen Stoß, einen Angriff von hinten, doch nichts geschah, nichts außer Stille, Lautlosigkeit, die anhielt, bis ein Auto sich näherte. Als sie sich umdrehte, war der Mann nicht mehr zu sehen, und während die Anspannung langsam nachließ, fühlte sich Isabelle wie von einem Wachtraum geängstigt, der sich vor vertraute Gegenstände schob, vor ihr Leben, das nicht richtig und fest zusammenhängen wollte, sondern sich hartnäckig in einzelnes auflöste. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt, sie spähte sogar die Brücke hinunter, als könnte er an der Unterseite der Monumentenbrücke hängen. Keine Spur, natürlich nicht, längst war das Auto verschwunden, und die Zeit wurde knapp, hastig lief sie weiter, zur Langenscheidtbrücke, die wie eine Eisenbahnbrücke aus Kinderbüchern die S-Bahn überquerte, passierte schließlich außer Atem die Apostel-Paulus-Kirche und hatte endlich die Wartburgstraße erreicht. Gründerzeithäuser reihten sich so unbeschadet aneinander, als hätte ein Krieg niemals stattgefunden, die Fassaden wirkten ein wenig lächerlich. Das Licht der Straßenlampen mischte sich mit dem weichenden Tageslicht, laut zwitscherte eine Amsel, Isabelle entdeckte den schwarzen, rundlichen Körper in einem dürren Bäumchen, und da war eine zweite, auf einem der Simse hockte sie trillernd, aufgeplustert, als gälte es einen Wettkampf zu gewinnen. Von hier würde sie den Möbelwagen sehen. Plötzlich scheute sich Isabelle, alleine in die Wohnung hinaufzusteigen, sie tastete in ihrer Jakkentasche nach dem Schlüssel, tastete ein kleines Loch im Futter. Leer lag die Straße, nur ein Fenster klapperte, ein Auto glitt aus einer Parklücke, verschwand, und ganz am anderen Ende, vor der nächsten Straßenecke, stand im Nieselregen ein Mann und hob den Kopf. Andras, dachte sie, wie er sich von ihr verabschiedet hatte im Büro, — so, du gehst schon, und er hatte ihr zugelächelt, ein galantes, trauriges Lächeln. Doch es war Jakob, sein rotblondes Haar glänzte, als er sie ansah und erkannte.
Später lagen sie auf den Matratzen, bedeckten sich mit den Kleidern, die sie hastig ausgezogen hatten, fröstelten, bis Jakob aufsprang und auf die Uhr sah und sie küßte, sich hastig anzog, davonlief, an der Tür noch einmal umkehrte, einen letzten Blick auf sie warf, glatt und sehr jung und klein schien sie ihm.
Er fand gleich ein Taxi, feuerte den Fahrer an, zu der Verabredung würde er zu spät kommen, das Taxi überfuhr gelbe Ampeln, und der Regen war stärker geworden.
12
Er sah Ben den Hügel herunterlaufen, in einem grünblau karierten Hemd, wie ein dickes Kind, dachte Jim, das mit den Armen schlägt und rudert, rufend, eine kleine Szene, die perfekt ausstaffiert war, Sommertag, warm, ein leichter Wind in den Baumkronen, und auf dem Rasen Picknickkörbe, wie früher. Aber es war Ben, nicht irgendein Kind, er war wirklich dick geworden und rannte, rannte plötzlich, als wären sie hinter ihm her. Jetzt war er unter einem Drachen, der trudelte und zum Absturz ansetzte wie zu einem Sprung, der Junge mit der Schnur rannte hügelaufwärts, wo drei mächtige Eichen einen Halbkreis bildeten, mit weitgestreckten, stämmigen Ästen. — Worüber regst du dich auf? hatte Albert gesagt, bloß weil er ihr nachgelaufen ist, weil er ihr Tabletten gebracht hat. Bloß nachgelaufen, nichts weiter, nur Tabletten gebracht, seiner Freundin Mae, die blutend auf dem Boden gelegen hatte, und — stänkere hier nicht rum, hatte Albert gesagt, Ben hat den Krankenwagen gerufen, was hätte er sonst tun sollen? Und wer hat sie verprügelt, du oder Ben? Worauf Jim nichts sagen konnte, denn sie hatte blutend auf dem Boden gelegen, vor dem Sofa, das Telefon noch in der Hand, und Jim erinnerte sich genau, daß er in der Küche gewesen war, ein Bier getrunken hatte. Das war alles.
Jetzt erreichte Ben den Weg, schaute sich nervös um, der Drachen hatte sich in den Zweigen der mittleren Eiche verfangen. Als lauerte ihm jemand auf, dachte Jim und grinste, — Fettsack, murmelte er vor sich hin, wirst schon sehen. Ein leichter Wind ging, die Wege waren von dicken Wurzeln durchzogen, und Hecken voller Rosen, dachte Jim, voller Gesumm und Gezwitscher, wie der Garten, weit weg von London, mit einer Mauer, mit Heckenrosen und Amseln darin, und staubigen Sommerwegen dahinter. Er mochte Amseln, und Mae hatte sie gemocht, sie hatten darüber gesprochen, von einem Haus und einem Garten, weil es solche Gedanken gab, und Hügel und Heckenrosen auch. Wenn er die Augen schloß, konnte er den Garten vor sich sehen. Aber dann rief Ben den Krankenwagen, und Mae war verschwunden. — Untergetaucht, ausgestiegen, höhnte Albert, siehst ja, wie sie an dich denkt, kein Anruf, keinerlei Nachricht, und Ben wußte nicht, in welches Krankenhaus sie gebracht worden war, behauptete er. Bald fünf Monate her, daß sie verschwunden war, und Jim wartete, drehte den Kopf da- und dorthin, suchte noch immer, wartete jeden Augenblick auf ihr Kommen, auf ihre Stimme.
Hier war Ben, schwitzend, sah Jim mißmutig an, und Jim fühlte die Müdigkeit, die ihn immer noch überfiel, nach fünf Monaten, als wäre all das Warten der letzte Fetzen ihres Lebens, Mae war so müde, dachte er, vielleicht ist sie jetzt glücklich. Er verzog das Gesicht, als Ben etwas stammelte, noch immer schwitzend, hörte ihm nicht zu, streckte bloß die Hand aus, rücksichtslos, mitten auf dem Weg, fordernd. Dann liefen sie doch Richtung Lady’s Pond, bis zu dem Schild, das ihnen weiterzugehen verbot, standen im tiefen Schatten und sahen die hellen Körper durch das dichte Laub aufblitzen und verschwinden, und Ben händigte Jim aus, was Albert ihm aufgetragen hatte, in einer Plastiktüte, ein kleines Päckchen, darüber Zeitschriften und Süßigkeiten, — mach’s simpel, je simpler, desto besser, und eine Nachricht an Jim, die Adresse seines neuen Büros, wie Albert schrieb, in Brixton, und daß er ihn dort erwarte. Das Geld war in Jims Tasche, in einem Umschlag, ein lächerlich kleiner Betrag, zwanzig Pfund in Pfundnoten, Ben bewegte sich unruhig hin und her, und Jim grinste. Es war kindisch, Albert zu hintergehen, er würde Ben anschreien, und wenn Jim sich nicht meldete, würde es Ärger geben. Jim nahm die Tüte, streckte Ben den Umschlag entgegen und rannte los. Kindisch, lohnte die Anstrengung nicht, auch wenn es lustig war, Ben hinter sich keuchen zu hören, beleidigt, überrascht, und jetzt mußte der Dicke rennen, hinter Jim her, mit rotem Gesicht, Jim drehte sich noch einmal um, winkte und rannte dann weiter, leichtfüßig, voller Haß. Große Scherereien würde Albert nicht machen, denn Jim war trotzdem ein zuverlässiger Partner, einer der wenigen, seit alle auseinandergelaufen waren, seit sie aus King’s Cross von den Baggern und Lastwagen und Ingenieuren vertrieben worden waren, worüber Albert jammerte, als wäre King’s Cross das Wohnzimmer seiner Großmutter gewesen, als hätte er sich nicht längst in Clapham und Holloway und Brixton, in Camden eingerichtet. Jetzt konnte er Bens Schnaufen nicht mehr hören, er drehte sich um, der Mann suchte Deckung, obwohl sein rotes Gesicht ihn von weitem verriet, während Jim als Jogger durchgehen konnte, der den Park jetzt verließ, leichtfüßig über die Straße, an den weißen, halbhohen Wohnblocks vorbeilief, die angeblich besser gebaut waren als die Kästen der sechziger, siebziger Jahre. Ein Taxi versperrte die Straße, Autos hupten, ein Mann stieß den Kopf aus dem Fenster, brüllte unflätig, und Jim lachte. Die Wohnung war perfekt, Ben durfte keinesfalls davon wissen. In den Höfen würde er ihn abhängen, dort, wo sie jetzt Sportstudios und ein Restaurant bauten, Jim kannte die Schuppen und Ateliers, irgend jemand hatte dort eine Druckerwerkstatt eingerichtet, vor ein paar Wochen hatte Jim dort drei Briefchen verkauft, die er einem überraschten Typen in Camden Lock aus der Hand gepflückt hatte. Es gab eine kleine Straße, die einen Bogen machte und fast gegenüber der Kentish Town Station mündete, dort, wo die Straße anstieg, sich zu einem kleinen Platz erweiterte, der ohne erkennbaren Grund von einem Glasdach überwölbt war, von grünen Metallsäulen getragen, als hätte man den winzigen Abkömmling einer Markthalle bauen wollen. Auf den Bänken saßen aber nur Penner, hielten Bier- oder Ciderdosen in den Händen, prosteten den Passanten jovial zu, den Schulkindern in grünen oder schwarzen Jacken, karierten Faltenröcken, hievten sich mühsam bis zum Eingang der U-Bahn, wo sie Issue verkauften, um Fahrkarten bettelten, eine ekelhafte Bande, zu der auch die Frau gehörte, die einen langen, leichten Sommermantel trug und ihn anlächelte, er grinste zurück, trabte die Leighton Road hinauf, tauchte links in die Seitenstraße und schaute sich noch einmal um. Ben war abgehängt. Das fette Schwein. Es war nicht nur wegen Mae. Er hatte Ben und Albert und die anderen satt. Er hatte die Polizisten satt, die herumscharwenzelten, als verhinderten sie, daß alles in die Luft ginge, Häuser, die Menschen, Menschenteile, abgerissene Beine, er hatte es satt, daß nichts geschah. Er hatte die Teenager satt, die von weiß Gott woher mit dem Zug ankamen, auf der Suche, gierig und verdorben, die Mädchen, die um einen Drink bettelten, einen Schuß, und dann verschwanden oder in Hauseingängen hockten, zusammengekauert, verdreckt. Er hatte Angst, Mae dort zu finden, dort, wo sie gewesen war, bevor Albert sie aufgesammelt hatte. Ohne Mae würde er aus London nicht weggehen. Aber er wollte seine Ruhe haben. In seinem Hirn blitzte etwas auf, immer wieder, und dann fehlten ganze Stunden oder Tage, aber trotzdem war da ein weißes, gleißendes Licht, er mußte es nur finden, mußte Mae finden.