Weihnachten feierte Andras mit Magda; Jakob und Isabelle waren Hans’ Einladung gefolgt und in den Schwarzwald gefahren.
An Silvester trafen sie sich in der Wartburgstraße. Magda war in Rom. Andras kochte mit Ginka ein fünfgängiges Menü, Isabelle deckte den Tisch. Hans brachte eine Petition zugunsten von Häftlingen in Guantanamo Bay mit. Der nächste Krieg zeichnete sich ab. Jakob erzählte von einem Kollegen, der verbreitete, am Anschlag auf die Twin Towers sei tatsächlich der Mossad beteiligt, und daß sie sich in der Kanzlei dafür einsetzten, daß er bei Golbert & Schreiber jedenfalls nicht Partner würde. Um Mitternacht stießen sie auf ein friedliches Jahr an und wußten, daß sie nicht daran glaubten. Aber sie stießen auf den Frieden an und, ohne es auszusprechen, darauf, daß sie weiterhin verschont bleiben würden. Andras sehnte sich nach Magda, aber als er Isabelle in seinen Armen hielt, sie zu Neujahr küßte, wußte er, daß er alles aufgeben würde, wenn sie nur wollte. Er küßte sie, da Jakob auf dem Balkon ein Feuerwerk vorbereitete, auf den Mund, und sie, in seine Arme geschmiegt, das junge, hübsche Gesicht zu ihm emporgehoben, erwiderte seinen Kuß.
16
Am Flughafen noch wählte Jakob die Nummer seines künftigen Kollegen Alistair, die Sekretärin, Maude, antwortete ihm, — o dear, hörte er ihre Stimme, you arrived already, how wonderful! und daß ihn Alistair um zwei Uhr am Eingang des British Museum erwarte. — He certainly will recognise you, don’t you worry, Alistair is a man of extraordinary capacities.
Kleine Flugzeuge landeten und starteten, er war in London City Airport noch nie gewesen, wenige Reisende nur bewegten sich dem Ausgang zu, und da die Uhr erst ein Uhr mittags zeigte, beschloß Jakob, mit dem Zug zu fahren. Tatsächlich erkannte Alistair ihn sofort, eilte die Treppen des Museums hinunter, faßte ihn, ohne sich nach der Anreise zu erkundigen, am Arm und zog ihn, fröhlich und viel zu schnell redend, als daß Jakob hätte folgen können, die Straßen entlang zu einem kleinen Deli. Die Besitzerinnen, zwei Frauen um die vierzig, begrüßte er herzlich, schob Jakob auf einen Stuhl und kam nach ein paar Minuten mit zwei vollgeladenen Tellern zurück. — Amira meint, du sähest erschöpft aus, berichtete er und fing an zu kauen. Also, sagte er, Bentham ist sechsundsechzig Jahre alt, er will, seit er die große Kanzlei verkauft hat, keine Partner, die einzig lose Verbindung ist die mit euch in Berlin. Er beteiligt uns am Gewinn, weil er keine Kinder und keine Verwandten hat, sein älterer Bruder ist kurz nach der Emigration gestorben. Vermutlich wird er alles eh verschenken. Würde zu ihm passen. Er ist nicht immer in der Kanzlei, aber man kann ihn jederzeit anrufen. Lohnt sich, sein Instinkt ist einigermaßen unfehlbar. Woran du arbeiten wirst, will er dir selber sagen; wahrscheinlich sollst du dich um die paar Alten und ihre Abkömmlinge kümmern, die in Ostdeutschland ihren Ruinen aus den Vorzeiten nachweinen. Du weißt schon, Seegrundstücke mit Datschen dort, wo früher eine Villa stand. Immobilien dazu. Erbschaftsstreitereien lehnt Bentham ab. Alles klar?
Alistair richtete sich auf, lachte Jakob an und winkte Amira, die zwei Espressi brachte und freundlich kopfschüttelnd Jakobs halbvollen Teller musterte. — Erst, wenn er aufgegessen hat, sagte sie zu Alistair und hielt das Täßchen in die Höhe, als wollte sie es dem Zugriff eines hüpfenden Kindes entziehen. — Amira, Jakob, stellte Alistair vor und gab Jakob einen sanften Stoß. Jakob stand auf, reichte ihr die Hand. — Ich bringe Ihnen einen neuen Espresso, wenn Sie fertiggegessen haben, und lassen Sie sich von Alistair nicht in Grund und Boden reden! Einen Augenblick später stand ein kleines Glas Weißwein vor Jakob, und Alistair nickte anerkennend. — Sie mag dich, sagte er und schwieg, bis Jakob aufgegessen hatte. — Ich freue mich auf London, sagte Jakob und errötete über seine törichte Bemerkung. Und du zeigst mir das Haus?
Alistair grinste, fuhr sich mit der Hand durch den blonden, dichten Schopf. Er hatte grüne Augen und Sommersprossen, die Krawatte hing schief unter einem eleganten Jackett, sein knochiges Gesicht wurde von sehr langen Wimpern und einem schön geschwungenen Mund kontrastiert. — In Primrose Hill gibt es eine Wohnung, die sehr anständig ist, vier Zimmer, feine Gegend und so weiter. Und dann gibt es ein viktorianisches Reihenhaus in Kentish Town. Eigentlich nicht die richtige Adresse für jemanden, der bei Bentham arbeitet, aber ihm ist es egal. Er erwähnte, du kämest nicht alleine, und in Berlin sei man viel Platz gewöhnt.
— Meine Frau, Jakob sprach es zögernd und, wie ihm erstaunt bewußt wurde, zum ersten Mal aus. Meine Frau begleitet mich, sie wird von hier aus weiter für ihre Grafik-Agentur arbeiten.
— Primrose Hill ist posh. Seid ihr posh? Alistair lachte über seine eigene Frage. In Amiras Deli kommt jeden Freitag eine Frau, die aus der Kaffeetasse liest, Bentham schwört auf sie. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, bleib bis übermorgen.
Später wußte Jakob nicht mehr, ob ihn diese Auskunft bewogen hatte, Primrose Hill nicht einmal anzusehen. Aus der Kaffeetasse zu lesen schien ihm derart exotisch, in einem Deli, in dem Juristen und Geschäftsleute offenkundig die Kundschaft bildeten, daß er erschrak und sich provinziell fühlte oder wie ein Kind, das in die Welt reist. Er war so beschäftigt mit der Idee einer vorhersehbaren Zukunft, mit dem Foto einer stämmigen, schwarzhaarigen Frau, auf das Alistair ihn aufmerksam machte, daß er vergaß, sich von Amira zu verabschieden, und auch nicht darauf achtete, wohin Alistair ihn brachte. Nach einer hektischen Taxifahrt, die durch ein Labyrinth von Kränen, Bauzäunen führte, stiegen sie vor Kentish Town Station aus. — Dann siehst du gleich, wie nahe es zur U-Bahn ist, erklärte Alistair, bog in eine Straße ein, die sacht anstieg, bog noch einmal ab. Große Platanen standen vor adrett aussehenden Häusern, irgendwo spielten Kinder, Jakob hörte ihre Rufe, auch das Aufdotzen eines Balles, und die Eingangstür, auf die Alistair zuging, war dunkelblau, verglast, durch ein schmiedeeisernes Gitter geschützt, dahinter sah man einen hellen Teppich. Die Aufteilung der Zimmer war angenehm, mit zwei größeren Räumen und einem kleinen Bad im Erdgeschoß, Isabelles Zimmer, dachte Jakob sofort, einer Küche und einem Wohn- und Eßzimmer im ersten Stock, zwei Schlafzimmern und einem Bad im zweiten Stock. Aus dem Erdgeschoß führten ein paar Stufen über eine Terrasse in den Garten, ein schmaler, anspruchsloser Streifen, auf dem ein paar Rhododendren und Hortensien wuchsen und struppig aussehender Rasen. — Man hat ein paar Wände herausgerissen, erklärte Alistair. In den umliegenden Häusern gibt es pro Stockwerk eine Wohnung, und für Londoner Verhältnisse sind es nicht einmal kleine Wohnungen.
Als sie wieder auf die Straße traten, fuhr Alistair fort: —Du könntest natürlich auch in Notting Hill suchen oder in Hampstead, es gibt wirklich feinere Gegenden, aber die Mischung hier ist gut, die Lage auch, und anderswo müßtest du das Doppelte zahlen. Das Haus gehört Bentham, er überläßt es euch für fünfhundert Pfund pro Woche, das ist wirklich geschenkt. Alistair nahm wieder Jakobs Arm, — laß uns zu Fuß gehen, sagte er und zog schon voran, schlug dann aber doch vor, mit dem Bus bis zum nordöstlichen Ende von Regent’s Park zu fahren, von dort sei es nicht weit, ein schöner, angenehmer Weg, der den Zoo streife und durch die Länge des Parks hindurchführe, beinahe bis zur Devonshire Street. Man könne mittags im Park sitzen, Mister Bentham liebe es, sich dort zu besprechen während eines Spaziergangs, und selbst bei Regen, Jakob sei gut beraten, sich mit einer Regenjacke auszustatten, einer guten Regenjacke mit Kapuze, besser noch einem kurzen Mantel, allerdings halte Bentham auf Eleganz, er werde es gleich selber sehen. Jetzt erst fiel Jakob auf, daß Alistair ebenso groß war wie er selbst, und Robert fiel ihm ein. Alistair war blond, lebhafter, natürlicher, in seinen Augen konnte es allerdings boshaft funkeln, und während sie gingen, erzählte er von Konzerten und den Tricks seiner alten Tante, sich ohne Ticket ins Konzert zu schmuggeln, da sie all ihr Geld für Polo-Ponys und Veterinäre ausgab. — Ich wollte sie einladen, aber sie sagte nur, sie wäre mit dem Gegenwert in Cash besser bedient, begleiten würde sie mich natürlich trotzdem gerne, ohne Ticket. Sie verließen den Park, in dem Jakob von fern die Gitter des Zoos gesehen hatte, er war jetzt aufgeregt, da hatten sie die Devonshire Street schon erreicht, Alistair klopfte bloß an die schwere Tür, unsichtbar betätigte ein Mensch den Summer, Andrew, der Pförtner, war es, der ihnen entgegenkam, in der Hand ein dickes Buch, den Finger als Lesezeichen dort, wo sie ihn unterbrochen hatten, ein winziger Kopf saß auf dem faltigen Hals, einzig die Ohren waren groß und fleischig an diesem Menschen, der die Augen eines Nachttieres besaß und sich sogleich als verantwortlich für den Aufzug auswies, auch dringend riet, den Aufzug, wenn überhaupt, dann nur in seiner Anwesenheit in Betrieb zu nehmen. Die Treppen, bemerkte Jakob, als sie in den ersten Stock hinaufstiegen, sahen allerdings auch nicht zuverlässiger aus, schiefgetreten und mit einem abgerissenen Teppich bedeckt, die Türen warteten auf einen neuen Anstrich, die Wände ebenso, und der Bibliotheksraum wirkte, von den neuen Büchern und Zeitschriften in ihren penetranten Farben grell durchbrochen, wie die schlafende, nie benutzte Bibliothek eines dem Staub, der Zeit, den pochenden, heiseren Geräuschen überlassenen Herrenhauses. Doch der Eindruck täuschte, die schönen, alten Holztische waren frisch poliert, am hinteren Teil standen fünf neue Macintosh-Computer, zwei Männer, etwa in Jakobs und Alistairs Alter, lasen in schweren Ledersesseln, ließen sich von den Besuchern nicht stören. — Das ist Benthams Stockwerk, kommentierte Alistair, als sie den zweiten Stock hinter sich gelassen hatten, ins dritte Stockwerk stiegen, wo Alistair auf eine halboffene Tür wies. Daß er nicht mit ihm eintrat, bemerkte Jakob erst mit einer kleinen Verzögerung, als er sich nach Alistair umdrehen wollte, weil der Mann, der beim Fenster in einem Lehnstuhl saß, ein Herr in einem makellosen dreiteiligen Anzug aus schwarzem Tuch, statt einer Krawatte ein Seidentuch elegant um den Hals geschlungen, im Knopfloch des Revers eine kleine, weiße Blüte, sich nicht rührte, sondern ihn nur abwägend betrachtete. Eine heftige, unruhige Bewegung empfand Jakob und spürte sein Herz klopfen. Da regte sich der Oberkörper, der Mann erhob sich wie aus sich selbst heraus, ohne die Unterstützung der Beine, weniger dem Willen als einem Gedanken gehorchend, der die Gewichte, den breiten Brustkorb, den von der Weste gehaltenen Bauch und die eher zu kurzen Beine in perfekte Relation zueinander setzte, um jede Kraftanstrengung zu vermeiden. Hals und Gesicht waren groß und fleischig, die Nase ebenso wie das Kinn und die Backenpartie, buschige Augenbrauen überdeckten fast die Augen, die eher schmalen Lippen formten einen weichen, nachlässigen Mund. Seine Stimme war so tief und brummelnd, daß Jakob nicht gleich verstand, was er sagte, und es fiel ihm später nie ein, was Benthams erster Satz gewesen war und ob er Deutsch oder Englisch gesprochen hatte, so lange und so oft er darüber auch nachdachte.