Aber auch was die Fälle in Deutschland betraf, schien Bentham es nicht eilig zu haben. — Hetzen Sie sich nicht, riet er Jakob, gehen Sie mit Ihrer Frau spazieren, Maude wird Ihnen schon sagen, wenn etwas eilig ist. Sehen Sie, sagte Bentham, ich weiß einfach nicht, ob ich jemandem wie Miller wirklich wünschen soll, daß er etwa nach Berlin zieht. Was will er dort, mit seinen fünfundsechzig Jahren — ein Geschäft aufbauen? Sich um Mieteinnahmen kümmern? Es sind fast immer die wohlhabenden Leute, die sich jetzt noch um ihren Besitz sorgen, jedenfalls kommen zu uns nur die Wohlhabenden, und sie wollen keinen Vergleich, keine Entschädigung. Einsame Leute oft, und die Verfahren schleppen sich hin. Aber Sie sollten sich nicht hetzen müssen wie vermutlich in Berlin, nicht wahr?
Trotzdem blieb Jakob bis abends in der Kanzlei, bis Alistair oder Bentham zu ihm ins Zimmer kamen und ihn nach Hause schickten. Falls Isabelle enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Jakob lag jetzt manchmal schlaflos, und er fragte sich, ob auch sie wach lag. Atemzüge konnten täuschen. Es war, als beobachtete man den anderen mit Hilfe eines Spiegels unbemerkt. In den nächsten Tagen wollte Alistair ihr die Soane-Collection zeigen, die man einmal im Monat bei Kerzenlicht besichtigen konnte, Jakob würde einen Mandanten treffen und vielleicht nachkommen. Alexa hatte ihren Besuch angekündigt und wieder abgesagt, doch Isabelle schien nicht allzu unglücklich darüber. Sie arbeitete tagsüber oder lief durch die Stadt, er mochte es, wenn sie ihm beim Abendessen erzählte, wo sie herumgelaufen war, sie kannte London schon besser als er. Für einen Moment, bevor er dann doch einschlief, schoß ihm durch den Kopf, daß man sich entscheiden konnte, glücklich zu sein, und schon im Halbschlaf, war diesem Gedanken nichts entgegenzusetzen.
Morgens weckte ihn der Lärm eines Flugzeugs, das klang, als kratzte es mühsam eine Kerbe in den Himmel. Das Wetter war schön.
20
Er lief durch den Gang, an Mänteln vorbei, an Kartons, leeren Getränkekisten, für einen Moment verebbten die Geräusche, die Musik und Stimmen aus dem Gastraum, Jim grinste, noch ein paar Minuten, und wenn die Bullen dann da waren, würde das Geschrei einsetzen, ein Gejammer, als würden Betlehems Kinder geschlachtet, und jetzt drehte irgendein Idiot die Anlage so laut, daß auch der lauteste Warnruf untergehen mußte. Der Türsteher, der Albert kannte und wußte, daß Jim für ihn arbeitete, hatte ihn gewarnt. Irgendein Schleimbeutel, hatte er grinsend erzählt, verdiente sich ein paar Pfund damit, daß er Adressen und Uhrzeiten an die Polizei weitergab, die gerne einsammelte, was sie fand, Koks, Hasch, ein bißchen Speed und Ecstasy, und eventuell den Dealer dazu. Vermutlich war es der Türsteher selber, dachte Jim, der die Bullen anrief. Aber ihm konnte es egal sein, und er hatte verkauft, was Albert ihm geliefert hatte. Es wurde lauter, Straßenlärm, irgendwo ein offenes Fenster, hinter einer dieser Türen, hatte der Typ gesagt; drei waren abgeschlossen, die vierte offen. Er schrak zurück, ein Witzbold hatte vor dem Tisch ein Skelett aufgestellt und am rechten Arm eine Lichterkette befestigt. Kleine Glühbirnen, die den Arm hinaufkletterten wie Insekten. Und hier also war das Fenster, Pappe da, wo Scheiben sein sollten, Jim schlüpfte hinaus.
Draußen eine nicht sehr hohe Mauer, Müll, Autos, eine Werkstatt anscheinend. Ein paar Meter rannte er, ohne Überzeugung. Nasses Pflaster, Pfützen, aufspritzendes Wasser, die Nacht dick und regenschwer, die Autos mühten sich voranzukommen. In der Tasche seiner Jeansjacke spürte er das Geld. Das Poster mit Maes Foto hatte er gesehen, Albert hatte es in Kentish Town Station aufhängen lassen, — damit du uns nicht vergißt, hatte er gesagt, als Jim anrief, tobte. Ich wollte sicher sein, daß du anrufst, hatte er Jim gesagt, so eine lange Zusammenarbeit gibt man doch nicht einfach auf? Und Jim hatte sich gefügt. Bevor er Mae nicht gefunden hatte, würde er nicht weggehen. Solange er in der Lady Margaret Road bleiben konnte. Bis Damian zurückkam, dachte er. Solange ihn keiner dort aufspürte.
Nur mit dem Jungen, Dave, der mit seinen Eltern in der Nummer 47 wohnte, redete er manchmal. Irgend etwas an ihm mochte er. Nebenan, in die Nummer 49 war ein jüngeres Paar eingezogen, bestimmt keine Kunden, er jedenfalls nicht, aber die Frau war Jim aufgefallen, obwohl er sie bisher nur von hinten gesehen hatte, in einem kleinen, koketten Regenmantel, mit Turnschuhen, ungefähr so groß wie Mae, das hatte ihm einen Stich gegeben. Ungefähr ihre Figur. Waren eingezogen mit allem Pomp, Möbeln und Kisten, in denen Geschirr und vielleicht Bücher waren. Es hatte Jim nie interessiert, wie andere das machten, einziehen, umziehen, sich einrichten, die ganzen Kisten, die ganzen Sachen aus den Kisten um sich herum aufgetürmt, daß man in ihrer Mitte sicher und gemütlich geborgen war, aber plötzlich sprang es ihm ins Auge. Sie waren eingezogen, zu zweit, wie in einer Umarmung, die den Regen abhielt, und alles andere auch. Jim hatte sich an die Lady Margaret Road gewöhnt, an den kleinen Garten, in dem die Eichhörnchen die Baumstämme hinaufrasten, wenn er die Tür öffnete, und von oben kam abends der Geruch des Abendessens, das die Leute kochten, die ihn nicht grüßten, vermutlich, weil sie mit Damian schlechte Erfahrungen gemacht hatten.
Als er sich zwei Tage später mit Albert am nördlichen Rand von Soho traf, ließ er sich hinreißen, darüber zu reden. — In einer richtigen Wohnung — nicht so einer Bruchbude, wie du sie immer für uns hast — bist du ein ganz anderer Mensch, nicht so ein Idiot, nach dem man nur pfeifen muß. Du glaubst, wir warten nur darauf, daß jemand nach uns pfeift, nicht wahr? Du pfeifst, und Ben versucht zu pfeifen, aber mit mir könnt ihr das nicht mehr machen. Man kommt auf Sachen, die einem sonst nie eingefallen wären, in einer Wohnung, meine ich, weil man immerhin ein Mensch ist, kapierst du? Nicht bloß so ein gehetztes Kaninchen mit ängstlichen Augen, sondern ein Mensch, der morgens aufsteht und sich wäscht oder so, und sogar daran denkt, in die Kirche zu gehen, wie als Kind, weil er Gottes Segen haben möchte oder daß jemand für ihn betet. Man erinnert sich plötzlich an Sachen, und all der Dreck ist wie eine dicke Kruste, unter der etwas anderes ist, das du bloß vergessen hast. Du erinnerst dich plötzlich, daß du als Kind einen kleinen Hund gehabt hast, also, nicht wirklich einen eigenen Hund, aber so gut wie, weil er jeden Tag zu euch herübergelaufen ist und du etwas für ihn aufgehoben hast.
— Wenn meine Restaurants richtig laufen, sagte Albert verlogen, dann stelle ich dich ein, und du kannst bei mir als Küchenchef arbeiten.
— Klar doch, fauchte Jim, als Küchenchef, der Spiegeleier macht.
— Warum gönnst du mir nicht auch meinen kleinen Traum? fragte Albert weinerlich, und Jim biß die Zähne zusammen, die verdammte Sentimentalität, Alberts und seine eigene, dieses weinerliche Gehabe. Doch irgendwann würde Albert kriegen, was er wollte, und Jim nicht. Mae, dachte er. Aber er haßte Albert nicht. Das dicke, gerötete Gesicht weckte keinen Haß in ihm. — Vergiß nicht, setzte Albert an, — daß du mich von der Straße weggeholt hast, ergänzte Jim angeekelt. Der gute Albert, immer so weichherzig. Und mich dann auf die Straße zurückgeschickt, damit ich den Arsch für deine Freunde hinhalte.
Wenn die Tür des Pub aufschwang, hörte man den Regen, und Leute kamen mit Zeitungen herein und diskutierten, was geschehen würde, nächste Woche, wann es losgehen würde, und über die Demonstration und ob Blair recht hatte oder Blix, redeten, als würden sie nach ihrer Meinung gefragt, bevor irgendwelchen Ärschen im Wüstensand das Gehirn weggepustet wurde. Dabei kam es nicht darauf an, was die Leute sagten, dachte Jim. Wenn einer erst tot war, dachte Jim, war es, als hätte er einen falschen Namen und keine Adresse mehr. Alberts Gesicht war rot und aufgequollen. Er machte sich wieder Sorgen, wegen der Kontrollen, weil Ben kontrolliert worden war, sie hatten ihn nach Hause begleitet, wo zum Glück niemand gewesen war, aber natürlich sah man, daß er dort nicht alleine wohnte, in diesem Loch in Brixton, in Reichweite von Alberts Büro. — Und euer Mufti? fragte Jim. Meldet sich freiwillig für den Irak-Krieg und zieht gegen seine Brüder in den Tod? Er trank das Glas aus, ein neues Pint wartete schon auf dem Tresen, denn die Bedienung mochte ihn, lächelte süß, und Albert verzog das Gesicht, als hätte er auf Schlechtes gebissen, weil Jim ihm den Rauch seiner Zigarette in die Augen und in die Nase blies. — Stell dir vor, wie das hier wird, sagte er, du steigst in die U-Bahn und weißt nicht, ob du lebend wieder herauskommst. Alberts Obsession, seit dem 11. September. — Nicht wahr, du kannst es gar nicht abwarten, daß hier auch etwas passiert? grinste Jim, stieß mit dem Rücken gegen einen dicken, vergnügten Mann, der aufrichtig seine Entschuldigung aussprach, als Jim ihn anfunkelte, als wolle er gleich Genugtuung fordern, und dann verzog sich der Dicke mit seiner Freundin ans andere Ende des Tresens. Albert faselte weiter über das, was geschehen würde. — Versuch mal, eine ganze Stadt zu evakuieren, oder die Züge unter der Erde, und wenn ein Tunnel eingestürzt ist. Jim schnitt ihm das Wort ab, wollte jetzt gehen, streckte ihm einen Umschlag hin, je weniger unauffällig, desto sicherer, Alberts Methode, die bislang tadellos funktionierte, und Albert nahm das Geld, sagte aber, daß er nichts bei sich habe, was er Jim geben könne, der schon die Hand ausgestreckt hatte und ihn erst verblüfft, dann aufgebracht anstarrte. — Versteh doch, wieder die weinerliche Stimme, ich muß ja an die Zukunft denken. Und folglich trug er nichts bei sich, das war es, Albert hatte mit Drogen nichts mehr zu tun, trank wie ein guter Bürger sein Bier, kassierte sein Geld, ließ andere rennen, das war alles, und hier, in einem Pub, konnte Jim ihm keine Szene machen. Malte sich Schrekkensbilder aus, richtete sich dahinter ein wie ein Eichhörnchen, sicher, behaglich, mit ausreichend Vorräten ausgestattet. Jim war blaß geworden. — Wenn du dir einbildest, daß ich noch einmal dein Scheißbüro in Brixton betrete und mir das Zeug selber abhole, dann hast du dich geschnitten. Und wie Albert ihn beschwichtigte und beruhigte; die Leute, dachte Jim, die sich alle Katastrophen ausmalen können, weil sie so sicher sind, daß ihnen selbst nie etwas zustoßen wird. — Und mit Ben treffe ich mich auch nicht, beharrte Jim. Schließlich einigten sie sich, daß Hisham bei Jim anrufen würde. — Hast du das Poster gesehen, mit Mae? fragte Albert zum Abschied, tätschelte ihm die Schulter.